Was in aller Welt will ich noch …
Vielleicht st das Alter schuld an der immer öfter wiederkehrenden Angst, nie etwas richtig gemacht zu haben. Vielleicht aber auch die naheliegende ›Realität‹. Jederzeit und mühelos zu haben, dieser geschmackvoll gemixte Cocktail von Kot und Schweiß. Irreführend und verführerisch der Geruch, die Farbe, der Durst sowie der unstillbare Hunger nach Vulgarität und Promiskuität. Nach Kitsch. Ja, der unbesiegbare Kitsch, unser heiliger Schweinestall. Eine Wortwelt ohne Deckung. Eine Formenwelt, die immer noch nach passenden Inhalten sucht. Eine Welt, die nicht einfach zu verlassen ist, auch wenn das die einzige Möglichkeit wäre, sie zu zerstören.
Wie aber war das mit der Versuchung, sie in Dichtung umzuwandeln? Ich bin doch selbst von manchem Geruch, von Vulgarität und Promiskuität verführt worden. Ihnen weiszumachen, dass ich es bereue, will ich nicht einmal versuchen: Der Cocktail schmeckt dem Schreibenden ›außerordentlich‹ (wenn auch nicht besonders gut). Und was ist von der Versuchung übrig geblieben? Einbetonierter Kitsch, sonst nichts? Oder doch?
Haben Sie, liebe Leser, auch Angst? Ich gebe zu: Ich habe quasi ununterbrochen Angst. Verstärkt allerdings erst in den letzten Jahren – seitdem ich beschlossen habe, mich regelmäßig mit Matrix an Sie zu wenden.
„Dumm sein ist Macht“, steht in einer der letzten Ausgaben des Stern. Dem stimme ich zu, auch wenn ich es sehr bedauerlich finde. Denn diese Aussage beschreibt eine Gegebenheit, die uns gegenwärtig begleitet. Ja, in dieser Welt, in der fast alles – zumindest nach außen hin – perfekt erscheinen soll, in der fast jeder versucht, sich besser zu vermarkten, und mehr in die eigene Kopie investiert, die ihn vor den anderen repräsentieren soll, als in sich selbst, in dieser Welt also tauche ich auf, fast regelmäßig, um Ihnen zu erzählen, dass meine Kräfte und Möglichkeiten bei weitem nicht ausreichen, sie zu verändern. Dass ich längst nicht der Einzige bin, der das so erlebt, weiß ich schon. Sonst hätte ich nicht nur die vorliegende, sondern auch alle anderen MATRIX-Ausgaben selbst schreiben und lesen müssen. Und auch dafür bezahlen. Doppelt sogar: erstens, um sie zu drucken, zweitens, um sie lesen zu dürfen. Lachen Sie bloß nicht: In den Schatten mancher ›lachender Gesichter‹ wachsen Monster.
Doch was hat das alles mit Matrix zu tun? Diese 29. Ausgabe ist ein Beispiel dafür, was Redaktion und Autoren sich unter ›Dienern der gegenwärtigen Literatur‹ vorstellen. Nicht zu verwechseln mit ›Dienstleistern‹, deren Musterbeispiele so oft und so gern angst- und hemmungslos erscheinen und mich auf diese Weise immer wieder ins Bockshorn gejagt haben.
Als Diener der Literatur wie als Mensch, der anders nicht sein und denken kann, sehe ich Hans Bender auf der literarischen Bühne stehen, als dramatische Person und Darsteller zugleich. Und ich wünsche mir, dass auch er, der AUTOR Hans Bender, uns – die Menschen um ihn herum – liest. Ja, dass er uns ›liest‹: alles, was uns eigentlich und unverwechselbar ausmacht, um es in seine verzaubernde Sprache zu fassen und es uns wieder zu schenken – ›auf seine Art‹, wie sonst. Ob ich mich getraut habe, ihm etwas von meinen Wünschen zu erzählen? Natürlich nicht. Dennoch ist alles schon passiert. Und es passiert immer noch und wird auch weiterhin passieren: Er hat uns schon ›gelesen‹ und sein Werk selbst ›liest‹ uns andauernd – wie jedes Werk, das etwas zu sagen hat. Um mehr über uns zu erfahren, brauchen wir nur ab und zu eines seiner vielen Bücher in die Hand zu nehmen. Oder einige Seiten dieser Ausgabe zu lesen und wiederzulesen.
Schön und gut, aber das hindert mich nicht, weiter in Angst zu leben. Hans Bender wird wohl meinen Text lesen. Mir das zum einen naturgemäß wünschend, bin ich zum anderen ernsthaft besorgt. Was wird er denken, wenn er feststellt, dass ich es – schon wieder – geschafft habe, ein Editorial zu verfassen, ohne über den Gefeierten zu schreiben?
Was könnte man noch sagen? Was sollte noch gesagt werden? Ist denn nicht schon alles gesagt? Was willst du noch hinzufügen, wenn, beispielsweise, Rose Ausländer, Gottfried Benn, Theo Breuer, Rolf Dieter Brinkmann, Michael Krüger, Axel Kutsch, Friederike Mayröcker oder Hans Bender selbst sich zu Wort gemeldet haben? Dass du Akzente gekannt hast, bevor du ein Wort auf Deutsch lesen konntest? Dass du, armer Herausgeber und Verleger, glücklich und dankbar bist, ihn als Gast zu haben? Dass du dich genauso dumm findest wie der Stern-Autor unsere Politiker, auch wenn du keine MACHT hast und auch keine brauchst – oder das zumindest denkst? Das hat er bestimmt bemerkt. Und wenn nicht, wird er es gleich bemerken. Wird er für deine Schwäche Verständnis zeigen?
„Manchmal erledigen sich viele Dinge von selbst, manchmal lassen sie sich überhaupt nicht erledigen. Manchmal reichen der feste Wille und die eigene Kraft, manchmal bringt einen jeder noch so große Willens- und Kraftaufwand nicht weiter.“ Das habe ich einmal zu Papier gebracht. Soll alles beim Alten bleiben? Uh, wenn es so leicht wäre!
Theo Breuer („mein Glück“, wie ich ihn schon mal genannt habe) und allen Beiträgern, die dieses Unternehmen mit Beiträgen bereichern, möchte ich von Herzen danken. Und ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die 140 Seiten empfehlen, die unter dem guten Stern Hans Benders stehen. Jeder auf seine Art für Hans Bender ist weit mehr als nur ein Teil dieser Ausgabe. Es ist ein Teil unserer Wünsche. Ein Teil unserer Träume. Ein Teil unserer Hoffnungen. Ein Dank also auch an die Literatur an sich. Und die Bilder: Zwei einzigartige Hans-Bender-Porträts sind der Fotografin Renate von Mangoldt zu verdanken, eine Zeichnung Georg Eisler, zwei weitere Porträts Manfred Gierig sowie – last but not least – Hans Georg Schwark.
Der gegenwärtigen Literatur verdanken wir auch die Texte und Bilder, die die anschließenden Rubriken füllen. Fred Viebahn berichtet aus Virginia, wie es aussieht, „wenn es von allen Seiten knallt“. Karl Wolff, Harald Gröhler und Barbara Zeizinger gewähren uns Einblicke in kommende Gedichtbände – genauso wie Imre Török in einen Roman und Ulrich Bergmann in einen Band mit Prosa. Wolfgang Schlott bespricht neue Bücher – Wjatscheslaw Kuprijanows Gedichtband Verboten sowie Ngo Nguyen Dungs Kurzprosabuch Insel der Feuerkrabben –, Karl Wolff bringt uns die Russischen Filmtage in Münster nahe. Scharf und verführerisch ist der Essay von Urszula Usakowska-Wolff, der die Ausstellung eines „Genies der Fotografie“ behandelt: Diane Arbus, noch bis 24. September im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen.
In Namen der Redaktion lade ich Sie noch einmal herzlich ein, an diesem literarisch-künstlerischen Fest teilzunehmen!
Ihr
Traian Pop
Es signiert:
• Michael Augustin • Rose Ausländer • Franz Joachim Behnisch • Hans Bender • Gottfried Benn • Wolfgang Bittner • Johannes Bobrowski • Theo Breuer • Rolf Dieter Brinkmann • Jürgen Brôcan • Werner Bucher • Joseph Buhl • Michael Buselmeier • Hugo Dittberner • Anne Dorn • Georg Eisler • Susanne Eules • Manfred Gierig • Peter Hamm • Markus Haupt • Walter Hinck • Dieter Hoffmann • Werner Irro • Gerhard Jaschke • Walter Kappacher • Michael Krüger • Axel Kutsch • Werner Lutz • Friederike Mayröcker • Renate von Mangoldt • Volker Neuhaus • Joachim Rönneper • Hans Georg Schwark • Arnold Stadler • Tina Stroheker • Jürgen Theobaldy • Maximilian Zander • Ulrich Bergmann • Harald Gröhler • Imre Török • Traian Pop • Wolfgang Schlott • Urszula Usakowska-Wolff • Fred Viebahn • Karl Wolff • Barbara Zeizinger •