„Sind Sie überflüssig?“, fragt Ilija Trojanow mich als Leser zu Beginn seines Buches „Der überflüssige Mensch“. Genau diese Frage habe ich an einige Bekannte weitergereicht – ohne die geringste Hoffnung, eine klare Antwort zu bekommen. Und noch leise hinzugefügt: „Was tun Sie, um dies zu verhindern?“ Können Sie erraten, wie viele Antworten ich bekommen habe? Doch sprechen wir lieber über etwas anderes, oder?
Den Zug verpasst
Allen Ernstes habe auch ich manchmal gedacht, dass unser globalisierter Spät-, Turbo-, Mit-menschlichem-Gesicht- oder Wie-auch-immer-Kapitalismus als Nebenprodukt seiner Effizienz nicht nur Müll produziert, sondern auch Menschen zu Müll machen kann. Dabei hatte ich vor allem diejenigen im Blick, die nichts außer Verkaufszahlen als Frühstück, Mittag- oder Abendessen vorgesetzt bekommen. Weiterzudenken machte mir irgendwie Angst. Zu Recht, sage ich nun, da ich merke, dass es noch schlimmer sein kann. Natürlich werden nicht alle, die sich im Treibsand zwischen Erfolg und Überflüssigkeit befinden, zu Müll gemacht, sondern nur jene, die es nicht geschafft haben, rechtzeitig zum Zug zu kommen: die trotz Selbstoptimierung, permanenter Erreichbarkeit, unbezahlter Überstunden, andauernder Upgrades und professioneller Beobachtung im zunehmenden Konkurrenzkampf keine Tickets für den Zug des Wohlstands ergattern konnten, weil einfach alle Tickets schon verkauft waren – die anderen waren entweder schneller oder besser, was letztlich keine Rolle spielt, wenn der Zug voll ist.
Was wird aus diesen Menschen aus der Sicht von Ökonomen, internationalen Organisationen, global agierenden Eliten? Nichts! „Wer nichts produziert und – schlimmer noch – nichts konsumiert, existiert gemäß den herrschenden volkswirtschaftlichen Bilanzen nicht“, schreibt Trojanow. Und fährt fort: „Manche Menschen sind in diesem System Müll. Irgendwann weiß man nicht, wohin damit.“
„Haben Sie von überflüssigen Menschen gehört?“, „Was tun Sie, um dies zu verhindern?“, „Was raten Sie einem überflüssigen Menschen?“: Diese Fragen und noch einige weitere hätte ich gern von den einen oder anderen Politikern – und nicht nur von ihnen – beantwortet.
Die Kogge – Schreiben von, gegen und über die Welt hinaus
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, möchte ich eine mögliche Art vorstellen, einem solchen Zustand zu begegnen: In dieser Ausgabe von MATRIX könnte sie als „Welt gewinnen – mit und durch Literatur“ beschrieben werden, wie unser Redakteur, Prof. Dr. Uli Rothfuss, Vorsitzender der Europäischen Autorenvereinigung DIE KOGGE, im August 2010 sein Vorwort zu „Der Jaguar im Spiegel. Ein KOGGE Lesebuch“ betitelte.
Die Europäische Autorenvereinigung DIE KOGGE leistet, schreibt Uli Rothfuss, mit ihrer „Literatur über Grenzen“ viel für den europäischen Gedanken: für Toleranz, für gegenseitiges Verständnis, für das Überwinden von nationalen oder sprachlichen Grenzen. Für die Mitglieder der KOGGE bedeutet das Schreiben einen immer neuen Anlauf, sich über die Utopie des geistig Geschaffenen der Welt zu nähern, um über diese hinauszugehen; nicht nur darzustellen, wie die Welt ist und wie sie sich uns darstellt, sondern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Welt sein könnte; Utopien zu entwickeln, aus denen heraus Entwicklungen angestoßen werden, die weit über die reine Literatur hinausreichen. Literatur als Impulsgeber, Literatur als, ja, Weltveränderer.
Lassen Sie, geneigte Leser, sich überraschen von der Vielfalt in Ausdruck und Form, die Ihnen in diesem Sammelband der KOGGE begegnen wird. Freuen Sie sich auf Literatur in ihrer reinen Form: auf die direkte Ansprache als Leserin und Leser, zu erleben, wie die Welt ist oder wie sie sein könnte. Die Grenzen verschwimmen, und das ist die beste Voraussetzung, mit und durch Literatur Welt zu gewinnen – diese Worte treffen auch auf unseren KOGGE-Teil zu, der 146 Seiten in Anspruch nimmt: 146 Seiten als kleinen Dank an DIE KOGGE, die jetzt ihr 60. Jubiläum in Minden feiert. Herzlichen Glückwunsch!
Ein Jubiläum macht Freude,… und Lust auf mehr
Egal ob Sie jetzt nach Minden fahren werden oder nicht – Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind alle herzlich eingeladen, mit MATRIX das KOGGE-Jubiläum zu feiern. Charlotte Ueckert, Mark Behrens (der übrigens auch der Gewinner unseres Debütpreises 2013 ist), Wolf Peter Schnetz, Tatjana Kuschtewskaja, Rainer Bartels, Pilar Baumeister, Beppo Beyerl, Manfred Chobot, Dagmar Dusil, Herbert Friedmann, Willi F. Gerbode, Harald Gröhler, Jürgen Jankofsky, Ralf Jandl, Gerald Jatzek, Bernd Kebelmann, Christoph Andreas Marx, Susanna Piontek, Helmut Rizy, Robert Stauffer, Axel Thormählen, Alf Tondern, Martin A. Völker, Rainer Wochele, Barbara Zeizinger, Myron Wojtowytsch, Johanna Anderka, Renate Axt, Eva-Maria Berg, Susanne Brandt, Gudula Budke, Ingo Cesaro, Fritz Deppert, Manfred Hausin, Ilse Hehn, Harald K. Hülsmann, Rudolf Kraus, Mechthild Podzeit-Lütjen, Małgorzata Płoszewska, Traian Pop Traian, Uli Rothfuss, Ulrieke Ruwisch, Michael Starcke, Tina Stroheker und Piotr Szczepański haben einige literarische Delikatessen gespendet, um für Sie ein vielfältiges und aussagekräftiges Bild unseres Geburtstagskinds zu zeichnen.
Für den Erhalt und die Rehabilitierung der menschlichen Würde plädieren natürlich alle Beiträge dieser Ausgabe: die wunderbaren Gedichte von Klaus Hensel, die Texte von Oleg Mityaev, einem der besten Songwriter Russlands, der Essay von Jan Decker, der einige Ungarische Zustände unter die Lupe nimmt, genauso wie die Texte von Gheorghe Hibovski, Gabriele Frings und Anton Potche sowie unser „Bücherregal“, kritisch durchgesehen von Jutta Dornheim, Wolfgang Schlott, Rainer Wochele und Rainer Wedler.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen!
Ihr
Traian Pop