Liebe Leserinnen, liebe Leser,
als „zu meiner Zeit“ ganze Jahre ohne technologische Veränderungen vergingen, hatte ich genug Luft, um Häppchen der Geschichte, Arithmetik, Literatur und Philosophie mit aller Wissbegier eines Kindes zu schlucken, das sich darauf vorbereitet, nicht nur seinen Eltern und Großeltern, sondern allen zu zeigen, wie schön die Welt sein kann. Dass die Geschichte in den Lehrbüchern diesseits und jenseits des Ozeans, diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs nicht identisch war, ahnte ich schon – wie wohl jeder von Ihnen. Dass die Arithmetik von „Diesseits und Jenseits“ nur ein und dieselbe sein konnte, wusste ich, obwohl in unseren Lehrbüchern schwarz auf weiß stand, dass Hitlers Arithmetik braun und die von Stalin rot
wäre.
Ja, so war es zu der Zeit, als es Jahre dauerte, bis sich – wissenschaftlich und technologisch gesehen – eine Veränderung zeigte. Doch wie sieht es heute aus? Wenn wir in einer von Wissenschaft und Technologie dominierten Welt leben, in der kaum jemand die Wissenschaft und Technologie versteht? Wenn heute unser Dasein online ist, wie verhält es sich mit dem Analogen und Digitalen, dem Realen und Virtuellen? Wenn heute alles ständig auf dem neuesten technologischen Stand sein muss und wir keine andere Wahl haben, als uns anzupassen oder uns zu entfremden – bis zum nächsten Upgrade, wenn viele, wenn nicht gleich alle von uns durch Leistungsfähige ersetzt werden? Wenn ich heute z. B. mein eigenes Bankkonto nicht online sehen bzw. eine Überweisung durchführen kann, weil ich den Brief mit der Information zu den neuen Regeln nicht rechtzeitig gelesen habe?
Nicht nur, dass wir uns die Welt von morgen nicht mehr vorstellen können und die Dinge, die jetzt geschehen, uns total unvorbereitet überrollen, sondern auch, dass wir nicht einmal mehr verstehen können, was uns in der Vergangenheit passierte, ist längst zu einer alltäglichen Tatsache geworden.
Oh, Mutter, und wir machen Musik, brüllt ein bekanntes Volkslied!
Ja, werde ich antworten, das ist – egal ob wir damit einverstanden sind oder nicht – unsere Welt. Damit müssen wir nun zurechtkommen. Nichts ist einfacher, als sich eine kurze Atempause zu gönnen. Auch die perfekte Hardware braucht ab und zu eine Pause. Lasst uns spielen: Verstecken wir uns vor uns selbst. Geben wir zu, dass wir, als wir geboren wurden, nicht an Google und Amazon dachten, sondern an das, was unsere Vorfahren als göttlich und gleichzeitig menschlich erachteten. Auch wenn sie glaubten, dass die Arithmetik – egal ob braun oder rot – alles regle. Sie haben uns Zeit gegeben, um zu überlegen, was wir mit uns und der Welt anfangen wollen. Keine Arithmetik der Welt kann uns das nehmen. Und keine menschliche Existenz mit all ihrer Kürze und all ihrem Schmerz.
„Viele – und auch das verheißt uns der Titel mit seinem ,nicht alle‘ – scheitern. Das Mittelmeer wurde zum Massengrab, Tausende kamen und kommen immer noch in den Fluten um, auf ihrem Weg in die Hoffnung auf eine bessere Zukunft; es ist eine Schande für Europa, für jedes einzelne europäische Land, dies hinzunehmen, eifersüchtig zu streiten und in Kauf zu nehmen, dass aus dem Europa der Vielfalt und der Buntheit, der Toleranz, der rücksichtsvollen Aufnahmebereitschaft, wovon der Kontinent immer gelebt und wodurch er sich weiterentwickelt hat, ein kalter Block sich einmauernder Staaten wird, der – und auch das wird nur vermeintlich gelingen – durch Abschottung seinen auf dem Rücken der Armen, der ausgebeuteten Erdteile begründeten Wohlstand sichern will.
[…]
Lesen Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese Literatur zu einem aktuellen Thema, zu dem beherrschenden Thema unserer Zeit, dem Wandern in die Zukunft, erfüllt von Hoffnungen, als Momentaufnahme, als zeitlose Dokumentation, als Anregung für das eigene Denken und Handeln. Und bleiben Sie menschlich, jeden Tag, jede Stunde, zu sich selbst und so auch zu anderen.“ So Uli Rothfuss über der Schwerpunkt unserer Ausgabe, die von 37 KOGGE-Autoren unterstützt wird.
„Immer wieder träume ich den gleichen Traum: Ich bin gestorben, und mein Schicksal entscheidet sich. Mir sind ein paar Stunden Zeit gegeben, um in mein früheres Erdenleben zurückzukehren und es zu verbessern. Aber was genau?“ So Tatjana Kuschtewskaja in „Unterwegs…“. Und weiter: „Jedes Mal komme ich in meinem Traum genau an den Ort, an dem ich heute lebe. Der Drang wegzulaufen verschwindet.“
In dieser MATRIX-Ausgabe kämpft die KOGGE nicht mit dem Kaventsmann, sondern mit … der ruhigen See.
Aber nicht nur die KOGGE. Was wäre die Auseinandersetzung von Theo Breuer mit dem Werk von Norbert Scheuer sowie mit der Dichtung von Gao Changmey (Meier) denn anderes als eine Atempause vor den Sturm?
Oder Admiel Kosmans Gedichte „Aus dem Zwischen des Hohelieds“ und Edith Lutz’ Blick darauf: „Von hinter dem Stacheldraht? Die letzten Wörter in dieser Auswahl […] hallen nach. Der Stacheldraht von Auschwitz? Der Draht, der unbarmherzig trennt? Oder ist es der telegrafische Draht, der Verbindungen herstellt? Das hebräische Wort ist – wie so oft in Kosmans Gedichten – mehrdeutig. In der Mehrdeutigkeit lässt sich, etwa im Nachhall dieser Frage, in einer folgenden Leerzeile sozusagen, vielleicht eine Stimme, eine hauchdünne Stimme hören: ,Ja, auch hier‘.“
Wie Matthias Buths Donau, die „kniet sich tiefer in den Grund / Horcht die Sedimente ab Nacht und Tag“.
Ihr Traian Pop
Es signiert:
• Die KOGGE • Nicht alle, welche wandern, sind verloren •
Johanna Anderka • Pilar Baumeister • Mark Behrens • Eva Maria Berg • Beppo Beyerl • Detlev Block • Susanne Brandt • Gudula Budke • Ingo Cesaro • Manfred Chobot • Fritz Deppert • Eric Giebel • Harald Gröhler • Judith Gruber-Rizy • Brigitte Gyr • Ilse Hehn • Rudolf Kraus • Peter Küstermann • Tatjana Kuschtewskaja • Horst Landau • Hermine Navasardyan • Marcus Neuert • Małgorzata Płoszewska • Mechthild Podzeit-Lütjen • Uta Reichardt • Uli Rothfuss • SAID • Helmut Schmale • Tarja Sohmer • Herbert Somplatzki • Friedrich Wilhelm Steffen • Tina Stroheker • Piotr Szczepański • Ursula Teicher-Maier • Charlotte Ueckert • Rainer Wochele • Barbara Zeizinger • Theo Breuer • Empfundene / erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten • Admiel Kosman • Edith Lutz • Ulrich Bergmann • Matthias Buth • Peter Gehrisch • Heinz Weißflog • Theresia Schön • Widmar Puhl • Karl-Markus Gauß zum 65. Geburtstag • Traian Pop •
Traian Pop • Editorial / S.8
Die Welt und ihre Dichter
• Die KOGGE • Nicht alle, welche wandern, sind verloren.
Uli Rothfuss • Nicht alle, welche wandern, sind verloren. Ein Versuch der Näherung an eine unsichere Zeit. / S. 9
Johanna Anderka • Drei Gedichte / S. 12
Pilar Baumeister • Zwei Gedichte / S. 15
Mark Behrens • Der Bleistift . Prosa / S. 19
Eva Maria Berg • Zwei Gedichte / S. 24
Beppo Beyerl • Triest . Prosa / S. 27
Detlev Block • Gedicht / S. 33
Susanne Brandt • Zwei Gedichte / S. 35
Gudula Budke • Sonnenglut und Wassernot . Prosa / S. 37
Ingo Cesaro • Schattenspuren . Gedicht / S. 42
Manfred Chobot • Fünf Gedichte / S. 46
Fritz Deppert • Wanderwege . Gedicht / S. 51
Eric Giebel • Zwei Gedichte / S. 54
Harald Gröhler • Schlecht zu lokalisieren . Prosa / S. 59
Judith Gruber-Rizy • Rückkehr in die Stadt K. . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman / S. 64
Brigitte Gyr • Tous ceux qui errent ne sont pas perdus . Prosa / S. 69
Ilse Hehn • Vier Gedichte / S. 71
Rudolf Kraus • Zwei Gedichte / S. 76
Peter Küstermann • Brief nach Aleppo . Prosa / S. 78
Tatjana Kuschtewskaja • Unterwegs zu sein ist ein Weg zur Selbst-
erkenntnis . Prosa / S. 80
Horst Landau • „Nicht alle, welche wandern, sind verloren.“ . Gedicht / S. 84
Hermine Navasardyan • Zwei Gedichte / S. 85
Marcus Neuert • S.O.S. (Sound Of Speed) . Prosa / S. 87
Małgorzata Płoszewska • Drei Gedichte / S. 89
Mechthild Podzeit-Lütjen • forttragen . Prosa / S. 92
Uta Reichardt • Vier Gedichte / S. 98
SAID • wir teilen . Gedicht / S. 102
Helmut Schmale • colline des puits . Gedicht / S. 103
Tarja Sohmer • Die Pflicht zu Leben . Prosa / S. 105
Herbert Somplatzki • Vier Gedichte / S. 109
Friedrich Wilhelm Steffen • Vier Gedichte / S. 113
Tina Stroheker • Drei Gedichte / S. 116
Piotr Szczepański • Fünf Gedichte / S. 119
Ursula Teicher-Maier • sichtfeld parzelliert . Prosa / S. 125
Charlotte Ueckert • Erinnerungstour . Prosa / S. 131
Rainer Wochele • Prosa / S. 136
Barbara Zeizinger • Liebe allein genügt nicht . Prosa / S. 142
Theo Breuer • Winterbienen im Urftland . Empfundene / erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten . Auszug / S. 147
Admiel Kosman • Aus dem Zwischen des Hohelieds . Fünf Gedichte / S. 155
Edith Lutz • Es mag der Liebe gefallen . Zu den Gedichten von Admiel Kosman / S. 161
Ulrich Bergmann • La voix du Pirandello . Ein paar Gedanken zu Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“ / S. 165
Theo Breuer • Alles – und viel, viel mehr (vielleicht …) . Regenbogenfarben des kalten Wetters, verfaßt von der 1968 in Huai’an geborenen chinesischen Schriftstellerin Gao Changmey / S. 167
Atelier
Matthias Buth • Acht Gedichte / S. 179
Bücherregal
Uli Rothfuss • Wo seid ihr, ihr merkwürdigen Toten? „Traum von meinem Vater“ eine Leseerfahrung der Erzählung von Karol Sidon / S. 189
Harald Gröhler • Wie oft hab ich geknirscht mit den Zähnen . Hadaa Sendoo, Sich Zuhause fühlen. / S. 191
Peter Gehrisch • Wie mit der Feder geschrieben . Aphoristische Reflexionen von Hans Bender / S. 194