MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

Letzte Nacht geriet ich in einen Streit mit jemandem, der darauf bestand, mich in die Political Correctness einzuweihen.

Alles begann mit dem Artikel eines bekannten Journalisten, dessen Namen ich natürlich nicht erwähnen soll. Ich hatte also ein Material gelesen (das ich hier nicht wiedergeben kann, um nicht des Plagiats beschuldigt zu werden) über eine berühmte Sportlerin (darf ich das aus oben genannter Sicht sagen?), die ihr Brot als Profi in ihrem Land verdient (dessen Namen hier zu nennen nicht korrekt wäre), doch während ihres Urlaubs spielte sie – zur Abrundung ihres Einkommens – in einem Verein jenes Landes, dessen Namen man auf keinen Fall nennen soll. Und so verdiente sie im Urlaub etwa „n“-mal mehr als bei der Tätigkeit im Herkunftsland. Sie tut dies seit mehreren Jahren und kennt daher die Gepflogenheiten und Gesetze des Ortes, an dem sie ihre Ferien verbringt. Trotzdem wurde sie vor nicht allzu langer Zeit an einem Grenzübergang, der weltweit für die Strenge der Kontrollen bekannt ist, mit Drogen im Gepäck überrascht, die in ihrem Urlaubsland gesetzlich verboten sind. Bestrafung? Bis zu annähernd zehn Jahre Haft.

Von einem sehr hohen Beamten des Heimatlandes der Sportlerin wie auch ihren Anwälten und vielen Unterstützern wird dem Urlaubsland „illegale Festnahme“ vorgeworfen: ein Propagandaversuch.

Nach etlichen Monaten gescheiterter Verhandlungen über ihre Freilassung gestand sie plötzlich ihre Schuld ein, erklärte aber, dass sie das Gesetz nicht „vorsätzlich“ gebrochen habe, und der Größte des Tages in ihrem Herkunftsland glaubt immer noch, dass die Sportlerin „zu Unrecht inhaftiert“ wurde!
Nach einer Ewigkeit legte ein Anwalt der Sportlerin ein Dokument vor, das bescheinigte, dass ihr das „Medikament“ zu Hause von einem Arzt verschrieben wurde. Es steht jedoch fest, dass das vom Arzt ausgestellte Rezept zwar in ihrem Herkunftsland legal ist, im Urlaubsland aber, wo andere Gesetze gelten, keine Gültigkeit hat. Obendrein geriet die Sportlerin, die sich für ihre Art zu lieben und zu leben stark macht – eine Art, die im Urlaubsland nicht akzeptiert wird –, von Anfang an ins Fadenkreuz der Behörden. Sie konnte ihre medizinische Situation mit der Ferienclubleitung besprechen und eine Einigung mit den örtlichen Behörden erzielen. Aber sie trat arrogant auf mit dem Gedanken, dass es auch im Land ihrer profitablen Urlaube genauso laufen würde wie zu Hause, wo ihre Berühmtheit viele und vieles zum Dahinschmelzen brachte.

Dass ihr Urlaubsland den Fehltritt nutzt, um im Nervenkrieg mit ihrer Heimat zu punkten, ist klar. Klar ist aber auch, dass die Inhaftierung der Sportlerin auf keinen Fall rechtswidrig ist.

Nach einiger Zeit sind Informationen über eine mögliche Lösung der Situation aufgetaucht: ein Austausch von Geiseln zwischen den beiden Ländern. Als Gegenleistung für ihre Freilassung soll ein anderer Häftling ausgeliefert werden, der ab der Jahrtausendwende als der meistgesuchte Mann der Welt galt, immer noch mehrere Staatsbürgerschaften sowie anhängige Verfahren hat und seit mehreren Jahren (es wäre falsch, nicht wahr, zu sagen seit wie vielen) wegen unterschiedlicher hochkrimineller Machenschaften (über die es nicht geraten ist zu sprechen) hinter Gittern sitzt. Die Berater des Größten des Tages im Herkunftsland der Sportlerin hoffen, dass der Erfolg dieses Deals ein großer PR-Schlag werden und ihnen bei den bevorstehenden Wahlen erheblich helfen könnte. Es wäre möglich.

Bei allem Mitgefühl, das der Sportlerin entgegengebracht werden muss, obwohl sie die einzige Schuldige an der Situation ist, in der sie sich befindet, bleibt eine Frage im Raum stehen: Wie moralisch wäre eine Vereinbarung, durch die ein Krimineller wie der oben genannte im Austausch freigelassen würde? Aber in der Politik liegt der Preis der Moral im permanenten … „negativen Wachstum“.

Diese ganze Geschichte entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Sportlerin, für deren Befreiung sich der Größte des Tages in ihrem Heimatland so intensiv einsetzt, steht zu ihrer Position, die offiziellen Insignien ihres Landes nicht zu respektieren und während des Spielens der Nationalhymne den Platz zu verlassen. Es wäre jedoch keineswegs verwunderlich, wenn der Größte des Tages der Sportlerin nach ihrer Rückkehr die höchste Auszeichnung überreichen würde, die ein Bürger ihres Herkunftslandes erhalten kann, wie er es mit anderen – sehr lautstarken – Aktivisten bereits getan hat. Bis dahin aber wird es noch dauern, denn jetzt weiß sie genau, dass ihr in ihrem Urlaubsland statt einer Suite eine Gemeinschaftsunterkunft in einer Strafkolonie reserviert ist.

Was soll dies zu tun haben mit der Aussage, dass „mir die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, zu diesem Freundeskreis, sehr viel bedeutete und auch heute noch bedeutet. Ich sehe mich mit allen damals Dazugehörenden weiterhin geistig eng verbunden“, so eines der Mitglieder der viel beneideten literarischen Gruppe, deren Gründung sich in diesem Sommer zum 50. Mal jährte? Ich frage das, weil ich von dieser Gruppe geträumt habe, als ihr Kampf begann. Und – haben Sie es erraten? – ich bin genau in dem Moment aufgewacht, als ich ihren Namen aussprach. Denn wer sich mit zu heißer Suppe die Zunge verbrannt hat, bläst auch in den Joghurt, zumindest wenn er gerade aus dem Schlaf gerissen wird. Ich frage mich jedoch, wie das wäre, wenn jeder auch in den Joghurt zu pusten anfinge …

Hochpolitisch und brisant waren die Worte dieser Jungs, die mir persönlich damals sehr nahegingen – trotz meiner Neigung, nicht alles, was engagiert klingt, positiv zu bewerten. Weil damals, wie leider immer noch, die Welt voller Engagement war: ein Engagement, hinter dem nicht selten nur leere Versprechungen standen.

Vor ein paar Jahren habe ich – mit Hilfe Host Samsons – einen Text entdeckt, der mir immer noch wie kein anderer mit seiner Schlichtheit, Natürlichkeit und Wärme der damaligen Aktionsgruppe Banat gerecht zu werden scheint: das lange Gedicht periamportreport, 1975 von Werner Kremm verfasst, aus dem ich hier zitiere:

„das ist ein singsang,
geschrieben von einem, der auszog
das fürchten zu lernen
und zeitweise bokschan mit periamport velwechsert,
zu seiner persönlichen verteidigung aber behauptet,
nicht zu wissen,
was er tut,
auf die frage, weshalb er schreibe,
gegenwärtig folgender-
massen antwortet: die einzig seriöse einstellung eines schreib-
enden ist, zu schreiben.“

„Für die Schreibtätigkeit der Angehörigen der »Aktionsgruppe« bedeutete die »eigene gesellschaftliche Realität« und das »neue Realitätsbewusstsein« einen dreifachen Bezugsrahmen der Reflexion und Kritik: Es ging dabei um die »realsozialistische« Gesellschaft Rumäniens und die noch stark traditional ausgerichtete Gemeinschaft der Banater Schwaben und ihre »Lebenswelt«. Beides – mitunter in einer »unheiligen Allianz« – erschien uns im Lichte der Moderne überaus fragwürdig, beides galt mithin als Gegenstand der Kritik und Grund zur Veränderung. Und die Grundlage dieser Kritik und ihr Hintergrund bestand gleichsam in der dritten Dimension unseres »Realitätsbewusstseins«, nämlich der Literatur, der modernen westlichen Literatur und dem Weltverständnis und Lebensgefühl, das diese vermittelte. Als Weg der Veränderung in diesem Sinne wurde allerdings nicht die direkte Aktion angesehen – insofern passt der Name »Aktionsgruppe« auch nur eingeschränkt –, sondern der Umweg über das Bewusstsein, über die Einstellungen und Haltungen zu diesen gegebenen Realitäten.“ So Anton Sterbling, dessen Artikel Sie ab Seite 29 lesen können.

Ich hätte Ihnen gerne auch erzählt, wann und wie ich diese Jungs kennenlernte und warum ich mich in deren Gesellschaft so wohl fühlte. Vielleicht tue ich das ein andermal. Zurzeit erscheint es mir etwas peinlich, mich an deren Erfolg dranzuhängen.

„Es war schon immer so, daß wir geschrieben haben, / um dereinst nicht mehr schreiben zu müssen.“ Holdger Plattas Gedichte scheinen uns und unseren Ansatz gegen das „Pusten in den Joghurt“ zu unterstützen – genauso wie die starke Abteilung von, mit und über Manfred Chobot: „»Gedichte muss man so schreiben, dass sie, wenn man sie gegen ein Fenster wirft, die Fensterscheibe zerschlagen.« Dies hat der russische Dichter Daniil Charms geschrieben. Seiner Forderung schließe ich mich vollinhaltlich an.“ Wundern Sie sich bitte nicht, wenn Sie feststellen müssen, dass unsere Ausgabe keine Scheibe mehr hat, gerade jetzt, wenn alle beim Heizen sparen müssen.

Nicht so schlimm, scheint Charlotte Ueckert zu sagen, wenn die Protagonistin ihrer Prosa sich erinnert: „Das wäre damals doch was gewesen: Duschbusse an zentralen Plätzen und man wäre als neuer, sauberer Mensch herausgekommen. Desinfiziert gegen jede Unzumutbarkeit.“

Dagmar Dusils Kurzprosa, die meisterhaft von einem Haiku angekündigt wird, bringt uns nicht nur einen unserer Bekannten nahe, sie fordert uns auf, an die Beziehung zu Unserer Zeit zu denken: „»Es ist deine Zeit«, (…) »Zeit ist Sand«, hatte sie ergänzt, »warm und zerrinnend, kalt und abweisend. Es ist nicht deine Zeit, sondern du gehörst der Zeit. Irgendwann braucht dich die Zeit nicht mehr, entledigt sich deiner. Dann folgt deine zeitenlose Zeit.«“
Der Essay von Kurt Roessler, Roma-Schausteller in Literatur und Kunst, der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke, einer von vielen Schreien, unter der Initiative Der Himmel über Philomena gesammelt und herausgegeben von unserem Mitstreiter Matthias Buth, setzt sich nicht nur mit der Neigung auseinander, in den Joghurt zu pusten, sondern auch mit den Vorurteilen vieler von uns.

Unser ebenfalls sehr geschätzter Mitstreiter Theo Breuer lädt uns mit dem vierten Essay des insgesamt siebenteiligen Projekts L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« nach Norwegen ein – in Begleitung von Ingebjørg Berg Holm, Toril Brekke und Sigrid Undset –, um den „rostigen Klang von Freiheit“ zu erfahren. Sein fünfter Essay bringt uns Harald Gröhler näher: Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern.

„Die Verlegenheit bleibt, nicht wenigen ist es peinlich, zu singen und dann auch noch »für das deutsche Vaterland«. Was heißt das eigentlich? Wer von den Ampelisten aus Berlin spricht davon? Und »im Glanze dieses Glückes« – ja, von Glück ist die Rede – soll dieses Land, das deutsche Vaterland, »blühen«. Die Blumen heißen »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Nicht alle Bundesminister vermochten am 3. Oktober 2022 in Erfurt beim »Nationalfeiertag« (schon diese Bezeichnung irritiert viele) mitzusingen, so Steffi Lemke. Sie schwieg.“ Manche Sätze in Matthias Buths Essay sind wahre Verzweiflungsschreie – wie dieser Ausschnitt aus Clara Schumann. Souvenir de Bonn et de Vienne
(ab S. 165).

„Wer mit dem gewaltigen Werk des Dichters Samson ein wenig vertraut ist, der wird nun auch den Mut haben, nach dessen Spiel mit dem Meer, der Zeit und dem Feuer sich an eine Monografie über sein Werk wagen. Nur zu, es lohnt sich!“ So beendet Wolfgang Schlott eine der besten Buchbesprechungen, die ich gelesen habe, zu Horst Samsons Der Tod ist noch am Leben,

Zu Matthias Buths Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zur Kulturgeschichte schreibt Barbara Zeizinger: „Für Matthias Buth ist Philomena mehr als eine Sintiza, die Auschwitz überlebt hat. Sie ist für ihn eine Mutter Courage. Daher hat er mit diesem Buch eine edition philomena eröffnet, in der er gemäß dem Satzungsauftrag des Philomena-Franz-Forums Texte der deutschen Kulturgeschichte in ihren europäischen wie regionalen wie ethnisch-spezifischen Bezügen publizieren wird. Gemeint sind Texte, die Courage, Entschiedenheit unter das Dach einer Kultur der Liebe und des Verzeihens stellen.“

Ewart Reders Rezension zu Sabine Doerings Friedrich Hölderlin. Biographie seiner Jugend sowie die Berichte aus der Kulturszene von Francisca Ricinski (Die Haut umschließt die Seele: Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen, 3. Juli 2022 – 8. Januar 2023, Arp Museum, Bahnhof Rolandseck) und Widmar Puhl (Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters) runden dieses Heft ab.

Die vierte Ausgabe dieses Jahres ist auch fast fertig und wird in Kürze erscheinen. Hoffentlich werden wir uns demnächst nicht mehr für Verspätungen entschuldigen müssen.

Herzlich,
Ihr Traian Pop Traian

• Werner Kremm • Ein Gedicht für jede Jahreszeit • 50 Jahre Aktionsgruppe Banat • Anton Sterbling • Holdger Platta • Manfred Chobot • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ • Charlotte Ueckert • Dagmar Dusil • Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an • Kurt Roessler • Theo Breuer • Literatour »22« • Matthias Buth • Wolfgang Schlott • Barbara Zeizinger • Ewart Reder • Helmuth Schönauer • Sylvia Unterrader • Widmar Puhl • Francisca Ricinski • Traian Pop Traian • Aleksander Nawrocki • Peter Gehrisch • Widmar Puhl •Traian Pop Traian • Mark Behrens • Philipp Ammon • Eva Filip • Wolfgang Schlott • Stefanie Golisch • Christoph Kleinhubbert • Harald Gröhler • Ortwin Beisbart • Uli Rothfuss •

Traian Pop Traian • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter
50 Jahre Aktionsgruppe Banat
Werner Kremm • periamportreport / S. 11
Anton Sterbling • Verschlungene Erinnerungsfragmente . Assoziationen zu einer Stadt / S. 31
Anton Sterbling • Stichworte zur Aktionsgruppe Banat / S. 41

Holdger Platta • Neun Gedichte / S. 49
Manfred Chobot • Zehn Gedichte / S. 63
Manfred Chobot • Jurytätigkeit / S. 78
Manfred Chobot antwortet Dato Barbakadse fragt • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ / S. 88
Charlotte Ueckert • Bei die Fische . Prosa / S. 103
Dagmar Dusil • Haiku & Prosa . Der Wortmagier / S. 112

Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an
Kurt Roessler • Roma-Schausteller in Literatur und Kunst der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke / S. 117

Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 4 : Ein rostiger Klang von Freiheit – und mehr . Nach Norwegen reisen – mit Berg Holm, Brekke, Undset / S. 133
Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 5 : Harald Gröhler … . Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern / S. 144
Matthias Buth • Clara Schumann . Souvenir de Bonn et de Vienne / S. 167
Bücherregal
Wolfgang Schlott • „Gegen die Kraft der Poesie [aber] ist der Tod machtlos.“ . Horst Samson, Der Tod ist noch am Leben / S. 175
Barbara Zeizinger • Bei Philomena wird immer eine Tür geöffnet . Matthias Buth (Hg.), Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zu Kulturgeschichte / S. 179
Ewart Reder • Verseflüsterin . Sabine Doering kommt „Friedrich Hölderlin“ unfassbar nah / S. 183
Helmuth Schönauer • Manfred Chobot, Das Hortschie-Tier und die Lurex-Frau. Hyper-Texte / S. 186
Sylvia Unterrader • Manfred Chobot, „Hawai’i“ Mythen und Götter / S. 189

Aus der Kulturszene
Francisca Ricinski • „Die Haut umschließt die Seele“ . Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen / S. 191
Widmar Puhl • Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters / S. 196

MATRIX 3/2021 (65)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

  Was kann ich tun, Gott, um nicht mehr dem nachzuweinen, was war bzw. nicht war oder von dem ich meine, dass es nie sein wird, um mich endlich darauf zu konzentrieren, was mir das Leben bietet – das denke ich gerade und bin sicher: Dieser Gedanke wird nicht so einfach umzusetzen sein.
Irgendwie will ich mit Ihnen meine Freude teilen, die ich am
19. November 2021 im Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf er-
lebt habe. „Sehr geehrte Mitglieder der Jury des Andreas-Gryphius-
Preises, liebe Poesiekollegen, liebe Leser“, so ging es los. „Mamă, tare începe – wow, wie stark“, schreckte ich in der darauf folgenden rheto­rischen Pause während meiner Dankesrede hoch und fuhr fort: „Ich weiß nicht, wie ich die Aufregung ausdrücken soll, die ich empfand, als mich die wundervolle Nachricht erreichte, dass ich in Düsseldorf den Andreas-Gryphius-Preis erhalten werde. Um zu verstehen, was ich empfunden habe, müssen Sie wissen, dass dieser legendäre Preis, benannt nach dem schlesischen Barockdichter – einem vielsprachigen Poeta doctus –, mit dem so bedeutende Autoren wie Reiner Kunze, Rose Ausländer, Siegfried Lenz, Andrzej Szczypiorski oder Jiří Gruša ausgezeichnet wurden, dass dies der erste Literaturpreis ist, der mir in meinem Adoptionsland verliehen wurde.“
„Cu asta s-a aranjat, păi cine mai stă, măi frate, în rând cu Lenz & Co. – damit bin ich etabliert, denn wer, Bruder, reiht sich neben Lenz & Co. ein“, sog ich zusammen mit einer guten Portion frischem Sauerstoff ein, die diesmal echt nötig war, und sprach weiter: „Es stimmt: Ein Literaturpreis allein wird Waffen nie zum Schweigen bringen. Was er aber tut: Er verpflichtet. Mir ist dies bewusst und ich hoffe, die in mich gesetzten Erwartungen nicht zu enttäuschen.“
„Aici chiar că s-a întrecut pe sine – jetzt hat er sich sogar selbst übertroffen“, triumphierte ich kurz, um das Folgende nicht hinauszuzögern: „Diese Auszeichnung widme ich meiner Familie für ihre Geduld und ihr Verständnis sowie den Autoren, Übersetzern, Lek­toren, Redakteuren und Korrektoren, die mit mir konstruktiv
zusammenarbeiten und mit denen ich oft freundschaftlich verbun-
den bin.“
„Klar, denen verdankst du eigentlich alles, was du hast“, machte ich mich klein, um wieder auf den Boden zu kommen. Endlich auf Deutsch und sogar grammatikalisch korrekt, stellte ich fest, während ich von Tränen überwältigt wurde.
So also der Unterzeichner dieses Editorials, damals, als Veranstaltungen noch möglich waren. Denn Corona hat, wie üblich, schon wieder alles auf der Kopf gestellt: Diese Ausgabe sollte schon lange erscheinen, aber seine App zeigte ihm überraschend: „Begegnungen an 1 Tag mit erhöhtem Risiko“. Die Ermüdung scheint seither sein ständiger Begleiter sein zu wollen, man glaubt, der Körper versucht durch Schlaf, Energie aus den alltäglichen Aktivitäten zurückzu­ziehen, um die Abwehrkräfte-Armee zu verstärken.
„Unter diesen Bedingungen schreiben? Alles ist ja vorbei und vergangen, was ich erzählen kann, sogar dieser Traum. Das, was ist, und das, was noch kommen wird, ist kaum zu fassen und zu erzählen! Erzählen ist eigentlich etwas Trauriges, weil der Brunnen der Vergangenheit viel zu tief ist für einen, der den Zugang verpasst hat.“ Das schrieb Dieter Schlesak, nicht ich, auch wenn ich es gerne so formuliert hätte.
Genauso verhält es sich mit den Worten von Christel Wollmann-Fiedler in der Einleitung ihres Interviews mit Eginald Schlattner, weil ich ohne Zögern die Beschreibung des Literaturtourismus unterschreiben könnte, den ich kenne und beispiellos finde nicht nur in Rumänien, sondern in der Welt: „Menschen aus dem Westen Europas und von Übersee, nicht nur deutschsprachige, machen sich auf den Weg, nein, pilgern geradezu ins siebenbürgische Rothberg/Roşia bei Hermannstadt/Sibiu zum Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner, zum alten Pfarrhof von 1762 und zu einer der ältesten Kirchen inmitten der Karpaten, der romanischen Basilika aus dem Jahr 1225. Kein siebenbürgischer Schriftsteller, ob hier in Rumänien oder im Ausland, bekommt so viel literarischen Besuch, Ehre und Bewunderung. Nun, seine Bücher werden in vielen Auflagen produziert, in mehrere Sprachen übersetzt und sogar verfilmt.“
Nach Siebenbürgen also laden wir Sie ein, liebe Leserinnen und liebe Leser, zuerst mit einem Auszug aus dem im Sommer 2021 erschienenen Roman Drachenköpfe. Im Folgenden werden dann dessen vielfältige Facetten von nicht weniger als drei Studien auf insgesamt mehr als 43 Seiten beleuchtet:
– „Zu Eginald Schlattners Roman Drachenköpfe (2021) – Eine literarische Replik auf Iris Wolffs Erzählung Drachenhaus“ von Gabriella-Nóra Tar, die in ihrer literarischen Analyse festhält: „Keinesfalls soll übersehen werden, dass der autodiegetische Erzähler in Drachenköpfe nicht nur Pfarrer, sondern vor allem Schriftsteller, d. h.
ein Künstler ist. Im Roman gelten zuerst seine literarische Lektüre, danach sein eigenes literarisches Werk als Medien, die eigene Vergangenheit analytisch bzw. kreativ zu bewältigen und somit implizite auch die rumäniendeutsche Geschichte bzw. Gegenwart zu erschließen.“
– „Ebenso politisch aktuell wie literarisch bedeutsam: Die Überhöhung des Profanen durch das Mythische“ von Christoph Klein, der bilanziert: „Das Buch schließt seltsamerweise mit einem Wort, das Anita Mirjam ihm Jahre zuvor, 1978, auf der Galerie des Pfarrhauses in Semlak zugerufen hatte, zum Abschied, ohne ihm ihr Antlitz zu zeigen. Es heißt wörtlich: ,Ich signierte weiterhin Bücher im wechselnden Licht von Handys, Taschenlampen und Feuerzeugen […].
Und erahnte, was es heißen könnte: ,Du bist für das Antlitz des anderen verantwortlich.‘ […] Ein Wort Mircea Eliades sei am Ende zitiert wie ein Schlüssel: ,… die Wahrheit der Geschichte beginnt … bei der symbolischen Bedeutung der Ereignisse‘ […].“
– „Drachenköpfe. Roman im Kontext der Rehabilitierung des Autors und Siebenbürger Sachsen Eginald Schlattner“ von Rolf L. Willaredt. Zum Schluss seiner Buchbesprechung schreibt Rolf L. Willaredt: „Und wir dürfen ohne Rücksicht auf Textsorten davon ausgehen, dass er [Eginald Schlattner] seit 88 Jahren wie in einem ereignisvollen Roman lebt und diesen in einer Version für uns festhält. Aber Vorsicht, um mit seinen Worten zu sprechen: ,Die Dinge müssen nicht stimmen, aber stimmig sein sollten sie‘ […]. ,Selbst Worte sollten nicht genötigt werden, wahr zu sein, aber wahrhaftig, das ja!‘ […].“
Nach Rothberg ging im Sommer 2021 auch das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. „Mit Eginald Schlattner möchten wir eine große Persönlichkeit Rumäniens aus dem Kulturkreis der deutschen Minderheit für sein Werk und Wirken ehren. Beide, Werk und Wirken Eginald Schlattners, Siebenbürger Sachse, 1933 in Arad geboren, stehen in ihrer umfassenden Botschaft sinnbildlich für Toleranz und gegenseitigen Respekt zwischen den Kulturen und Ethnien des Landes, für Zivilcourage, Prinzipientreue und unermüdliches Eintreten für europäische Werte und historische Wahrheit“ – so die offizielle Begründung des Ordensvorschlags. Wir freuen uns sehr über die Ehrung unseres Autors und bitten Sie, an unserer Freude teilzunehmen. Feiern Sie also zusammen mit dem Laudator Cord Meier-Klodt, damaliger Botschafter Deutschlands in Rumänien, den Autor Eginald Schlattner, der selbst drei Dankesreden gehalten hat in den drei in Siebenbürgen gesprochenen Sprachen: Rumänisch, Deutsch und Ungarisch. Welch eine Bereicherung, so einem Menschen zuzuhören, der Worte für jeden gefunden hat und sich auch in der jeweilige Sprache ausdrücken kann!
Auf Deutsch zum Beispiel: „Oder schlichter, wie etwa Konrad Adenauer befindet: ,Ehrungen, das ist, wenn die Gerechtigkeit ihren liebenswürdigen Tag hat.‘“
Den rumänischen Gästen verriet er u. a. auch, dass er keinen deutschen Pass habe, weil er darauf vertraue, dass Gott genau hier seine schützende Hand über ihn halte: „Întrebat de ce nu am pașaport german – aș putea – răspund: ,Am încredere că bunul Dumnezeu îmi va purta de grijă aici, ca să fiu ocrotit în cele ale vieţii și la moarte.‘“
Den ungarischen Kollegen und Mitbrüdern sagte er u. a.: „Nos, akkor: integráció – igen, asszimiláció – nem. Vagy rövid bibliai megfogalmazásban – a legfőbb parancsolatként: ,Szeresd felebarátodat, mint önmagadat‘“, übersetzt: „Nun denn: Integration – ja, Assimilation –
nein. Oder in einer kurzen biblischen Formulierung – als oberstes Gebot: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“
Isabel Rauscher, die Botschafterin der Republik Österreich in Rumänien, kennt den Weg nach Rothberg schon lange: „Wenn es nicht schon spät geworden wäre und der Anstand es geboten hätte, Ihre Herzlichkeit nicht überzustrapazieren, würde ich heute noch bei Ihnen im Biedermeierfauteuil sitzen!“, gestand Sie bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Eginald Schlattner im November 2018 und hob hervor: „Im Namen der ,Spätgeborenen‘, der Generationen, die Ihnen folgten und die uns folgen werden, danke ich Ihnen für Ihre wunderbare Sprache und für die Welt, die Sie durch Ihre Sprache und Ihre Erzählungen erhalten haben. Mittels dieser Sprache vermitteln Sie nicht nur eine gelebte Welt, sondern auch ein ganzes Weltbild; dies in einer Zeit, in der ein solches Weltbild oft nicht mehr als ,cool‘ angesehen wird.“
Isabel Rauscher war natürlich auch diesmal dabei und erlaubte uns, ihre damalige Rede zu veröffentlichen. Vielen Dank dafür! Und nicht nur Ihnen, liebe Frau Rauscher, sondern auch allen anderen, die uns ihre Beiträge zur Verfügung gestellt haben! Wir werden uns bei der nächsten Feier unseres Autors wiedersehen. Gründe gibt es genug. Einer davon ist das Erscheinen seines neuesten Romans Schattenspiele
toter Mädchen. Eine Kostprobe daraus rundet unseren Weg nach Rothberg ab – mit dem Versprechen, bald dorthin zurückzukehren.
„Das Leben ist ein Gespräch / In der Dunkelkammer über Glück, / Die Ränder des Da- und Wegseins“: Von der Weltbühne der Literatur grüßt uns Horst Samson mit einigen Gedichten aus seinem neuesten Lyrikband In der Sprache brennt noch Licht. Lesen Sie dazu auch eine ausführliche Buchbesprechung von Wolfgang Schlott.
Im Essay Der Tod ist groß stellt uns Theo Breuer das Buch Den Toten bewachen / Garder le Mort von Jean-Louis Giovannoni vor.
Mit Elmar Schenkels Erinnerung zu Gustave Flauberts 200. Geburtstag, mit einem Text des klassischen georgischen Autors Egnate Ninoschwili und mit einem Essay über dieses Werk sowie mit Peter Frömmigs Gedanken Zum Leben und Schreiben von Pablo Neruda, der sich „zugehörig den Leuten ohne Schule und Schuhe“ sah, hoffen wir,
Ihr Interesse an einigen Leuchttürmen der Literatur wachzuhalten. Aus den Beständen der Weltliteratur haben wir für Sie außerdem Gedichte von Benedikt Dyrlich ausgewählt.
Unser Bücherregal ergänzt die Liste der Buchbesprechungen mit neuen Rezensionen von Harald Gröhler, Wolfgang Schlott, Mark Behrens, Wolfgang Fehse und Widmar Puhl.
„Die Verkennbare. Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie?“, fragt sich Ewart Reder nach seinem Besuch und erzählt uns, was er erlebt hat.
„WAS BLEIBT NOCH VON MIR
nichts als ein Satz / gut beziffert
hier / aus-geschrieben von einer Hand
wie deiner“
So setzt diese Ausgabe ein. Mit einem der besten Dichter Siebenbürgens und des deutschen Sprachraumes: Dieter Schlesak. Beginnen Sie einfach zu lesen. Es lohnt sich. Und glauben Sie mir bitte, das Heft ist aktuell, auch wenn es verspätet erscheint.
Ihr
Traian Pop

• Eginald Schlattner • Auf dem Weg zum Rothberger Pfarrer und Dichter •  Christel Wollmann-Fiedler • Gabriella-Nóra Tar • Cord Meier-Klodt • Christoph Klein • Isabel Rauscher • Rolf L. Willaredt • Horst Samson • Theo Breuer • Elmar Schenkel • Egnate Ninoschwili • Bela Tsipuria • Peter Frömmig • Benedikt Dyrlich • Harald Gröhler • Wolfgang Schlott • Mark Behrens • Wolfgang Fehse • Widmar Puhl • Ewart Reder • Traian Pop •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S. 4

Die Welt und ihre Dichter
Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Dieter Schlesak • Was bleibt noch von mir / S. 9
Dieter Schlesak • Nichtzeit . Auszug aus dem posthum erschienenen Roman Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr / S. 11
Auf dem Weg zum Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner
Eginald Schlattner • Die Zwirngasse . Auszug aus dem Roman Drachenköpfe / S. 21
Christel Wollmann-Fiedler • Mein Sommertag in Rothberg . Ein Gespräch mit dem Pfarrer und Schriftsteller Dr. h.c. Eginald Schlattner / S. 29
Gabriella-Nóra Tar • Zu Eginald Schlattners Roman Drachenköpfe (2021) – Eine literarische Replik auf Iris Wolffs Erzählung Drachenhaus / S. 41
Christoph Klein • Ebenso politisch aktuell wie literarisch bedeutsam: Die Überhöhung des Profanen durch das Mythische / S. 57
Cord Meier-Klodt • Laudatio / S. 69
Eginald Schlattner • Insignien in Siebenbürgen / S. 73
Eginald Schlattner • Gedanken zur Rede der Ordensverleihung – 24.6.2021, Deutsches Konsulat, Hermannstadt / S. 78
Eginald Schlattner • Cuvântarea cu ocazia decernării distincţiei Crucea de merit în rang de cavaler al Ordinului de merit al Republicii Federale Germania, 24.6.2021, Consulat, Sibiu / S. 83
Eginald Schlattner • Eginald Schlattner lelkész, Veresmarti lelkészlak, 2021. június 21 . Eginald Schlattner erdélyi szász lelkészíró magyar nyelvű beszéde a Német Szövetségi Köztársaság Érdemkeresztjének nagyszebeni átadása alkalmából / S. 86
Isabel Rauscher • Wenn es nicht schon spät geworden wäre und der Anstand es geboten hätte, Ihre Herzlichkeit nicht überzustrapazieren, würde ich heute noch bei Ihnen im Biedermeierfauteuil sitzen! / S. 88
Eginald Schlattner • Till Eulenspiegel und die Hampelleute . Auszug aus dem neuen Roman Schattenspiele toter Mädchen / S. 91
Rolf L. Willaredt • Drachenköpfe. Roman im Kontext der Reha­-
bilitierung des Autors und Siebenbürger Sachsen Eginald
Schlattner / S. 103

Horst Samson • Dreizehn Gedichte / S. 119
Theo Breuer • Der Tod ist groß … . Essay / S. 132
Elmar Schenkel • „Ich bin Mystiker und glaube an nichts“. Eine Erinnerung zu Gustave Flauberts 200. Geburtstag / S. 135
Egnate Ninoschwili • Der See von Paliastomi . Prosa / S. 139
Bela Tsipuria • Ein neues Leben für die Erzählungen von Egnate Ninoschwili / S. 158
Peter Frömmig • Verwurzelt und weltoffen . Zum Leben und Schreiben von Pablo Neruda (1904–1973) / S. 173
Benedikt Dyrlich • Sieben Gedichte / S. 177

Bücherregal
Harald Gröhler • Über Milan Hrabals Gedichtbuch Wenn die Fische davonfliegen / S. 184
Wolfgang Schlott • Über Horst Samsons Gedichtbuch In der
Sprache brennt noch Licht / S. 187
Wolfgang Schlott • Über Petru Ilieșus Gedichtbuch Rumänien. Postskriptum. Romania. Post Scriptum / S. 190
Mark Behrens • Über Henry David Thoreaus Buch Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat / S. 193
Wolfgang Fehse • Über Harald Gröhlers Buch Astreines Alibi / S. 195
Widmar Puhl • Über Wolfgang Schlotts Buch Kriminelles und Abwegiges. Skurrile Erzählungen / S. 197

Aus der Kulturszene
Ewart Reder • Die Verkennbare . Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie? / S. 199

MATRIX 2/2021 (64)

MATRIX 2/2021 (64)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Ich mag keinen Exhibitionismus, aber ich habe trotzdem das Bedürfnis, die Kleider meines bescheidenen Ich wieder einmal fallen zu lassen. Des bescheidenen Ich, das so verrückt geworden ist, als Autor, Redakteur, Kolumnist – und was es sich sonst erträumt hat in seiner parallelen Welt – erneut vorstellig zu werden. Weil ich, wie schon so oft gesagt, zu danken habe, dass es mir erlaubt ist, dabei zu sein.

So wie mein Vater, der als Pilot für den Flug und die Passagiere verantwortlich war, es getan hat. Von ihm habe ich einen Traum geerbt: wie schön es sein kann, sich dem Willen des Himmels zu überlassen, auch wenn man Seiner Majestät dem Himmel manchmal aus der Hand rutscht. Genauso wie ich von ihm geerbt habe, dem Wunsch nachzugeben, selbst zu erfahren, was es heißt, den Flug für andere vorzubereiten, für ein Flugzeug und seine Passagieren einzustehen. Und das mehrmals wöchentlich, egal ob tags oder nachts, egal ob sommers oder winters, egal ob bei Hitze, Regen oder Schneesturm.

Eine Art, ein Flugzeug mit Passagieren anvertraut bekommen zu haben, scheint auch der Versuch zu sein, eine Literaturzeitschrift am Leben zu erhalten in einer Zeit, als Corona-Pandemie und Klimakatastrophe jedem Flugversuch entgegenstanden. Stimmt, unter Quarantäne gestellt zu werden, ist nicht gerade lustig. Um nicht missverstanden zu werden: Ich gehöre zu denen, die Impfen als einen Akt der Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft sehen. Ich sage dies nicht, um den Überraschungseffekt, der die Passagiere dieses Fluges erwartet, zu verderben, sondern um eine Wahrheit zu wiederholen, die jeder kennt und die niemand hören möchte: Jene, ohne die eine Pandemie und eine Klimakatastrophe nicht existieren würden, sind wir. Nur wir, unabhängig davon, ob wir uns an Bord der Literatur und Kultur begegnen, für die es immer enger wird, oder – im Gegenteil – von deren Existenz keine Ahnung haben bzw. davon nichts wissen wollen.

Genauso wie die Literatur selbst ein Virus ist, gegen das weder Interesse noch Ignoranz, weder Gut- noch Böswilligkeit, weder Armut noch Reichtum, weder persönliche Schwäche noch politische oder militärische Macht und auch nicht die Literatur selbst, die sich so oft für Pfennige prostituiert hat, bisher ein Gegenmittel gefunden haben. Trotz unzähliger Versuche. Von der Inhaftierung bis zum Verbot, ja bis zur raffinierten wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung.

Dass sich hinter der wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung von Pandemie und Klimakatastrophe auch eine unfaire Art, mit Literatur umzugehen, verbirgt, ist längst keine Neuentdeckung mehr. Genauso wie die politisch korrekte Behandlung der Literatur eine Katastrophe für Literatur selbst ist. Wenn immer mehr „Literaturfreunde“ sich berechtigt fühlen, mir unbedingt beizubringen, dass z. B. Schneewittchen von Rassismus und Diskriminierung oder Rotkäppchen von Sexismus geprägt seien.
Soll mein Ich, obwohl es zu seiner Männlichkeit steht, aber nicht an Sex denkt, wenn es sich an Rotkäppchen erinnert, soll mein Ich dieses wunderbare Märchen mit seinen Lehren über Gut und Böse, über Naivität und Realität, über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, das meine Kindheit begleitet hat, einfach vergessen? Und Schneewittchen zukünftig außer Acht lassen? Muss ich nun annehmen, dass das wirtschaftlich und politisch korrekte Benehmen uns selbst erfasst hat? Erfasst nicht, aber eingeholt schon, flüstert mir eine berühmte Romanfigur ins Ohr.

Pragmatisch wäre also, in das Flugzeug, das ich unbedingt in Betrieb halten möchte, die Geimpften, Genesenen oder Nicht-Infizierten einsteigen zu lassen. Da ich aber mit Pragmatismus nichts am Hut habe, wähle ich die Passagiere immer noch nach Kriterien aus, die ich mir selbst angesichts der allgemeinen Befindlichkeiten kaum einzugestehen wage. Ist das ein Zeichen dafür, dass meine Finger voller Viren sind? Trotz des Versuchs eines EU-Werbespots, mir beizubringen, wie ich meine Hände korrekt waschen muss? Gott sei Dank drängt sich nicht alles als Vorschrift auf, manches ist nur als Geschenk zu bekommen …
Denn was hätte die Dame aus dem Werbespot mit der Tatsache anfangen können, das z. B. unser georgischer Autor Dato Barbakadse eine „türkische Pizza“ isst „in einem ärmlichen Café in Kopenhagen, Hauptstadt Österreichs / mit ein paar nicht so schlechten Aussichten auf den Seine-Fluss“? Hätte sie eine Probe an die Behörde geschickt, um die Virenbelastung festzustellen?
Und wie hätte das RKI die Tatsache eingestuft, dass Christa Wißkirchen „Vatermutter“ sagt statt „Mamapapa“ und „Erzeuger“ statt „Eltern“ und „Projektion“ statt „Liebe“ und „System“ statt „Schule“ und so weiter und so weiter?

Europa hätte bestimmt Selbstanzeige erstattet, wäre aus dem Zentrum Zentraleuropas zu ihr gedrungen: „Die Anarchisten haben ihre Knallfrösche vergessen (und die Fahnenträger laufen ohne Fahnen / einzeln über den leeren Platz / wo der Volksredner von einer Säule herab / per Liveschaltung seine Zuhörer anfleht / nicht das Haus zu verlassen.)“, wie Thomas Böhme uns gerade mitteilt, während Michael Denhoff von countertimecounter sagt, dass die Komposition immer lebendiger werde trotz der Absicht, der mittlerweile so genannten ,Corona-Krise‘ (die in seiner Wahrnehmung vielmehr eine globale Gesellschafts- und Systemkrise – mit in mancherlei Hinsicht geradezu kafkaesken Zügen – geworden sei) keinen Zutritt in seine künstlerische Arbeit zu erlauben.

Der Gemeinplatz ist allseits bekannt: Was soll der Träumer, wenn heute Pragmatiker und Problemlöser gefragt sind? Wer glaubt im Ernst, dass Lawrenti Ardasiani kein Träumer war, als er in Tiflis die Verwandlung und Europäisierung mit all ihren karnevalesken Zügen akribisch beobachtet und literarisch gestaltet hat? Man könnte auch meinen, Matthias Buth wäre ein Verwalter der Ungerechtigkeit, die immer noch unsere Zeit prägt, Barbara Zeizinger und Rainer Wedler wären Puppenspieler, die sich selbst manövrieren, Silvia Schreiber eine unsichtbare Mitbewohnerin in unseren Wohnungen, Körpern, Gedanken. Und die Rezensenten: viel zu indiskrete Leser, die viel zu diskret über die eigenen Entdeckungen berichten. Den Editorial-Unterzeichner sollte man lieber vergessen: Er spottet jeder Vorstellung von gesundem Menschenverstand. Der einzige Zeitzeuge dieser Ausgabe, der das Schreiben zu seinem Hauptberuf gemacht hat, Hans Todt, mahnt: „In der heutigen Zeit des Internets finde ich es wichtig, dass junge Menschen überhaupt lesen.“

So könne aber keine Identität als Literaturgemeinde entstehen, die integrieren soll statt ausschließen, meldet sich die schon erwähnte Romanfigur zu Wort und fügt hinzu: Dieser Flug findet bestimmt nicht mehr statt. Doch, antworte ich, während die unentschlossene Jahreszeit die Unterwäsche von Rotkäppchen in meinem Handgepäck sucht, nachdem sie mir den Reisespiegel überreicht hat, in dem Schneewittchen sich schminkte, damit ich mich selbst davon überzeugen kann, dass ihr Negativ-Test gefälscht war. Ich finde aber keinen Grund zu feiern, obwohl mein Ich mich aus dem Spiegel ohne FFP2-Maske anstarrt.

Ich halte ihm das Blatt Papier unter die Nase, auf dem ich gerade begonnen habe, den Leitartikel dieser Ausgabe zu schreiben:

„… ich werde dich nie wiedersehen. So viele Tode / warten auf dich“, schreit Matthias Buth mit einem Vers von Adam Zagajewski, „und dann / der tod / zu jeglicher schönheit entschlossen“, zitiert er weiter, diesmal aus einem Gedicht von SAID. „Ruf leise: Strudirella. Wenn dann eine Nixe aus dem Wasser schaut, ist sie deine Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßtante“, antwortet ihm Herwig Haupt. „Auf einem Bild fährst Du unter Wasser mit dem Rad zur Kirche, liebe Irene Klafke“, denkt Christine Kappe, während sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg zur Trauerfeier macht. Wollten sie vielleicht Strudirella treffen?

Eine gute Reise hätte ich allen Entschwundenen wünschen wollen, aber meine Stimme macht nicht mit. Ich bin jedoch sicher, dass sie mich hören. Und selbst wenn es nicht so sein sollte, ist es wichtig für mich und Sie, die diese Zeilen lesen, das zu glauben.

Es ist bereits Oktober und die MATRIX-Sommerausgabe endlich druckreif …

Traian Pop

• Dato Barbakadze • Christa Wißkirchen • Thomas Böhme • Michael Denhoff • Lawrenti Ardasiani • Bela Tsipuria • Matthias Buth • Herwig Haupt • Ulrich Bergmann • Christine Kappe • Irene Klaffke • Rainer Wedler • Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen? • Hans Todt • Barbara Zeizinger • Silvia Schreiber • Christel Wollmann-Fiedler • Wolfgang Schlott • Tania Gensfett • Uli Rothfuss • Katharina Kilzer • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Traian Pop •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Dato Barbakadse • genius loci / S. 9

Christa Wißkirchen • Sechs Gedichte / S. 12
Thomas Böhme • Fünf Gedichte / S. 18
Michael Denhoff • countertimecounter / S. 26
Dato Barbakadse • 64 Haiku / S. 33
Luka Bakradse • Haiku-Kränze / S. 47
Beka Barkaia • Die kombinatorische Poesie Akira Mikitos / S. 49
Lawrenti Ardasiani • Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili . Auszug / S. 53
Bela Tsipuria • Verwandlung, Europäisierung und Karnevalität von Solomon Isakitsch und Tiflis / S. 65
Matthias Buth • Lemberg ist Poesie – wie alle Heimat . Zum Tod von Adam Zagajewski / S. 79
Matthias Buth •Auf dem Rückweg vom Tod . In Deutschlands Sprache . In Memoriam SAID / S. 83
Herwig Haupt • Zwölf Gedichte / S. 89
Herwig Haupt • Das Märchen vom Nixenstein . Prosa / S. 104
Ulrich Bergmann • In memoriam Herwig Haupt / S. 119
Christine Kappe • Irene Klaffke, bildende Künstlerin, 1945 – 2021 – ein Nachruf in Briefform / S. 123
Rainer Wedler • Die Versuche des Rudolph Anton R. . Auszug / S. 127
Barbara Zeizinger • Herzwurzeln / S. 145

Zeitgeschichte
Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen?
Hans Todt • Ich kam aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Cherbourg und stand ohne alles da / S. 157

Atelier
Silvia Schreiber • Du siehst mich nicht . Prosa / S. 160

Bücherregal
Christel Wollmann-Fiedler • Die Reise des Wasserzeichens / S. 177
Wolfgang Schlott • Dato Turaschwili, Das andere Amsterdam / S. 179
Tania Gensfett • Die dämmernde außerterrestrische Leiter ins All . Gedichte von Ágnes Nemes Nagy (1922-1991) / S. 181
Uli Rothfuss • Kultur und Freiheit . Ein Buch von Roland Bernecker
und Ronald Grätz (Hg.) / S. 185
Matthias Buth • Der Worterheller aus Rumänien . Gott weiß mich hier. Radu Carp im Gespräch mit Eginald Schlattner / S. 187
Matthias Buth • Ännchen singt weiter, nicht nur in Königsberg . Klaus Ferentschik, Kalininberg & Königsgrad: Große Miniaturen / S. 191
Katharina Kilzer • Am Ende des Tunnels Licht – Tamara Labas’ Gedichtband Durst der Krieger – Liebesgedichte / S. 194
Stefanie Golisch • Es geht immer weiter. Zu Dato Barbakadses Und so weiter. Sieben Haiku-Kränze / S. 197
Dieter Mettler • Rainer Wedler, Die Versuche des Rudolph Anton R. / S. 199

MATRIX 1/2021 (63)

MATRIX 1/2021 (63)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Die Tage werden länger, trotz des Virus, trotz allem, was vor, auf den Treppen und im Parlamentsgebäude „der größten Demokratie, die der Planet seit seiner Existenz kennt“, passiert ist. Ja, nur wenige hätten gedacht, dass die Demokratie solch ein Kleid zur Schau tragen kann.
Ich, der vor 32 Jahren die Chance bekommen hat, eine Demokratie auf der eigenen Haut zu spüren, bin dankbar für die Geschenke, die mir das Land gemacht hat, wo einige Vorfahren der Mutter meiner Kinder geboren wurden – selbst wenn ich immer wieder erzählen muss, woher ich komme, selbst wenn einige Gutmenschen unermüdlich versuchen, mich für die Taten mancher ehemaliger „Landsleute“, mit denen ich nie zu tun gehabt habe, verantwortlich zu machen. Ich muss Glück in diesem Land gehabt haben, von dem ich – wie viele andere heutzutage noch – dachte, dass auf der Straße Milch und Honig fließen.
Doch nach dem, was ich vor Kurzem im Fernsehen gesehen habe, muss ich zugeben: Die Demokratie, von der ich träumte, fließt leider auch nicht auf der Straße.
Die Intoleranz, die jede Meinung unterdrückt, die nicht mit der eigenen übereinstimmt – dieses „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, das mich vor mehr als 30 Jahren zum Exil verurteilt hat –, erschreckt mich heute genauso wie damals. Egal ob es in der Sprache des Landes, das mich aufgenommen hat, oder in der Sprache „der größten Demokratie, die der Planet seit seiner Existenz kennt“, geäußert wird.
Nicht nur die Bilder, die vor, auf den Treppen und im Parlamentsgebäude „der größten Demokratie, die der Planet seit seiner Existenz kennt“, gedreht wurden, erschrecken mich, sondern vor allem die Versammlung unterschiedlicher Strömungen, in denen keiner einen anderen Standpunkt tolerieren und jede Gruppierung ihre eigene „Wahrheit“ durchsetzen will, koste es, was es wolle.
Die in den Universitäten geborene politische Korrektheit, die gerade von jenen, die noch nie eine Universität von innen gesehen haben, mit Beschlag belegt wurde, ist zu Exzessen eskaliert, von denen manch ein gefürchteter Diktator nur träumen konnte. Initiativen, die zunächst unbestreitbare Ungerechtigkeiten zu parieren versuchten, haben noch mehr Ungerechtigkeiten produziert. Es wird eine einzige Wahrheit reklamiert, an die niemand rühren darf, und diejenigen, die andere Meinungen vertreten, werden eingeschüchtert, ausgegrenzt, wenn nicht ausgeschlossen. Der ursprünglich gerechtfertigte Widerstand gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie, Fremdenfeindlichkeit und andere Ausgrenzungen hat sich zur Hexenjagd entwickelt. Die Idee der Vielfalt hat es geschafft zu teilen, statt zu vereinen! Die Plattform Cancel Culture ging so weit, sogar ein Verbot von Shakespeare zu fordern, weil seine Schriften „farbigen Studenten gegenüber feindlich“ seien, um nur ein Beispiel zu nennen. Leuchttürme der universellen Kultur wurden plötzlich zur persona non grata, weil sie das Pech hatten, männlich und – was für eine Unverschämtheit! – weiß zu sein. Gerechte Bewegungen, die friedlich begannen, etwa Black Lives Matter, mündeten in Gewalt. Auch die Wortwahl sollte in der freien Welt eingeschränkt und Wörter wie „Mutter“, „Vater“, „Bruder“, „Schwester“ aus dem Wortschatz gestrichen werden, um die Sensibilität derer nicht zu verletzen, die sich in ihnen nicht erkennen: die Diktatur des Neutrums. Und was ist dann mit denen, die sich in den verbotenen Wörtern erkennen? Das hört sich genauso an wie zu jenen Zeiten, die ich nie wieder erleben wollte. Ich hätte nicht gedacht, die finsteren stalinistischen Ideen nach Jahren in der freien Welt wieder anzutreffen! Ich hatte vielmehr gedacht, das Paradies auf Erden entdeckt zu haben. Und nun frage ich mich, wer oder was niedergerissen wird. Die Freiheitsstatue selbst? Und von wem? Von Linksextremisten, von Rechtsextremisten? Von ihren vereinten Kräften?
„Nachrichten zu verfolgen ist wie ein gute Portion Gift zu schlucken“, das sage ich immer öfter. Wem nützt es, zu wiederholen, was jeder in den neuesten Nachrichten gesehen hat? Wem hilft es, wenn ich mitteile, wie ich mich fühle? Wer versteht diese allgemeine Kakophonie? Welche Handlungen sind notwendig und gerecht, welche destruktiv und absurd?
Allerdings ist mir bewusst, dass es im Laufe der Geschichte schon immer Hass, Korruption und Gewalt gegeben hat; genauso wie die Tatsache, dass trotz unbeschreiblicher Spannungen und Feindseligkeiten das Leben weitergegangen ist. Sollte das die Lehre aus der Geschichte sein? Tun wir weiterhin so, als würde das alles nicht passieren?
Um keine voreilige Antwort zu geben, schlage ich zunächst vor, unter den Nachrichten des Tages auch etwas Erfreuliches zu suchen. Und wenn da nichts zu finden ist, suchen Sie bitte in sich selbst: etwas, von dem Sie sicher sind, dass es existiert – sogar in diesen verrückten Zeiten, in denen wir vor allem Antworten auf Fragen wollen, auf die wir keine Antworten bekommen können. Ich habe jedoch das Gefühl, dass trotz der verstörenden Situation des Augenblicks und im Gegensatz dazu dieses „wunderbare Ding“ neben uns ist, vielleicht in uns, aber das Problem besteht darin, dass wir uns zu weit davon entfernt haben, um es wahrzunehmen …
Ich habe es probiert. Ich, der nicht geglaubt hat, dass in der Demokratie ein Gabelstaplerfahrer besser lebt als ein Ingenieur in der Diktatur. Ich, der nie gedacht hätte, ein Editorial in einer anderen Sprache als meiner Muttersprache zu schreiben und Autoren in einer Sprache zu veröffentlichen, die ich erst als Erwachsener lernen musste. Ich habe es probiert und probiere weiterhin, mir beizubringen, meine „wunderbare Seite“ zu entdecken und sie Ihnen zu schenken. Denn ohne Sie hat meine „wunderbare Seite“ keinen Sinn. Ich selbst habe nur dank der vielen „guten Seiten“ überlebt, die ich bisher geschenkt bekommen habe. Eine davon ist der glückliche Zufall, dass ich einen Autor kennengelernt habe, der vor einigen Tagen siebzig geworden ist.

Eigentlich wollte ich ein Editorial schreiben, in dem ich nichts und niemanden kritisiere, sondern unserem Geburtstagskind , dem Schriftsteller Johann Lippet, gratuliere. Vor allem weil ich ihn bewundere, wie er es geschafft hat, (s)eine Ecke der Welt voller eigener Gedanken und Erinnerungen zu leben und zu verewigen und gleichzeitig uns, seine Leser, zu glücklichen Teilhabern zu machen. Danke, lieber Johann Lippet, für dein Stück Welt, aus dem die Einfachheit und die Natürlichkeit noch nicht verschwunden sind.
„Im Gesamtwerk des Schriftstellers blieben das Banat und das Schicksal seiner Menschen bis zum jüngsten Buch („Franz, Franzi, Francisc“, Romanfragment) ein Leitthema.“ So Luzian Geier über den gefeierten Schriftsteller-Chronisten der Banater Gemeinschaft.
„Johann Lippet“, schreibt Horst Samson, „ist der Chronist des Alltagslebens der Banater Schwaben in der Banater Heide. Sein genauer und kenntnisreicher Blick auf diesen Landstrich, auf die Dörfer und Menschen, ihren Alltag und ihre Erlebnisse in geschichtsträchtigen Vernetzungen mit und in ihren dörflichen Gemeinschaften werden virtuos und im sprachlich authentischen Kolorit erzählt, dokumentarisch verlässlich beschrieben und exemplarisch am Beispiel seiner Heimatgemeinde Wiseschdia literarisch reizvoll verortet.“
Theo Breuer erkennt in Johann Lippets Banat-Büchern literarische Werke, „die verloren gegangener H∙e∙i∙m∙a∙t ein Denk-, Ehren-, Mahnmal setzen“, und hebt die fundamentale Bedeutung „des letzten Satzes des 789 Seiten umfassenden Buchs mit dem bezeichnenden Titel Dorfchronik, ein Roman hervor: Im Grunde genommen erscheint uns jetzt die Wirklichkeit, von der wir erzählt haben, sowieso nur noch als Fundgrube für Fiktion.“
„ich, johann lippet, bin nur indirekt aus dem banat“, schrieb der Autor in der 1980 in Rumänien veröffentlichten und sehr geschätzten biographie. ein muster. Lesen Sie ab Seite 17 einen Auszug daraus, der erstmals in Deutschland erscheint:
„Und weiter: Ich kehre immer wieder zurück. Wie der Täter an den Tatort. Der Vergleich hinkt, ich weiß, es fühlt sich aber so an. (…)
Und ich erinnere mich an Wintermorgen. Wir Kinder liegen bei geöffnetem Fenster in den Betten im hinteren Zimmer, die Tuchent bis unters Kinn gezogen, und wenn dann Mutter, die von der Küche aus den dicken Ofen im Zimmer angeschürt hat, das Fenster wieder schließt, ist die wohlige Wärme, die der Ofen ausstrahlt, regelrecht zu riechen.
Allein schon wegen dieser unvergleichlichen Wärme und dem damit verbundenen Gefühl von Geborgenheit werde ich immer wieder zurückkehren.“
Die „Phantome der Erinnerung“, die sich zwischen diesen zwei Aussagen Johann Lippets bewegen, können Sie auch als Premiere ab Seite 33 lesen. Um ein umfassenderes Bild von seinem Werk zu bekommen, haben wir für Sie einige seiner Gedichte ausgewählt, die in den 70er- und 80er-Jahren in Rumänien entstanden sind. Horst Samson, dem wir nicht nur diese Auswahl, sondern auch die meisten Fotografien dieser Ausgabe verdanken, widmet dem Zelebrierten eines seiner letzten Gedichte.

Selbstverständlich fanden wir, dass eine Ausgabe, die dem „Chronisten des Alltagslebens der Banater Schwaben“ gewidmet ist, mit einem der besten Texte eröffnet werden soll, die der Autor dieses Editorials je über das Banat gelesen hat: dem Gedicht „Banater Elegie“ von Johann Lippets „Aktionsgruppe“-Kollegen und Freund Richard Wagner.

Als ich weiter oben versucht habe, Ihnen den Schwerpunkt dieser Ausgabe vorzustellen, wagte ich die Aussage: „Nachrichten zu verfolgen ist wie ein gute Portion Gift zu schlucken.“ Nun muss ich allerdings zurückrudern: Das trifft nicht immer zu. Mindestens ein Wunder ist in letzter Zeit geschehen: Es gibt viel früher als gehofft die Impfung! Die Impfung, die nach Maskulinum oder Neutrum klingt und tatsächlich so weiblich ist, verspricht, uns allen zu helfen. Ist das nicht wunderbar? Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen, aber ich brauchte so eine Nachricht.

Nun kann ich ruhig weitermachen, um unsere Ausgabe fertigzubekommen. MATRIX stellt Ihnen auch Gedichte von Amiran Swimonischwili (Paco) im Original (georgisch) und in deutscher Übertragung vor sowie Erinnerungen an seine Seltsamkeit, an seine herausragende Originalität, die in keiner Weise in Verbindung zu seinem Dichten stand.
Klaus Martens präsentiert diesmal nicht nur einige seiner neuesten Gedichte, sondern eröffnet auch unsere Recherche „Was wurde uns allen als Bürde mit auf den Weg gegeben? Wie viel davon wollen und können wir tragen?“ Auf ihn folgt Wendel Schäfer, der empfiehlt, dass wir uns kein Buch verbieten lassen.
Über Robert Musil und seinen Mann ohne Eigenschaften trauen sich nicht sehr viele Leser zu sprechen. Ulrich Bergmann tut es, und zwar im Sinne des Romans, was heißt, dass in seinem Essay noch viele Türchen offen bleiben, trotz der respektablen Länge.
Benedikt Dyrlich zeigt uns eine Facette Roms aus dem Jahr 1983, geträumt durch das DDR-Fenster und gesehen durch die DDR-Sonnenbrille.
Und Edith Ottschofski nimmt uns mit in die Berliner S-Bahn, während sie Gedichte schreibt.
Die Rezensenten haben diesmal weniger Platz zur Verfügung. Ihre Leseeindrücke teilen Barbara Zeizinger, Uli Rothfuss und Matthias Buth mit.
Vielen Dank auch an Literaturport.de, wo unsere Zeitschrift aufgenommen wurde. Es war nicht einfach und ich hoffe, dass die Freude nicht nur unsererseits ist, sondern auch seitens derer, die das Portal verwalten oder sich dort informieren. Dieser Erfolg ehrt und verpflichtet uns gleichzeitig. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben nur zu gewinnen.

Ihr Traian Pop

• Richard Wagner • Luzian Geier • Johann Lippet • Horst Samson • Amiran Swimonischwili (Pako) • Beka Kurchuli • Klaus Martens • Wendel Schäfer • Ulrich Bergmann  • Edith Ottschofski • Barbara Zeizinger • Uli Rothfuss • Matthias Buth •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S.3

Die Welt und ihre Dichter
Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Richard Wagner • Banater Elegie / S. 9
biographie. ein muster • Johann Lippet zum 70.ten
Luzian Geier • Schriftsteller-Chronist seiner Banater Gemeinschaft . Der Autor Johann Lippet wurde 70 / S. 13
Johann Lippet • biographie. ein muster . ein Banater Schwaben-Epos aus den 80er jahre / S. 17
Johann Lippet • Phantome der Erinnerung / S. 33
Horst Samson • Allegorie . Ein Gedicht für Johann Lippet / S. 86
Johann Lippet • Frühe Gedichte . Die 70er und 80er Jahre in Rumänien. . Eine Text-Auswahl von Horst Samson / S. 89
Amiran Swimonischwili (Pako) • Fünf Gedichte in Original (georgisch) und in deutscher Übertragung / S. 122
Beka Kurchuli • Pako . Erinnerungen eines Freundes / S. 133
Klaus Martens • Fünfzehn Gedichte / S. 139

Zeitgeschichte
Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen?
Traian Pop • Ich wage es… / S. 154
Klaus Martens • (Er) hatte die Wahl zwischen den Kommunisten und den Nazis gehabt. Letztere hatten wohl die schickeren Mützen. / S. 155
Wendel Schäfer • Lasst euch kein Buch verbieten / S. 161
Ulrich Bergmann • Der Mann ohne Eigenschaften – eine Utopie?/ S. 163
Benedikt Dyrlich • Mein Italien 1983 / S. 185

Atelier
Edith Ottschofski • saumselige annäherung . Acht U-Bahn gedichte. / S. 199
Bücherregal
Barbara Zeizinger • Andreas Kossert, Flucht. Eine Menschheitsgeschichte / S. 206
Uli Rothfuss • Harald Gröhler, Frischer Schnee / S. 209
Matthias Buth • Jürgen Brôcan, Ritzelwellen / S. 211

 

MATRIX 3/2020 (61)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Es war noch Sommer und die Dürre versuchte, die Vorhersagen von Umweltaktivisten zu widerlegen, die gemunkelt hatten, dass das Abstellen der Motoren, insbesondere was die Zivilluftfahrt betreffe, der ganzen Welt zeigen werde, wie gut es sei, auf das zu verzichten, was man nicht unbedingt brauche.
Mein ursprünglicher Plan war es, hier ein Gedicht von Peter Frömmig zu veröffentlichen. Aber Louise Glück, eine Dichterin, die unsere Übersetzerin Stefanie Golisch bereits vor einigen Jahren als eine der bestbewerteten Autorinnen in Übersee unter den „gut bewerteten“ vorgestellt hatte, eine Dichterin, die allerdings kein Redaktionsmitglied als Kandidatin für die begehrteste literarische Trophäe der Welt gesehen hatte, hielt Stefanie hartnäckig ein Sommergedicht unter die Augen. Versuche, es abzulehnen, gerade jetzt, wenn Louises Name in aller Munde ist?
Das hat eine andere Kandidatin für die Anführung des Autorenzuges, Catherine (Kitty) O’Meara, nicht daran gehindert, eine Pandemie-Granate in den Kopf des Dichters Horst Samson zu platzieren, sodass er nicht schlafen konnte, bis er den Text ins Deutsche übersetzt hatte.

Die gesamte Redaktion geht zu Boden, gerade als Mia Lecomte uns mit ihrer leisen Stimme unbedingt erzählen will, dass ihr Großvater für immer an seiner La petite klebte.
Ich krieche auf das Handy zu, das mir die Explosion von Kittys Granate aus der Hand gerissen hat: Dichterin bin ich / auch wenn die Träne gefriert / die Wolke zerbricht / der Hai mich anfällt, schreibt Anna Santoliquido gerade, und ich lese ihre Zeilen trotz der halben Worte, die immer noch in der Luft tanzen.
Wenn ich könnte, würde ich unter dem Schreibtisch Schutz suchen, wie bei einem Erdbeben in Japan gesehen. Aber ich kann nicht, ich habe alles unter den Schreibtisch gestopft, was nicht in die Regale passt, die die Wände füllen, also stecke ich meinen Kopf in einen Stapel ungeöffneter Briefe. Und möchte Kitty schelten für die Idee, ihre Granate gerade in unsere Redaktion zu werfen, als mir jemand ins Ohr flüstert: „Hör auf mit dem Blödsinn, diese Granate tut anderen weh und nicht dir!“

Auf einmal Ruhe: Stefanie unterhält sich mit Louise, Horst gibt es auf, einen Kommentar auf Facebook zu veröffentlichen, der Kittys Fans erneut schrecklich irritieren würde.
Ich hätte nie gedacht, dass Friedenssicherung sich so schwierig anlassen könnte, aber in unserer Redaktion folgt nicht einmal eine konventionelle Ausgabe des Magazins klaren Parametern, geschweige denn eine, die auf Messers Schneide zustande gekommen ist, während der unsichtbare Feind jeden Beteiligten aus dem Nichts anspringen kann. Und am Ende versuchen die Mitglieder des Redaktionsrats, die Redakteure, Lektoren, Korrektoren und externen Mitarbeiter aufzuräumen, als ob es möglich wäre, jemals Ordnung in dieses Chaos zu bringen.
Diesmal haben wir Glück gehabt, der Angriff hat nicht länger als drei Minuten gedauert und nach einer knappen Viertelstunde ist kein verdächtiges Geräusch mehr zu hören. Aber wir können uns nicht an die Arbeit machen: Rainer, unser klarer Kopf, hat die Bewertung des Schadens noch nicht abgeschlossen. In letzter Zeit braucht er dafür länger, ein Jüngerer und Toleranterer sollte gefunden werden, um ihm zu helfen – aber woher soll der kommen, woher so viel Jugend, woher so viel Toleranz? Er berichtet schließlich, dass drei oder vier Manuskripte zerstört wurden, dass aber – wie durch ein Wunder – kein Autor tödlich verletzt wurde.

Die Hose eines der Praktikanten ist vorne nass. Niemand hat den Vorfall bemerkt, bis Radu Carp Eginald Schlattner nach seiner ersten Begegnung mit der orthodoxen Kirche fragt. Der Praktikant allerdings schwört, dass seine Kaffeetasse übergeschwappt ist, doch niemand verliert ein Wort darüber. Vor drei Jahren hat der Zufall die Wege des siebenbürgisch-deutschen Romanschriftstellers Eginald Schlattner und des rumänischen Politikwissenschaftlers Radu Carp gekreuzt – eine Begegnung, aus der ein Interviewband hervorging, das 2018 zunächst in Bukarest auf Rumänisch veröffentlicht wurde und nun auch übertragen vorliegt – trotz aller Vorbehalte des Autors, dessen Muttersprache selbstverständlich Deutsch ist und dem es abwegig erschien, quasi „rückübersetzt“ zu werden.
Es herrscht Stille, die folgenden ernsten Literaturpassagen bringen die Jammernden zum Schweigen. Endlich.

„Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren“, schreibt Iris Wolff, laut Denis Scheck „eine Autorin mit einem traumsicheren Sprachgefühl“.

Kurz vor seinem Tod im März 2019 hat der Dichter, Romanautor, Essayist und Übersetzer Dieter Schlesak seine analogen wie digitalen Manuskriptordner durchgesehen, also „Lyrikarchäologie“ betrieben, und einen Band mit Gedichten und Gedanken zusammengestellt, der eine ebenso bezeichnende wie bewegende Auswahl seines literarischen Schaffens bietet. Paul Celan, einer seiner wichtigen Wegbegleiter, durfte natürlich nicht fehlen.

Genauso wie im Fall von Theo Breuer und Horst Samson. Auch von diesen beiden Autoren haben wir einige Texte für Sie ausgewählt, um Paul Celans 100. Geburtstag zu feiern.

Finden und gefunden werden, Matthias Buths poetischer Nachruf auf Axel Vieregg, findet seinen Platz vor Eva Bergs neuesten Gedichten.

Über Neuerscheinungen sowie Berichte aus der Kulturszene gibt es diesmal keinen Streit: Widmar Puhl, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss, Mathias Buth und Peter von Mallinckrodt kommen gut miteinander aus.

Hans Lindemann findet nichts Besseres zu tun, als unsichtbar zu werden und es uns zu überlassen, sein literarisches Werk zu entdecken. Klar, wir werden es tun. Vielleicht schon in der nächsten Ausgabe.

Ich schleiche mich leise in die Küche, um mir einen grünen Tee zu machen. Auf dem Weg lasse ich noch einmal das Video mit Hinweisen zum Ausfüllen der Formulare für eine Verlagsförderung durch meinen Kopf laufen. Und den extravaganten Wortlaut meiner Bewerbung sowie die nicht weniger extravagante Chance, die mir das Leben gegeben hat: mit Literatur zu tun zu haben in einem Land, dessen Sprache ich vor ein paar Jahren noch nicht kannte. Meine Hand zitterte, als ich auf Senden ging.
„Was für eine lustige Bewerbung du gemacht hast, es sieht so aus, als ob du zu jenen Mistkerlen zählst, die nicht viel sagen, aber tun. Schade, es war eine gute Sache …“ Mein Kollege lächelt mich an, als er mir das kochende Wasser wegschnappt und auf seinem überdimensionierten Handy eine E-Mail vor die Augen hält: Alle Förderungen seien gestoppt worden.
„Stimmt nicht“, sage ich ihm, „ich glaube, ich wünschte damals, mein Laptop würde hängen bleiben, als ich die Sendetaste drückte.“
„Doch, stimmt, du bist so einer“, antwortet er, „auch wenn dies das schlechteste Editorial ist, das jemals geschrieben wurde.“

Liebe Leserinnen und Leser, ich habe nichts anderes gemacht, als einen Arbeitstag der Redaktion zu beschreiben, wie ich ihn erlebe. Ob Sie es glauben oder nicht, ist eine andere Geschichte. Um ehrlich zu sein, ist es nicht wichtig, wie unsere Redaktion in Corona-Zeiten arbeitet – allein das Ergebnis zählt. Und diese Ausgabe kann sich meiner Meinung nach sehen lassen.
Viel Freude beim Entdecken wünscht Ihnen
Traian Pop

• Eginald Schlattner • „Gott weiß mich hier“ •  Dieter Schlesak • 100 Jahre Paul Celan • Theo Breuer • Horst Samson • Louise Glück • Iris Wolff • Catherine (Kitty) O’Meara • Eva-Maria Berg • Mia Lecomte • Anna Santoliquido • Matthias Buth • Uli Rothfuss • Peter von Mallinckrodt • Ulrich Bergmann • Traian Pop • Widmar Puhl • Wolfgang Schlott • 

Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für den Herbst
Louise Glück • The Myth of Innocence . Der Mythos der Unschuld / S. 7

Catherine (Kitty) O’Meara • And (the) people stayed home . Und die leute blieben zu hause / S. 12
Horst Samson • Ein Gedicht geht um die Welt / S. 14
Mia Lecomte • Weniger als die Hälfte . Sei poesie / Sechs Gedichte in der Übertragung von Barbara Pumhösel und Eva Taylor / S. 18
Anna Santoliquido • Sieben Gedichte / S. 30
„Gott weiß mich hier“ • Radu Carp im Gespräch mit Eginald Schlattner / S. 42
Iris Wolff • Die Unschärfe der Welt / S. 57

100 Jahre Paul Celan
Dieter Schlesak • Absenz Und Nie. Das Ebenbildliche nach Auschwitz. Am Rand / S. 69
Theo Breuer • nicht weniger nicht mehr / S. 99
Horst Samson • „In den Lüften liegt man nicht eng“ . Anmerkungen zur unauflösbaren Tragik des Dichters Paul Celan (1920 – 1970) / S. 113
Horst Samson • Sieben Paul Celan zugeeignete Gedichte / S. 136

Matthias Buth • Finden und gefunden werden . Axel Vieregg: Wortsucher / S. 145
Eva-Maria Berg • Acht Gedichte / S. 161

Bücherregal
Widmar Puhl • Kompakte Wucht der Sprache. Gedichte von Dato Barbakadse / S. 169
Widmar Puhl • Ich bin viele. Frauenstimmen aus Georgien / S. 176
Wolfgang Schlott • Matthias Buth . Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer / S. 179
Wolfgang Schlott • Sigrid Katharina Eismann . Das Paprikaraumschiff / S. 201
Uli Rothfuss • Mathias Enard . Kompass / S. 184
Uli Rothfuss • Martin Walser . Mädchenleben oder Die Heiligsprechung / S. 186
Matthias Buth • Iris Wolff . Die Unschärfe der Welt / S. 188
Matthias Buth • Ernst Kerneck . Die drei Mäntel des Anton K. – The Three Overcoats of Anton K. / S. 191
Peter von Mallinckrodt • Gisela Hemau, Auf der Rückseite der Augen / S. 194
Ulrich Bergmann • Ines Hagemeier, Dichtungsringerin / S. 198

Aus der Kulturszene
Widmar Puhl • Verlorener Komponist & Teufelsgeiger, weiblich . Das erste Konzert des SWR Symphonie Orchesters nach sieben (7) Monaten in der Stuttgarter Liederhallle / S. 201
Wolfgang Schlott • Nachruf auf seinen Pressereferenten und spiritus rector Hans Lindemann / S. 204

MATRIX 2/2020 (60)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Liebe Leser,

überlegen Sie einmal kurz, welche Themen Sie ansprechen würden, wenn Sie dieses Editorial zu schreiben hätten. Gerade jetzt, wenn alle Editorials vom Corona-Virus infiziert sind und der Gedanke, eine MATRIX-Ausgabe auf den Markt zu bringen, die eigentlich im Frühling erscheinen und über die Leipziger Buchmesse berichten sollte, zumindest absurd, wenn nicht sinnlos zu sein scheint? Und wen wollten, wen könnten wir mit dieser Ausgabe, die nur höchst peripher mit der Pandemie zu tun hat, erreichen: ein betroffenes, ein nicht betroffenes Publikum?

Dieses Editorial zu schreiben fällt mir alles andere als leicht. Vielleicht hätte ich es früher angehen und erst richtig gären lassen sollen, statt es bis zur Deadline hinauszuschieben und es nun so zu verfassen, als ginge die Sonne morgen nicht mehr auf.

Ich hätte jede Silbe wiegen können, bis sie zu Tränen gerührt worden wäre. Und es selbst dann nicht ohne Zögern gewagt, sie in die Welt treten zu lassen.

Ich hätte Sie, liebe Leser, an meinen Schreibtisch eingeladen, ohne die sich stapelnden Papiere aufzuräumen oder die Tee- und Kaffeeflecken wegzuwischen. Ich hätte Sie über meine Schulter schauen lassen im Vertrauen darauf, dass sich Ihnen genau das einprägen würde, was dann der ersten Korrektur zum Opfer gefallen wäre. Und hätte Tee und Kaffee geschlürft und die Tastatur bespritzt, ohne mich darum zu kümmern, dass es keinen guten Eindruck machte.

Ich hätte mir die Zeit genommen, um zu erfahren, was mein Vater, was meine Mutter, was mein Bruder, was meine Frau, was meine Kinder, was mein Nachbar oder was der Angestellte an der Theke mir berichten könnten. Ich hätte geweint und gelacht über das, was ihnen passiert war, und nicht über das, was ich gelesen oder mir vorgestellt hatte. Und hätte Kleinigkeiten ignoriert.

Ich hätte mich nicht um diejenigen gekümmert, die ich nicht mag, geschweige denn um ihre Meinung. Und hätte mich den Händen derjenigen anvertraut, die mich so akzeptieren, wie ich bin, und mir helfen, jeden Tag, den ich älter werde und immer heftiger mit mir selbst hadere, zu bestehen – mit all meiner Hilflosigkeit und Verzweiflung, mit all dem Wahnsinn, den ich erlebt oder mir vorgestellt habe, und mit all meinen Romanen und Gedichten, die sich noch in der Projektphase befinden. Ach, meine Lieben, wenn ich dieses Editorial noch einmal schreiben könnte, hätte ich es erst getan, nachdem ich mich um euch gekümmert hätte.

Ich hätte mich nicht gefragt, warum gerade ich mich zum Beispiel mit dem Buch eines Autors befassen muss, der damit höchstwahrscheinlich deshalb zu mir kommt, weil niemand sonst es angenommen hat. Dessen Gedichtband zwar gewaltig ist, aber kein bekannter Kolumnist oder Kritiker sich die Mühe machen wird, darüber zu schreiben, weil jeder, absolut jeder weiß, wie gering die Chancen sind, dass Bücher besprochen werden, die von einem No-Name-Autor in einem No-Name-Verlag veröffentlicht wurden – und seien sie noch so bemerkenswert. Ein Autor allerdings, der sich selbstverständlich die erste Gelegenheit nicht entgehen lassen wird, zu einem namhaften Verlag zu wechseln, selbst wenn der ihn jahrelang ignoriert hat.

Ich hätte mich nicht gefragt, warum gerade ich mich etwa auch mit einem Autor auseinandersetzen muss, der nichts über das Programm des Verlags weiß. Oder einem, der weder mit dem Programm noch der Buchgestaltung einverstanden ist und darauf besteht, alles auf den Kopf zu stellen. Oder einem, der nichts von einem Vertrag hören will. Oder …

Sie sehen, dass ich dieses Editorial nicht noch einmal schreiben möchte, obwohl es bisher nichts mit dem Inhalt dieser Ausgabe zu tun hat. Als ob ich nicht ganz bei der Sache wäre. Aber ich bin wohl kein ausgewiesener „Editorial-Verfasser“.

„ (…) wüsche die wände in unschuld ( wär reif für den pinsel ) / ließe die stele traumeln und die füllen fallen / hielte den hund – und die toren steif / wüßte was müßte und wie mir geschähe : / schlüge die zeit rot ogottogott und / drei fliegen ( mit meiner klappe ) / ginge euch auf den leim und den keks“ (…). Theo Breuer schenkte uns ein Frühlingsgedicht. Dass es erst jetzt gedruckt wird, scheint gerade passend für die Absurdität dieser Zeiten.

Aus seinem neuesten literarischen Schaffen steuerte Klaus Martens einige Gedichte bei, die unsere Galerie „Die Welt und ihre Dichter“ eröffnen. Es folgen lyrische Texte von John Edward Williams – Dichter, Romancier und Gründer der renommierten Literaturzeitschrift Denver Quarterly –, die Ulrich Bergmann übersetzt hat.

„Bemerkenswerte Literatur verspricht keine Lösungen, sondern zeigt Verhältnisse und Verstrickungen auf, fasst den Geist ihrer Zeit, ohne im Gewand des Zeitgeistigen aufzutreten. Auch wenn es wohl bis auf weiteres nur wenige bemerken werden, Schäfers Kurzprosa zählt zu dieser Literatur. Und – Schäfers Prosa eignet ein Alleinstellungsmerkmal.“ So Klaus Wiegerling über Wendel Schäfer. „Lasst euch kein Buch verbieten“, mahnte der Autor, der gerade 80 geworden ist, als wir ihn nach einer Empfehlung für unsere jungen Leser gefragt haben. Alles Gute zum neuen Lebensjahr von der MATRIX-Redaktion, lieber Herr Schäfer! Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind herzlich eingeladen zu einem kleinen Geburtstagsempfang mit neueren und älteren Texten unseres Gefeierten. Die Festrede wird natürlich von Klaus Wiegerling, einem der besten Kenner von Schäfers Werk, gehalten. Und ich nutze hier die Gelegenheit, Ihnen noch seinen kürzlich erschienenen Band Freigang der Käuze. Von Schelmen, Tröpfen, schrägen Vögeln ans Herz zu legen.

„George Enescu fließt über Trompete und Flügel in Rumäniens innerste Mitte und stirbt und stirbt und stirbt und stirbt nicht“, schreibt der Dichter Matthias Buth und feiert unter anderem „eine Donau, die sich zu weigern scheint, Europa zu verlassen: ,Nein sie will nicht / Sie macht sich flach / […] Sie ist nun hier und will doch bleiben / Sie hat ihr Fließen zurückgenommen / Auf zehn Zentimeter in der Sekunde / So als könne sie auf der Stelle fließen / […] Wo sich doch noch einmal alles umkehren sollte / Dort‘.“ Markus Bauer entdeckt aufmerksam und inspiriert einige Facetten des Werkes von Matthias Buth in seinem Essay „Ich baue mit geliehenen Worten Häuser, die fliegen“.

Das Redaktionsteam begrüßt Sabina Kienlechner, deren Flug des Erzengels Michael über Europa nach Italien führt: „Falls Sie jemals nach Mattinata kommen sollten, so besuchen Sie unbedingt die Apotheke des Dottor Sansone. Sein ,kleines Museum der Geschichte‘, wie er es nennt, ist das weiseste und richtigste der ganzen Welt: ein Haufen von Trümmern und Scherben.“

Josef Balazs’ Interview mit einer der letzten Dorfschreiberinnen von Katzendorf hebt an: „Sagt jemand, er wisse nicht, wo Katzendorf liege, outet er sich gleich als Nichtleser der großen deutschen Zeitungen – der FAZ, der ZEIT, der Neuen Zürcher Zeitung. Denn sie haben sich fast alle mit Katzendorf beschäftigt. Sogar Deutschlandfunk Kultur. Das will was heißen. Dieses Dorf muss ein außergewöhnliches Dorf sein.“ Ich weiß nicht, ob Dagmar Dusil angenommen hat, dass ihr Buch über Katzendorf ein Besteller wird. Aber ihre Texte voller Leben und Menschlichkeit sprechen dafür. Lesen Sie die Beiträge von und über Dagmar Dusil ab Seite 107.

Mittlerweile sei es „keineswegs mehr unvorstellbar, dass – wenn heute zu früher geworden ist – selbst die großen Verbrechen des letzten Jahrhunderts im Fundus des Brauchtums landen. / Es muss nur genug Zeit vergehen.“ Eindeutig: Die zwei Prosastücke von Wolfgang David tragen Die Last der Geschichte.

Die Last der Lebenden tragen nun wir, die Hinterbliebenen, wenn wir an unsere Kollegen und Freunde Theodor Vasilache („Nichts ist ganz neu unter der Sonne, / vielleicht nur die Augen, mit denen wir das Unheil betrachten, / und vielleicht / nicht einmal sie …“) und Friedrich-Wilhelm Steffen („die töchter poloniens hier an der straße / des namens ihrer hauptstadt mit Kopernikus gleich nebenan / und fragen mich oh verzeihung sind sie ein dichter“) erinnern. Mit einigen Fotos und Gedichten sowie Nachrufen von Kira Mantsu, Uli Rothfuss, Peter Küstermann und Marcus Neuert versuchen wir, uns den Abschied leichter zu machen.

Ein Junior-Professor und eine polnische Studentin, die sich an einem Nacktbadestrand zwei sehr unterschiedliche Geschichten aus der Vergangenheit und der Gegenwart erzählen: Anton Sterblings Sommerschule schließt den Kreis unserer jetzigen Runde durch die Welt der Dichter.

Für das Bücherregal haben unsere Rezensenten Matthias Buth, Wolfgang Schlott, Ulrich Bergmann und Uli Rothfuss Bücher von Peter Gehrisch, Horst Samson, Ilse Hehn, Doris Distelmaier-Haas, Nadine Schneider, Werner Streletz und Peter Handke ausgesucht. Ihre Bewertungen können Sie ab S. 183 lesen.

Und last not least trägt Widmar Puhl zwei Berichte aus der Kulturszene bei: Musik für die Ewigkeit und Corona ist für die Kultur der GAU.

Eine lebendige Lektüre wünscht Ihnen
Traian Pop

Zauberer des Wortes

Sie sind Zauberer des Wortes und einige von ihnen schon lange nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch über deren Grenzen hinaus bekannt. Einige sind – sonderbarerweise – im Ausland sogar bekannter und beliebter als zu Hause. Und einige warten noch darauf, entdeckt zu werden. Sie kommen alle aus Rumänien. Nicht nur, aber auch deswegen bieten wir ihren Werken so viel Platz wie möglich in unserer MATRIX, einer Veröffentlichung des – wie einer der eloquentesten Schriftsteller Rumäniens und gleichzeitig des deutschsprachigen Raumes bemerkt hat – „vielstimmigen Verlags POP, Inhaber Traian Pop, beheimatet in Rumänien, zu Hause in Deutschland“. Und hoffen, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wie viel noch zu entdeckende Literatur aus Rumänien versteckt sich in den Schubladen der Autoren, Übersetzer und Verlage, die mit diesem Land verbunden sind?
So viel darüber, was mir als Initiator dieses Projekts vor etwa drei Jahren durch den Kopf ging, als das Ganze sich noch in der Planungsphase befand. Inzwischen ist vieles passiert und die Leipziger Buchmesse, auf der Rumänien Gastland war, liegt schon einige Monate zurück, doch fertig sind wir mit unserem Vorhaben noch lange nicht. Und werden, wie es aussieht, nie damit fertig sein.

Alltag des Schreibens

Eginald Schlattner, ein im Dörfchen Rothberg bei Hermannstadt/Sibiu lebender siebenbürgischer Autor und evangelischer Pfarrer, dessen letztes Buch Wasserzeichen definitiv zu den besten Titeln des Jahres 2018 gehört, eröffnet unsere Gala. In einer „kurzen Darbietung“ zu Wasserzeichen schrieb er u. a.:
Doch nachdem es heißt, der Heilige Geist Gottes hat sein Wohlgefallen an gelungenen kulturellen Schöpfungen, sage ich: Gott befohlen.
Zu mir ein Wort: Für mich stand das vergangene Jahr unter dem Zeichen von „fallen“, war gezeichnet von „Missfällen“: Arbeitsunfall in der Kirche beim Friedensgebet. Und dann weiter: Nach dem Hinfall unselige Fälle und Vorfälle noch und noch. Auch ein Todesfall.
Nun also: Ausfälle, ja! Aber kein Wegfall: Jeden Sonntag halte ich Gottesdienst, allerdings vor den Menschenkindern aus den Lehmhütten beim Bach. Evangelische Deutsche sind wir noch vier Greise zu begraben. Selbst die Toten sterben aus.
Dazwischen wahrlich das Ganze metaphysisch überhöht von Glücksfällen.
Und wie wir es glauben wollen: Alles in allem kein Unfall! Sondern eine Kette von Fügungen. Denkbar auch als Weg Gottes da hinaus, um nachzudenken, was am Ende der Biografie als Sündenfall benannt werden sollte und vielleicht in letzter Stunde wiedergutgemacht werden kann. Über dem Portal meiner Kirche (1225) steht in Marmorlettern: „Weise mir, Herr, DEINEN Weg.“
Leider Rückfall vor einem Monat, unerträgliche Schmerzen. Es geschah eines Abends wie aus heiterem Himmel, wahrlich ein Überfall. Ich tappe neuerlich mit dem Gestell zwischen Bett, Bad, Büro meines Weges.
Traumziel bleibt, wieder mit dem flotten Krückstock, wie im Sommer, hochgestimmt dahinzuwallen, so z. B. von der Küche bis zur Kirche, unbegleitet!
Ansonsten beschirmt Tag und Nacht die Haustochter Carmen
Bianca Trandafir mit viel Lachen und in Liebe. Die sich vor sieben Jahren, spitalsreif geschlagen, aus der Lehmhütte vom Bach eines Nachts auf den Pfarrhof gerettet hat, wissend um die offene Tür hier. Ich sagte: „Bleib!“
Nach zwölf Jahren ist es so weit: Am 16. März 2018 um 17.30 Uhr stellt Frau Dr. Edith Konradt das Buch vor: „Wasserzeichen“. Leipziger Buchmesse, Stand Rumänien.
Es ist ein letztes Wort am Ende meiner Biografie. Das letzte Wort. Ob und wie es gehört wird?
Zwei Damen befinden, die den Inhalt am Stück kennen und jedes Teilstück dazu: „Die Fülle von springlebendigen Gestalten und oft haarsträubenden historischen Gegebenheiten verdichtet sich zum breiten Zeitgemälde.“ (Edith Konradt) „Langwierig, aber nicht langweilig. Und ,Wasserzeichen‘ kann den übrigen Büchern ‚das Wasser reichen‘.“ (Tamar Ambros)
Auf der Himmelsleiter der Geltungen, gewiss, wünsche ich meinen Büchern einen würdigen Platz. Aber auf den obersten Sprossen der Skala gilt für mich, den Geistlichen, als triftig ungleich anderes. Denn: Meiner Seele Seligkeit hängt nicht von den Büchern ab.
Wie einfach, klar und natürlich. Man versucht das Leben zu leben – egal ob es seine schöne oder weniger schöne Seite zeigt –, bewusst und froh, diese einmalige Chance nutzen zu dürfen.
Haben Sie bitte Verständnis für den Verfasser dieses Editorials, wenn er dem oben Gesagten kaum noch etwas hinzuzufügen hat. Was könnte ich Ihnen denn noch erzählen? Dass sich auch im Dasein eines Schriftstellers vieles um den normalen Alltag dreht? Selbst in Rumänien – wie überall, wo man (noch) schreibt und liest. Es geht – wie Sie den ausgewählten Textbeispielen entnehmen können – um nicht mehr und nicht weniger als um das Leben in dieser Ecke der Welt, das zu weiten Teilen anders war und ist, als man es sich im Westen in vielen klischeehaften Bildern vorstellt, nämlich keineswegs nur Dracula, Bettler, Ceauşescu, Securitate, leere Regale, Plattenbauten und Korruption. Meiner Meinung nach will Eginald Schlattner auf keinen Fall die Siebenbürger Sachsen, die Rumänen, die Ungarn, die Zigeuner – die sich übrigens in Rumänien selbst so nennen und nicht Roma – sowie alle, die dort gelebt haben oder immer noch leben, verteidigen oder verurteilen, er versucht nicht, sich oder andere reinzuwaschen, er lässt nur sein Leben – und alles, was dazugehört – in seine Prosa einfließen. Einfach so, aus Lust am Erzählen. Nicht weil er es so plant, sondern weil er nicht anders kann. Er ist kein gelernter, sondern ein geborener Schriftsteller. Einer mit einem eigenen Stern in der himmlischen Nomenklatur. Was nicht unbedingt heißt, dass er und sein Werk mit bedeutenden Literaturpreisen bedacht wurden. Denn das Gegenteil gehört leider auch zur unserer „Normalität“. Selbst wenn z. B. der Roman Rote Handschuhe, der Eginald Schlattners zwei Jahre Untersuchungshaft bei der Securitate in Stalinstadt (heute wieder Kronstadt/Braşov) thematisiert, unter den hundert besten in deutscher Sprache geschriebenen Büchern 1999–2001 figuriert (Goethe-Institut, Internationes). Übrigens wird eine der nächsten Ausgaben von MATRIX dem Werk und Wirken von Eginald Schlattner als Schwerpunktthema gewidmet sein.
Der „rumänische Teil“ dieser Ausgabe wird durch Lyrik unterstützt. Es signieren u. a.: Ana Blandiana (Die Einsamkeit ist eine Stadt, / in der die anderen gestorben sind – welch ein wunderbarer Einstieg in die Welt der Lyrikerin!), die junge Autorin Ana Donţu (mit tom&jerry konntest du alles tun), Dinu Flămând (frühmorgens das Schweigen der Nacht / am Fenster die Asche der Zeit), Ilse Hehn (Der Versuch, auf Füchsen zu reiten. // Nichts geht mehr bis aufs Blut, / die Pferde sind tot, es lebe der Gaucho, / die Pampa verloren an den Westen), Petru Ilieşu (Rumänien, / – Siehe da die Logik von der Immunität der Parlamentarier / siehe ein neues Handwerk rentabel und geschützt / das der Demokratie alle schmutzigen Spuren verwischt […] Rumänien, ein neuer Sieg! / Eine neue Diktatur der Opfer. / Ein Frieden! / Noch ein Frieden! / Ein … neuer Frieden!), Traian Pop Traian (der Augenblick der Liebe muss vor anderen geheimgehalten werden / denn die Gefahr mehr zu lieben als du verkraftest verzehnfacht sich / wenn alles öffentlich wird wenn der Zuschauer dich zu immer / höheren Leistungen zwingt ausgerechnet dich der du so konservativ veranlagt bist / dass du nicht einmal ihren Namen in Kleinbuchstaben schreiben würdest), Horst Samson (Also werde ich zappeln, werde zappeln / In der Hoffnung auch, dass der Mann am Schlegel / Mut und Weisheit genug haben wird, zu berichten, / Wie maßlos gering sein Verdienst war), Hellmut Seiler (Es geht also weiter. Immer weiter. / Die Wirklichkeit eine Strickleiter, / zur Kenntlichkeit verzerrt) und Robert Șerban, einer der erfolgreichsten (noch) Jungautoren aus der rumänischen Literaturszene (tatsächlich / erwarte ich nichts wenn / das Blatt Papier vor mir liegt / genauso wie ich auf einer Brücke / nichts anderes erwarte als dass sie mich hinüberbringt / oder entzweibricht).

Die Welt und ihre Dichter wird eingerahmt von einigen neu ins Deutsche übersetzten Gedichten von Wjaceslaw Kuprijanow. Und ein Essay von Klaus Martens – „Ich bin, der ich bin. Wer oder was schreibt wem? Einige Phänomene in der (zumeist) amerikanischen Lyrik“ – fliegt über den Atlantik zu uns, um die Reise durch die Welt abzurunden.
Die deutschen Autoren sind natürlich auch vertreten, diesmal durch Gedichte von Michael Hillen und Peter Gehrisch sowie Prosa von Marco Sagurna: ein Auszug aus dem Roman Werbia, ausgezeichnet mit dem „Prima Verba“-Debütpreis 2018 des POP-Verlags.

Wolfgang Schlott, Widmar Puhl, Matthias Hagedorn und Elisabeth Schawerda besprechen neu erschienene Bücher von Eginald Schlattner, Hartmut E. Arras, Peter Meilchen, Tom Täger & A.J. Weigoni, Klaus F. Schneider sowie Charlotte Ueckert. Und „PANTHEON. Ein großartiges Jazzprojekt mit Bach“ heißt Widmar Puhls Bericht aus der Kulturszene.

So viel diesmal und bis bald,
Traian Pop

• Lasst euch kein Buch verbieten • Wendel Schäfer wurde 80 • Theo Breuer • Ein Gedicht für den Frühling • Klaus Martens • John Edward Williams • Matthias Buth • Sabina Kienlechner • Dagmar Dusil • Anton Sterbling • Markus Bauer • Josef Balazs • Wolfgang David • Theodor Vasilache • Friedrich-Wilhelm Steffen • Klaus Wiegerling •   Markus Bauer • Kira Mantsu • Uli Rothfuss • Peter Küstermann • Marcus Neuert • Ulrich Bergmann • Horst Samson • Traian Pop • Widmar Puhl • Wolfgang Schlott •   

Editorial / S. 4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für den Frühling
Theo Breuer • nicht die bohne / S. 9

Klaus Martens • Acht Gedichte / S. 11
John Edward Williams • Three poems / Drei Gedichte in der Übertragung von Ulrich Bergmann / S. 18

Lasst euch kein Buch verbieten • Wendel Schäfer wurde 80
Wendel Schäfer • Der Bilderschädel . Der Schrei . Wegen der Wölfe . Das Nachtfenster . Prosa / S. 29
Klaus Wiegerling • Wendel Schäfers Kampf mit der Ordnung . Zur Kurzprosa eines wenig bekannten Meisters / S. 43
Wendel Schäfer • Schönes Mittelalter . Die große Botschaft . Prosa / S. 48
Matthias Buth • Zehn Psalmen / S. 53
Matthias Buth • George Enescu fließt über Trompete und Flügel in Rumäniens innerste Mitte und stirbt und stirbt und stirbt und stirbt nicht / S. 60
Matthias Buth • Spiegelbild . Bleibt ihm mitgegeben / S. 63
Markus Bauer • „ich baue mit geliehenen Worten Häuser, die fliegen“ / S. 78
Sabina Kienlechner • Der Flug des Erzengels Michael über Europa . Prosa / S. 84
Dagmar Dusil • Mioara . Prosa / S. 107
„Das Schreiben schlich sich nachts an mich heran“ • Dagmar Dusil antwortet, Josef Balazs fragt / S. 111
Dagmar Dusil • Von Harumden nach Paris . Prosa / S. 123
Wolfgang David • Zuviel Empathie? . Die Last der Geschichte . Prosa / S. 129
Theodor Vasilache • „Gegenschauspiel – Spectacol impotrivă“ Trei Poezii / Drei Gedichte in der Übertragung von Horst Samson/ S. 134
Kira Mantsu • Lebe wohl, geliebter Freund! / S. 142
Theodor Vasilache • Drei Gedichte / S. 145
Friedrich-Wilhelm Steffen • Fünf Gedichte / S. 157
Uli Rothfuss • Danke F.W. – Ein aufrechter Mann der Kultur: Friedrich Wilhelm Steffen / S. 157
Peter Küstermann und Marcus Neuert • Zum Tode von Friedrich Wilhelm Steffen / S. 161
Anton Sterbling • Sommerschule . Prosa / S. 162

Bücherregal

Matthias Buth • Peter Gehrisch . Das Märchen hebt an, guten Abend! / In den Schutzräumen der Phantasie. / S. 185
Wolfgang Schlott • Horst Samson . Das Meer im Rausch / S. 188
Wolfgang Schlott • Bocca della Verità • Roms Flair in flagranti von Ilse Hehn / S. 192
Wolfgang Schlott • Tabula Rasa • Menschenrechte. Universal und vor Ort. / S. 195
Ulrich Bergmann • Von Verzicht und Gewinn . Gedanken über Doris Distelmaier-Haas / S. 198
Uli Rothfuss • Ein großartiges Buch der Wehmut . „Drei Kilometer“ Roman von Nadine Schneider / S. 201
Uli Rothfuss • Literarische Kunststücke . Werner Streletz . Unterwegs mit Georg Trakl, Robert Desnos und Edgar Allan Poe. / S. 203
Uli Rothfuss • Vom Aufbruch zur Rache, ein Wachtraum des Aufspürens von Überbleibseln am Wegrand . Das zweite Schwert. Eine Maigeschiche von Peter Handke / S. 205

Aus der Kulturszene
Widmar Puhl • Musik für die Ewigkeit / S.207
Widmar Puhl • Corona ist für die Kultur der GAU / S.210

Die Welt und ihre Dichter

• Kreuz und quer – Literatur aus Rumänien •
Eginald Schlattner • Wasserzeichen . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman. / S. 9
Ana Blandiana • Zehn Gedichte / S. 25
Ana Donţu • Drei Gedichte / S. 35
Dinu Flămând • Acht Gedichte / S. 39
Ilse Hehn • Sieben Gedichte und drei Arbeiten / S. 47
Petru Ilieşu • Rumänien. Post scriptum . Ein Poem / S. 60
Traian Pop Traian • Acht Gedichte / S. 73
Horst Samson • Vier Gedichte. / S. 83
Hellmut Seiler • Acht Gedichte / S. 93
Robert Șerban • Zehn Gedichte / S. 105

Wjatscheslaw Kuprijanow • Sechs Gedichte (Russ. / Dt.) / S. 116
Klaus Martens • Ich bin, der ich bin. Wer oder was schreibt wem? Einige Phänomene in der (zumeist) amerikanischen Lyrik. / S. 128

Atelier
Michael Hillen • Zwölf Gedichte. / S. 143
Peter Gehrisch • Chronos, preise mir jetzt nicht das Chaos! . Elf Gedichte. / S. 155
Marco Sagurna • Warmia . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman. / S. 167

Bücherregal
Wolfgang Schlott • Eginald Schlattner, Wasserzeichen. / S. 176
Wolfgang Schlott • Hartmut E. Arras, Vom Freischärler zum Propagandisten des Nationalsozialismus. Mein Vater Erwin Arras (1905-1942). / S. 180
Wolfgang Schlott • 630 Buch / Katalog-Projekt von Peter Meilchen, Tom Täger & A.J. Weigoni. / S. 184
Widmar Puhl • Klaus F. Schneider, „pret-a-porter“. / S. 186
Matthias Hagedorn • Die Fluidität der Poesie . 630 . Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. / S. 189
Elisabeth Schawerda • Charlotte Ueckert, Die Fremde aus Deutschland. / S. 199

Musik
Widmar Puhl • Pantheon . Ein großartiges Jazzprojekt mit Bach / S. 201

MATRIX 1/2020 (59) • Anna Blandiana • Sie könnte die nächste Nobelpreisträgerin sein

MATRIX 1/2020 (59) • Anna Blandiana • Sie könnte die nächste Nobelpreisträgerin sein

«Auf der Straße wusste ich nie, ob man mich verfluchen oder küssen würde»
Zeitzeugin Ana Blandiana

Die Popularität des Schriftstellers ergibt sich aus der Begegnung seiner eigenen Einsamkeit mit der des Lesers. Wenn nicht, reduziert sich alles auf eine einfache Form der Manipulation.

In einem imaginären Interview antwortete mir eine Schriftstellerin, die ich seit jeher bewundere, u. a. weil sie so schreibt – meine ich –,
dass sie sich selbst verletzlich zeigt von all dem, „was sich in dieser Welt bewegt“, antwortete sie also, bevor ich meinen Mund aufmachen konnte, auf eine Frage, die angeblich in der Luft geschwebt hatte. Ob mich ihre Antwort überraschte oder traurig machte, spielt hier keine Rolle. Wichtig ist, was sie zu sagen hatte, SIE, die große Dame der Struga Poetry Evenings 2019, wo ich die Ehre hatte, teilnehmen zu dürfen.

„Bei der Popularität eines Schriftstellers geht es in erster Linie um die Unzufriedenheit der Kollegen.“ Was für eine Antwort! Was für eine Frage! Besser konnte es nicht anfangen. Es tut richtig weh, nicht nur weil es sehr hart klingt, sondern weil es – mit seltenen Ausnahmen, die eigentlich die Regel bestätigen – stimmt. Sagen Sie mir bitte nicht, dass ich richtig gehört habe. Sagen Sie mir bitte nicht, dass ich so etwas geträumt, gedacht, gesagt oder geschrieben habe. Und wenn ja, sagen Sie mir bitte, dass ich ein Lügner bin. Oder betrachten Sie mich einfach als einen Menschen!
„Der Begriff der Popularität eines Schriftstellers ist inhaltlich und zeitlich sehr begrenzt“, höre ich weiter wie hypnotisiert. „In einer diktatorisch organisierten Gesellschaft gab und gibt es populäre Schriftsteller, die von den Lesern geliebt werden, weil sie ihnen das Gefühl der Freiheit in einer vollkommen unfreien Welt geben. Natürlich hat dies nichts mit dem Heimerfolg eines Bestsellerautors, den Marketingregeln steuern, zu tun. Er wird vielmehr deswegen geliebt, weil er das ausspricht, was seine Leser sich fürchten, selbst zu äußern, auch wenn sie dies gern getan hätten. Wenn jedoch die Diktatur verschwindet, verschwindet auch der Grund der Kritik für diesen wahren Superstar und gefährdet implizit dessen Erfolg. Denn Freiheit bedeutet nicht nur das Verschwinden des Diktators, sondern auch die Freiheit, mit dem Lesen aufzuhören. Komischerweise sind das Wort und der Autor, der es zum Überleben verwendet hat, am stärksten betroffen. Andererseits bedeutet beliebt zu sein nicht unbedingt, erfolgreich zu sein.“
Dass ich dies geträumt habe, bin ich nun fast sicher. Warum ich es geträumt habe? Wahrscheinlich unter dem Eindruck des gestrigen Tages, als ich versuchte, ein Editorial zu schreiben, und es nicht klappte. Denn wie kann man über eine Ikone schreiben, ohne den Verdacht zu erwecken, ihre Aura ausnutzen zu wollen?
An diese Ikone hatte ich mich bereits in den 1980er Jahren geklammert, indem ich ihre von der Regierung damals verbotenen Texte aus der Zeitschrift Amfiteatru einfach ,gestohlen‘ und als Dialog in ein Theaterstück eingebaut hatte. (Eine Art zu schreien: „Ich bin auch hier und denke genauso wie du, nimm mich bitte ernst“, denke ich jetzt. „Eine Geste der Solidarität“, flüstert mir mein egozentrisches Alter Ego zu.) Das Stück mit diesen ,geklauten‘ (also zitierten) Texten wurde mit dem Theaterpreis des Magazins Orizont sowie des Schriftstellerverbands Timişoara ausgezeichnet und in derselben Stadt sogar für eine Inszenierung am Deutschen Staatstheater – auf Rumänisch – vorgeschlagen. Erfolg habe ich also damit gehabt, bestimmt auch dank der berühmten Texte. Leider waren diese Texte auch der Behörde bekannt, und die Inszenierung wurde – trotz förmlicher Genehmigung – verboten, bevor die Uraufführung stattfinden konnte.
Ob sie sich an dieses Theaterstück noch erinnere, traute ich mich nicht zu fragen. Sie bleibt für mich eine Schriftstellerin, die volle Aufmerksamkeit verdient, und ein moralisches Vorbild, dem man folgen sollte. Ihr Gesicht macht mich manchmal glücklich, manchmal aber traurig. Zunächst weil ihr „Romi“ – ein weiterer Begleiter meiner Lesefreude von damals wie heute – nicht mehr an diesem Poetenfest teilnehmen konnte. Und dann, weil es „bei der Popularität eines Schriftstellers in erster Linie um die Unzufriedenheit der Kollegen“ geht. Und nicht zuletzt, weil – können Sie sich das vorstellen? – keine Zeitung, kein Fernsehsender und kein Medienunternehmen aus Rumänien den Weg nach Struga gefunden hat. Jetzt, wenn alle frei reisen dürfen. Kein Kollege, kein Vertreter des Kulturministeriums, des Schriftstellervereins oder einer anderen Kulturinstitution aus Rumänien ist da gewesen. Und das bei einer Auszeichnung, deren Gewinner – mit wenigen Ausnahmen – zum Nobelpreis weiterbefördert wurden. Das hat mir noch einmal bestätigt, dass es zu den bemerkenswertesten Talenten einiger Völker gehört, sich selbst im Weg zu stehen bzw. sich selbst ein Bein zu stellen.
Ach ja, ein Autor, der sogar 1982, zu den Zeiten der Diktatur, dabei sein durfte, als ein anderer Rumäne, Nichita Stănescu, den Preis erhielt – wie seine Anwesenheit als Privatperson möglich war, kann ich mir nicht vorstellen, weil Jugoslawien damals das erste Ziel der Flüchtlinge aus Rumänien war –, nahm auch diesmal teil und schaffte es nicht nur, den Makedoniern die rumänische Flagge zu zeigen, sondern auch auf die Festivalbühne vorzupreschen. Mich erinnerte die Szene an ein Fußballspiel, bei dem ein Mädchen nackt auf der Rasen springt und zum Erstaunen der Spieler, des Schiedsrichters und der Zuschauer mit dem Ball jongliert. Nackt war der Autor nicht und das Poetenfest neigte sich schon seinem Ausklang zu. Die einzige Folge war ein Foto, das ihn auf der Bühne zeigt und immer noch im Internet wie auch auf dem Cover einer regionalen Zeitschrift zu finden ist. Was aber nirgends zu finden ist: der Stapel von Bier- und Cola-Dosen, die unser Protagonist sekundenschnell vom Tisch abräumte und in seiner riesigen Tasche verschwinden ließ. Kritisieren wir jedoch nicht, schließlich dürfen Sie nicht vergessen: Wir befanden uns auf dem Balkan. Und ob es uns nun passt oder nicht: Später hat sich herausgestellt, dass seine Beiträge (übrigens sehr gute) die einzigen bleiben sollten, die in Rumänien über die Struga Poetry Evenings erschienen sind.
Als balkanspezifisch ließe sich auch die pharaonische Eröffnungsfeier einstufen (mit Reden von Kultur- und Politikvertretern, klassischer Musik, Poesie, jungen, schönen Fackelträgerinnen und gewaltigem Feuerwerk) sowie die nur zwei, drei Minuten lange Preisverleihung, bei der eine Wasser-Kunstinstallation es schaffte, die Ton- und Beleuchtungsanlage fast zu neutralisieren, gerade als sie endlich zu funktionieren schien. Auch kann als wahres Symbol dieses Events die Tatsache gelten, dass am Tag vor der Preisverleihung fast alle Tafeln mit den Namen der Preisträger verschwunden waren. „Von nationalistischen Albanern zerstört“, meinte ein wütender Makedonier. „Warum nicht von Fans geklaut?“, versuchte ich immer noch hoffnungsvoll einzuwenden. Vergessen wir aber nicht, dass dieses einmalige Poetry Festival an der Kreuzung vieler ethnischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und religiöser Divergenzen und Konflikte trotz Armut, Korruption und Pannen einen Stellenwert erreicht hat, der für mich ein Geheimnis bleibt.
Ana Blandiana sagte in ihrer Dankesrede: „May the god of poetry holding the golden wreath continue to bless Macedonia!“ Ich unterschreibe das, und zwar von Herzen.

Nun schlage ich aber vor, dass wir uns dieser MATRIX-Ausgabe zuwenden, die nur den Anfang einer Präsentation der Struga-Poesie des letzten Jahres darstellt. „Sie könnte die nächste Nobelpreisträgerin sein“, heißt unser Schwerpunkt zu Recht, denn die Dichterin Ana Blandiana befindet sich neben Autoren wie Bulat Okudzhava, W. H. Auden, Pablo Neruda, Eugenio Montale, Léopold Sédar Senghor, Artur Lundkvist, Hans Magnus Enzensberger, Nichita Stănescu, Andrey Voznesensky, Yiannis Ritsos, Allen Ginsberg, Joseph Brodsky, Ted Hughes, Yehuda Amichai, Yves Bonnefoy, Tomas Tranströmer und Margaret Atwood in bester Struga-Gesellschaft.

Wir feiern Ana Blandiana mit ihren Gedichten in zahlreichen Übertragungen sowie zwei ausführlichen Essays über ihr Werk von Elizabeta Šeleva und Viorica Patea und versuchen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die Festivalatmosphäre mit Ana Blandianas Dankesrede sowie zahlreichen Bildern nahezubringen. Unser Mitstreiter aus der Schweiz, Andreas Saurer, stellt in einem Interview und zwei Essays die Bürgerrechtlerin Ana Blandiana vor. Und die Laudatio von Horst Samson auf Ana Blandiana, die im Herbst in Bratislava mit dem Jan-Smrek-Preis 2019 geehrt wurde, widmet sich poetischen wie moralischen Aspekten ihres Schaffens.

Zwei Schriftsteller, zwei leidenschaftliche Leser, die Jorge Luis Borges‘ Diktum Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn mit denkwürdigen Beiträgen untermauern: Ich bin in Büchern beheimatet. Und wenn ich an meine eigenen Schreibprozesse denke, ahne ich, dass mein Bücherregal nicht nur bei Umzügen die meisten Umstände verursacht, sondern das Kostbarste ist, das ich besitze, bekennt Iris Wolff in der fesselnd formulierten Festrede Poesie als Optik, die die Welt formt (gehalten auf dem Internationalen Bibliothekskongress am 16. Mai 2018 in Graz), während es in Theo Breuers neuem – visuell angereicherten – Essay Zunder. Vom alltäglichen Wunder des Lesens heißt: Gelesene Gedichte und Geschichten sind der Zunder, der mein literarisches Feuerchen flackern läßt.

Edith Ottschofski hat fürs Bücherregal den Roman „Dor und der September“ von Karl Friedrich Borée wiederentdeckt. „Ich glaube, wir sind ein Volk von Pflanzen“, nennt Wolfgang Schlott seine Gedanken zu Ana Blandianas Gedichtbuch „Geschlossene Kirchen“. Hans Bergels Rezension „Der Himmel überschüttet mit Sternen …“ über Horst Samsons neuen Gedichtbuch „Das Meer im Rausch“ rundet die Rubrik ab.

Um den Kreis dieser Ausgabe zu schließen, laden wir zum Schluss nach Georgien ein zum TIFL . 5th Tbilisi International Festival of Literature, begleitet von Manfred Chobot, einem der Teilnehmer.

Einige Autoren dieser Ausgabe werden uns in wenigen Tagen zur Leipziger Buchmesse begleiten. Besuchen Sie uns und unsere Veranstaltungen, wir laden Sie herzlich dazu ein! Die Redaktionsmitglieder und Schriftsteller sind in Halle 4, Stand E306, anzutreffen.

Bis bald also: Traian Pop

Es signieren: • Struga Poetry Evenings 2019 • Golden Wreath for Ana Blandiana •Viorica Patea • Hort Samson • Sie könnte die nächste Nobelpreisträgerin sein • Ján-Smrek-Preis for Ana Blandiana • Andreas Saurer • Elizabeta Šeleva • Iris Wolff • Theo Breuer • Edith Ottschofski • Wolfgang Schlott • Hans Bergel • Manfred Chobot • Paul Buciuţă • Miguel Ruíz Durán • Daniel Mordzinski • Dagmar Chobot • Traian Pop • Traian Pop •

Traian Pop • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter
Anna Blandiana: Sie könnte die nächste Nobelpreisträgerin sein

Anna Blandiana • Geschlossene Kirchen . Ein Gedicht in vier Versionen / S. 9
Anna Blandiana • Zwei Gedichte in der Übertragung von Dieter Schlesak / S. 15
Viorica Patea • Ana Blandiana: The Country beyond the Country / S. 19
Anna Blandiana • Drei Gedichte in der Übertragung von Rolf-Frieder Marmont / S. 39
Anna Blandiana • Thanksgiving / S. 43
Andreas Saurer • Zeitzeugin Ana Blandiana: «Auf der Strasse wusste ich nie, ob ich verflucht oder geküsst würde» / S. 44
Traian Pop • Bilder / S. 40/41
Anna Blandiana • Gedicht in der Übertragung von Horst Fassel / S. 53
Anna Blandiana • Gedicht in der Übertragung von Joachim Wittstock / S. 54
Anna Blandiana • Vier Gedichte in der Übertragung von Franz Hodjak / S. 55
Anna Blandiana • Gedicht in der Übertragung von Dieter Roth / S. 59
Anna Blandiana • Gedicht in der Übertragung von Bettina Schuller / S. 60
Dieter Schlesak • Eine neue Misere mit mehr Hoffnung / S. 61
Anna Blandiana • Acht Gedichte in der Übertragung von Horst Samson / S. 64
Anna Blandiana • Acht Gedichte in der Übertragung von Katharina Kilzer / S. 73
Anna Blandiana • Vier Gedichte in der Übertragung von Übertragung von Maria Herlo / S. 83
Andreas Saurer • Friedhof als Dorfchronik / S. 87
Andreas Saurer • Rumäniens moralische Hauptstadt / S. 92
Elizabeta Šeleva • Address on the Occasion of Announcing Ana Blandiana the 2019 Winner of the “Golden Wreath” Award of Struga Poetry Evenings / S. 96
Anna Blandiana • Fünf Gedichte in der Übertragung von Hans Bergel / S. 108
Horst Samson • Viele Heimaten stehen leer – Unbehauste im „Globalen Dorf“ / S. 116
Anna Blandiana • Ten poems in the translation of Paul Scott Derrick und Viorica Patea/ Zece poezii / S. 128
Horst Samson • Sie könnte die nächste Nobelpreisträgerin sein / S. 151
Iris Wolff • Poesie als Optik, die die Welt formt / S. 156
Theo Breuer • Zunder . Vom vertrauten Wunder des Lesens / S. 165

Bücherregal
Edith Ottschofski • Liebe in der Zwischenkriegszeit . Wiederentdeckter Roman von Karl Friedrich Borée / S.199
Wolfgang Schlott • „Ich glaube, wir sind ein Volk von Pflanzen“ . Zu Ana Blandiana Gedichtbuch, Geschlossene Kirchen. / S. 201
Hans Bergel • „Der Himmel überschüttet mit Sternen …“ . Horst Samsons Gedichtbuch Das Meer im Rausch / S. 205

Aus der Kulturszene
Manfred Chobot • Wein – Chinkali – Tschurtschchela . TIFL . 5th Tibilisi Festival of Literature / S.207

MATRIX 4/2019 (58) • Zwanzig Tage – zwanzig Romane

Dich rufe ich erneut an, lieber Gott der Literatur. Verzeih mir bitte, aber ich kann den Sinn meiner Schritte schon wieder nicht mehr ausmachen.
Ich habe gestern einen Autor kennengelernt, der mir offen sagte, er habe ohne seinen Verlag gar nicht existieren können. Mit dabei stand auch ein anderer, der genauso offen zugab, er brauche so etwas überhaupt nicht, er suche unbedingt und sofort eine Druckerei, um die Welt mit seinem Werk zu beglücken. Einem weiteren Autor reichte ein Copyshop, um sein Opus unter die Leute zu bringen. Und es gab noch einen, der meinte, „jemand“ sei verpflichtet, ihn zu publizieren. Sogar eine Behörde, die sehr viel Geld in die Hand nimmt, um NICHTS zu tun für Autoren, die sowieso irgendwie und irgendwann verlegt werden, war vertreten. Dazu eine Einrichtung, die für Selfpublishing warb. Ein Verlag, der ohne Autoren nicht existieren kann, durfte natürlich nicht abwesend sein. Genauso wie einer, der keine Autoren braucht.
Um Klarheit zu schaffen: Wir sprechen hier und jetzt über Literatur und nicht über Literatur 2.0, 3.0, 4.0 usw.
Verzeih mir, lieber Gott der Literatur, aber ich dachte, du hättest mir empfohlen, an der größten Buchmesse der Welt teilzunehmen. Mir, der ich immer noch an der Brust der Literatur hänge – schlimmer als ein libidinöser alter Mann, der an der vergilbten Fotografie einer ehemaligen Kollegin klebt, die sein Lehrer einst neben ihn gesetzt hatte, um dem Klassenfoto Gleichgewicht zu verleihen. Mir, der ich immer wieder zu dir zurückkehre, sogar dann, wenn das Navigationsgerät sagt, dass ich in die falsche Richtung fahre. Ich dachte, du würdest mir zustimmen, wenn ich das heutige Übermaß an politischer Korrektheit als Übertreibung betrachte – wenn auf einmal sehr vieles als nicht akzeptabel proklamiert wird, um dann wiederum auch all jene, die sich diesem Diktat widersetzen, diffamieren zu können. Deswegen habe ich mich nicht gewundert, als mich einmal sogar Grenzbeamte nicht davon abhalten konnten, mich in eine Zwickmühle hineinzumanövrieren. Niemand außer dir, lieber Gott der Literatur, weiß, dass es keinen Platz mehr gibt für einen, der keine Ahnung von Marketing, von Gewinnspannen, von Lobbyarbeit oder vom Schleimen hat. Für einen, der morgens über dem ausgetrunkenen Weinkrug meditiert, ohne zu merken, wie ihm jede Menge von sogenannten Spezialisten am Zeug flicken.
Doch nun bin ich vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen. Was will ich überhaupt? Wenn ich ein Editorial schreibe, kümmere ich mich in der Regel um die Schriftsteller und deren Werke. Diesmal muss ich mich aber zu einem süchtigen Leser und seinen Einsichten äußern, der Folgendes schreibt:

Ganz einfach: Zwanzig Autoren sind von der Bildfläche verschwunden. Seit dem 20. August 2019. Der Schattenfänger, so wird kolportiert, hat sie an der Nase herum in ein Labyrinth geführt und in einem schwarzen Traum eingeschlossen, wo sie nun randalieren, einander die Augen auskratzen bzw. die Köpfe einschlagen.

O Gott, was könnte ich denn da noch hinzufügen? Dass er Tag und Nacht damit verbrachte, über zwanzig Romane zu schreiben, finde ich absolut in Ordnung – wer hätte es sonst tun können, wenn nicht er, der alle zwanzig Titel der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 gelesen hat? Zwanzig Tage der Lektüre, zwanzig Tage des Konkubinats mit zwanzig Büchern, zwanzig Tage voller Durchhaltevermögen, voller Freude oder auch Enttäuschung. Lassen Sie sich von unserem Mitstreiter Theo Breuer und seiner ungewöhnlichen Art, zu lesen und Literatur zu entziffern, auf mehr als achtzig Seiten mitreißen. Und lesen Sie hier zwanzig Ausschnitte aus zwanzig Romanen, die im Wettstreit um den Deutschen Buchpreis 2019 angetreten sind. Dabei sollten Sie sich nicht wundern, dass Sie die Zeitschrift eines Kleinverlags, der von möglichen Fördergeldern und Preisen umgangen wird, in Händen halten. Denn das ist schlichtweg normal. Oder haben Sie für einen Moment vergessen, in welcher Welt wir leben?

Von den Schreibtischen einiger Gegenwartsautoren erhielten wir diesmal außergewöhnliche Texte von Klaus Martens („Man meint es nicht gut mit mir. / Aber was kann man mir schon nehmen? / Meine Vergangenheit ist sicher verwahrt, / meine Zukunft erblüht an diesem Tag“), Nora Iuga („es sind kreaturen. ich kenne sie nur schriftlich. gelesen habe / ich in der zeitung“), Anton Sterbling („aber diese Polka tanzen wir alle noch, / obzwar Toni, der die Tuba bläst, / schon ausgewandert ist“), Horst Samson („Der Tod geht und kommt / Wie Jesus übers Wasser, verliert / Keine Minute, kein Wort“), Traian Pop Traian („was hätte der Leichenträger empfunden / hätte er unter den Leichen dich oder mich wiedererkannt / hätte er sich selbst unter den Leichen entdeckt …“) und Benedikt Dyrlich („Und die Mutter war kein Nazi, sie genoss aber das Leben in vollen Zügen“).

Widmar Puhl und Michael Moritz besprechen neu erschienene Bücher von Andrew Sayer, Volker Weiß und Harald Gröhler. Und die Kulturszene ist präsent durch die Beiträge „Erstes Abonnementkonzert des SWR-Symphonieorchesters Stuttgart in der Liederhalle am 20. September“, „Aufwachen in Istanbul. Kölner Künstlerinnen und Künstler am Bosporus“ und „Evgeny Mitta: Moskau 2012. Gescheiterte Revolution. Multimediale Installation“. Es signieren: Widmar Puhl, Wolfgang Schlott sowie Gudrun und Karl Wolff.

Eine gute Buch- und Messezeit mit der Longlist 2019 und mit MATRIX wünscht Ihnen

Traian Pop

Es signieren: • Theo Breuer • Zwanzig Tage – zwanzig Romane : Ein Buchspiel • Jackie Thomae • Andrea Grill • Raphaela Edelbauer • Lola Randl •Jan Peter Bremer • Ulrich Woelk • Alexander Osang • Eva Schmidt • Marlene Streeruwitz • Emanuel Maeß • Saša Stanišić • Katerina Poladjan • Miku Sophie Kühmel • Karen Köhler • Tom Zürcher • Tonio Schachinger •Nora Bossong • Angela Lehner • Norbert Scheuer • Norbert Zähringer • Klaus Martens • Nora Iuga • Anton Sterbling • Horst Samson • Traian Pop Traian • Benedikt Dyrlich • Widmar Puhl • Michael Moritz • Wolfgang Schlott • Gudrun und Karl Wolff • Evgeny Mitta •

Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter • Zwanzig Tage – zwanzig Romane : Ein Buchspiel

Theo Breuer • Zwanzig Tage – zwanzig Romane : Ein Buchspiel . Fragmentarisches Fragebuch zum teutschen Suchpreis 2019 . • Brüder • Cherubino • Das flüssige Land • Der Große Garten • Der junge Doktorand • Der Sommer meiner Mutter • Die Leben der Elena Silber • Die untalentierte Lügnerin • Flammenwand. • Gelenke des Lichts • Herkunft • Hier sind Löwen • Kintsugi • Miroloi • Mobbing Dick • Nicht wie ihr • Schutzzone • Vater unser • Winterbienen • Wo wir waren • / S. 7
Jackie Thomae • Brüder / S. 87
Andrea Grill • Cherubino / S. 91
Raphaela Edelbauer • Das flüssige Land / S. 95
Lola Randl • Der Große Garten / S. 99
Jan Peter Bremer • Der junge Doktorand / S. 103
Ulrich Woelk • Der Sommer meiner Mutter / S. 107
Alexander Osang • Die Leben der Elena Silber / S. 111
Eva Schmidt • Die untalentierte Lügnerin / S. 115
Marlene Streeruwitz • Flammenwand. / S. 119
Emanuel Maeß • Gelenke des Lichts / S. 123
Saša Stanišić • Herkunft / S. 127
Katerina Poladjan • Hier sind Löwen / S. 131
Miku Sophie Kühmel • Kintsugi / S. 135
Karen Köhler • Miroloi / S.139
Tom Zürcher • Mobbing Dick / S. 143
Tonio Schachinger • Nicht wie ihr / S. 147
Nora Bossong • Schutzzone / S. 151
Angela Lehner • Vater unser / S. 155
Norbert Scheuer • Winterbienen / S. 159
Norbert Zähringer • Wo wir waren / S. 163Atelier

Atelier
Klaus Martens • Acht Gedichte / S. 169
Nora Iuga • Zehn Gedichte / S. 179
Anton Sterbling • Acht Gedichte / S. 187
Horst Samson • Fünf Gedichte / S. 195
Traian Pop Traian • Drei Gedichte / S. 203
Benedikt Dyrlich • In Erinnerung an Temeswar . Tagebuch / S. 207

Bücherregal
Widmar Puhl • Andrew Sayer, Warum wir uns die Reichen nicht leisten können / S.211
Widmar Puhl • Volker Weiß, Die autoritäre Revolte / S. 214
Michael Moritz • Harald Gröhler, In Eile, im Mantel / S. 216

Aus der Kulturszene
Widmar Puhl • Der Retter trägt Wuschelkopf . Erstes Abonnementkonzert des SWR Symphonieorchesters Stuttgart in der Liederhalle am 20. September / S.219
Wolfgang Schlott • Aufwachen in Istanbul. Kölner Künstlerinnen
und Künstler am Bosporus / S.221
Gudrun und Karl Wolff • Evgeny Mitta . Moskau 2012. Gescheiterte Revolution. Multimediale Installation / S.223
Evgeny Mitta • Protestflug / S.227

MATRIX 3/2019 (57) • Die KOGGE • Nicht alle, welche wandern, sind verloren

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

als „zu meiner Zeit“ ganze Jahre ohne technologische Veränderungen vergingen, hatte ich genug Luft, um Häppchen der Geschichte, Arithmetik, Literatur und Philosophie mit aller Wissbegier eines Kindes zu schlucken, das sich darauf vorbereitet, nicht nur seinen Eltern und Großeltern, sondern allen zu zeigen, wie schön die Welt sein kann. Dass die Geschichte in den Lehrbüchern diesseits und jenseits des Ozeans, diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs nicht identisch war, ahnte ich schon – wie wohl jeder von Ihnen. Dass die Arithmetik von „Diesseits und Jenseits“ nur ein und dieselbe sein konnte, wusste ich, obwohl in unseren Lehrbüchern schwarz auf weiß stand, dass Hitlers Arithmetik braun und die von Stalin rot
wäre.

Ja, so war es zu der Zeit, als es Jahre dauerte, bis sich – wissenschaftlich und technologisch gesehen – eine Veränderung zeigte. Doch wie sieht es heute aus? Wenn wir in einer von Wissenschaft und Technologie dominierten Welt leben, in der kaum jemand die Wissenschaft und Technologie versteht? Wenn heute unser Dasein online ist, wie verhält es sich mit dem Analogen und Digitalen, dem Realen und Virtuellen? Wenn heute alles ständig auf dem neuesten technologischen Stand sein muss und wir keine andere Wahl haben, als uns anzupassen oder uns zu entfremden – bis zum nächsten Upgrade, wenn viele, wenn nicht gleich alle von uns durch Leistungsfähige ersetzt werden? Wenn ich heute z. B. mein eigenes Bankkonto nicht online sehen bzw. eine Überweisung durchführen kann, weil ich den Brief mit der Information zu den neuen Regeln nicht rechtzeitig gelesen habe?
Nicht nur, dass wir uns die Welt von morgen nicht mehr vorstellen können und die Dinge, die jetzt geschehen, uns total unvorbereitet überrollen, sondern auch, dass wir nicht einmal mehr verstehen können, was uns in der Vergangenheit passierte, ist längst zu einer alltäglichen Tatsache geworden.

Oh, Mutter, und wir machen Musik, brüllt ein bekanntes Volkslied!

Ja, werde ich antworten, das ist – egal ob wir damit einverstanden sind oder nicht – unsere Welt. Damit müssen wir nun zurechtkommen. Nichts ist einfacher, als sich eine kurze Atempause zu gönnen. Auch die perfekte Hardware braucht ab und zu eine Pause. Lasst uns spielen: Verstecken wir uns vor uns selbst. Geben wir zu, dass wir, als wir geboren wurden, nicht an Google und Amazon dachten, sondern an das, was unsere Vorfahren als göttlich und gleichzeitig menschlich erachteten. Auch wenn sie glaubten, dass die Arithmetik – egal ob braun oder rot – alles regle. Sie haben uns Zeit gegeben, um zu überlegen, was wir mit uns und der Welt anfangen wollen. Keine Arithmetik der Welt kann uns das nehmen. Und keine menschliche Existenz mit all ihrer Kürze und all ihrem Schmerz.

„Viele – und auch das verheißt uns der Titel mit seinem ,nicht alle‘ – scheitern. Das Mittelmeer wurde zum Massengrab, Tausende kamen und kommen immer noch in den Fluten um, auf ihrem Weg in die Hoffnung auf eine bessere Zukunft; es ist eine Schande für Europa, für jedes einzelne europäische Land, dies hinzunehmen, eifersüchtig zu streiten und in Kauf zu nehmen, dass aus dem Europa der Vielfalt und der Buntheit, der Toleranz, der rücksichtsvollen Aufnahmebereitschaft, wovon der Kontinent immer gelebt und wodurch er sich weiterentwickelt hat, ein kalter Block sich einmauernder Staaten wird, der – und auch das wird nur vermeintlich gelingen – durch Abschottung seinen auf dem Rücken der Armen, der ausgebeuteten Erdteile begründeten Wohlstand sichern will.
[…]
Lesen Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese Literatur zu einem aktuellen Thema, zu dem beherrschenden Thema unserer Zeit, dem Wandern in die Zukunft, erfüllt von Hoffnungen, als Momentaufnahme, als zeitlose Dokumentation, als Anregung für das eigene Denken und Handeln. Und bleiben Sie menschlich, jeden Tag, jede Stunde, zu sich selbst und so auch zu anderen.“ So Uli Rothfuss über der Schwerpunkt unserer Ausgabe, die von 37 KOGGE-Autoren unterstützt wird.

„Immer wieder träume ich den gleichen Traum: Ich bin gestorben, und mein Schicksal entscheidet sich. Mir sind ein paar Stunden Zeit gegeben, um in mein früheres Erdenleben zurückzukehren und es zu verbessern. Aber was genau?“ So Tatjana Kuschtewskaja in „Unterwegs…“. Und weiter: „Jedes Mal komme ich in meinem Traum genau an den Ort, an dem ich heute lebe. Der Drang wegzulaufen verschwindet.“

In dieser MATRIX-Ausgabe kämpft die KOGGE nicht mit dem Kaventsmann, sondern mit … der ruhigen See.

Aber nicht nur die KOGGE. Was wäre die Auseinandersetzung von Theo Breuer mit dem Werk von Norbert Scheuer sowie mit der Dichtung von Gao Changmey (Meier) denn anderes als eine Atempause vor den Sturm?
Oder Admiel Kosmans Gedichte „Aus dem Zwischen des Hohelieds“ und Edith Lutz’ Blick darauf: „Von hinter dem Stacheldraht? Die letzten Wörter in dieser Auswahl […] hallen nach. Der Stacheldraht von Auschwitz? Der Draht, der unbarmherzig trennt? Oder ist es der telegrafische Draht, der Verbindungen herstellt? Das hebräische Wort ist – wie so oft in Kosmans Gedichten – mehrdeutig. In der Mehrdeutigkeit lässt sich, etwa im Nachhall dieser Frage, in einer folgenden Leerzeile sozusagen, vielleicht eine Stimme, eine hauchdünne Stimme hören: ,Ja, auch hier‘.“
Wie Matthias Buths Donau, die „kniet sich tiefer in den Grund / Horcht die Sedimente ab Nacht und Tag“.

 

Ihr Traian Pop

Es signiert: • Die KOGGE • Nicht alle, welche wandern, sind verloren • Johanna Anderka • Pilar Baumeister • Mark Behrens • Eva Maria Berg • Beppo Beyerl • Detlev Block • Susanne Brandt • Gudula Budke • Ingo Cesaro • Manfred Chobot • Fritz Deppert • Eric Giebel • Harald Gröhler • Judith Gruber-Rizy • Brigitte Gyr • Ilse Hehn • Rudolf Kraus • Peter Küstermann • Tatjana Kuschtewskaja • Horst Landau • Hermine Navasardyan • Marcus Neuert • Małgorzata Płoszewska • Mechthild Podzeit-Lütjen • Uta Reichardt • Uli Rothfuss • SAID • Helmut Schmale • Tarja Sohmer • Herbert Somplatzki • Friedrich Wilhelm Steffen • Tina Stroheker • Piotr Szczepański • Ursula Teicher-Maier • Charlotte Ueckert • Rainer Wochele • Barbara Zeizinger • Theo Breuer • Empfundene / erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten • Admiel Kosman • Edith Lutz • Ulrich Bergmann •  Matthias Buth • Peter Gehrisch • Heinz Weißflog • Theresia Schön • Widmar Puhl • Karl-Markus Gauß zum 65. Geburtstag •  Traian Pop •

Traian Pop • Editorial / S.8

Die Welt und ihre Dichter

• Die KOGGE • Nicht alle, welche wandern, sind verloren.

Uli Rothfuss • Nicht alle, welche wandern, sind verloren. Ein Versuch der Näherung an eine unsichere Zeit. / S. 9
Johanna Anderka • Drei Gedichte / S. 12
Pilar Baumeister • Zwei Gedichte / S. 15
Mark Behrens • Der Bleistift . Prosa / S. 19
Eva Maria Berg • Zwei Gedichte / S. 24
Beppo Beyerl • Triest . Prosa / S. 27
Detlev Block • Gedicht / S. 33
Susanne Brandt • Zwei Gedichte / S. 35
Gudula Budke • Sonnenglut und Wassernot . Prosa / S. 37
Ingo Cesaro • Schattenspuren . Gedicht / S. 42
Manfred Chobot • Fünf Gedichte / S. 46
Fritz Deppert • Wanderwege . Gedicht / S. 51
Eric Giebel • Zwei Gedichte / S. 54
Harald Gröhler • Schlecht zu lokalisieren . Prosa / S. 59
Judith Gruber-Rizy • Rückkehr in die Stadt K. . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman / S. 64
Brigitte Gyr • Tous ceux qui errent ne sont pas perdus . Prosa / S. 69
Ilse Hehn • Vier Gedichte / S. 71
Rudolf Kraus • Zwei Gedichte / S. 76
Peter Küstermann • Brief nach Aleppo . Prosa / S. 78
Tatjana Kuschtewskaja • Unterwegs zu sein ist ein Weg zur Selbst-
erkenntnis . Prosa / S. 80
Horst Landau • „Nicht alle, welche wandern, sind verloren.“ . Gedicht / S. 84
Hermine Navasardyan • Zwei Gedichte / S. 85
Marcus Neuert • S.O.S. (Sound Of Speed) . Prosa / S. 87
Małgorzata Płoszewska • Drei Gedichte / S. 89
Mechthild Podzeit-Lütjen • forttragen . Prosa / S. 92
Uta Reichardt • Vier Gedichte / S. 98
SAID • wir teilen . Gedicht / S. 102
Helmut Schmale • colline des puits . Gedicht / S. 103
Tarja Sohmer • Die Pflicht zu Leben . Prosa / S. 105
Herbert Somplatzki • Vier Gedichte / S. 109
Friedrich Wilhelm Steffen • Vier Gedichte / S. 113
Tina Stroheker • Drei Gedichte / S. 116
Piotr Szczepański • Fünf Gedichte / S. 119
Ursula Teicher-Maier • sichtfeld parzelliert . Prosa / S. 125
Charlotte Ueckert • Erinnerungstour . Prosa / S. 131
Rainer Wochele • Prosa / S. 136
Barbara Zeizinger • Liebe allein genügt nicht . Prosa / S. 142

Theo Breuer • Winterbienen im Urftland . Empfundene / erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten . Auszug / S. 147
Admiel Kosman • Aus dem Zwischen des Hohelieds . Fünf Gedichte / S. 155
Edith Lutz • Es mag der Liebe gefallen . Zu den Gedichten von Admiel Kosman / S. 161
Ulrich Bergmann • La voix du Pirandello . Ein paar Gedanken zu Pirandellos Drama „Sechs Personen suchen einen Autor“ / S. 165
Theo Breuer • Alles – und viel, viel mehr (vielleicht …) . Regenbogenfarben des kalten Wetters, verfaßt von der 1968 in Huai’an geborenen chinesischen Schriftstellerin Gao Changmey / S. 167

Atelier
Matthias Buth • Acht Gedichte / S. 179

Bücherregal
Uli Rothfuss • Wo seid ihr, ihr merkwürdigen Toten? „Traum von meinem Vater“ eine Leseerfahrung der Erzählung von Karol Sidon / S. 189
Harald Gröhler • Wie oft hab ich geknirscht mit den Zähnen . Hadaa Sendoo, Sich Zuhause fühlen. / S. 191
Peter Gehrisch • Wie mit der Feder geschrieben . Aphoristische Reflexionen von Hans Bender / S. 194

 

MATRIX 2/2019 (56) • Dieter Schlesak • THEOPHANIE. Letzte Reisegedichte und Texte

Ich weiß nicht wie und warum, aber die Gerechtigkeit scheint immer auf Seiten der Vernachlässigten, Marginalisierten usw. zu sein. Die Gerechtigkeit natürlich – und nicht das Urteil. Ich weiß nicht, wie und warum das so ist, aber das Gesetz und die Mehrheit in unserer demokratischen Welt entscheiden fast ausnahmslos genau umgekehrt. Was nun mit dieser Balance, die immer wieder dazu neigt, alles auf null zu setzten? Was nun mit den vielen Faktoren, Zufällen und nicht zuletzt den Menschen, die – bewusst oder nicht, mit oder ohne kriminelle Energie – an der Justierung dieses verdammt empfindlichen Gleichgewichts beteiligt sind? Sollen alle wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden?

Dann nehmen Sie bitte meine Aussage zur Kenntnis: Ich bin der Erste, den ich kenne, der nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen vernachlässigt hat. Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt bemerkt haben, wie viele Angehörige Ihres Bekannten- oder Freundeskreises – diejenigen, für die Sie alles tun würden, was in Ihren Kräften steht, um ihnen zu helfen, diejenigen, die öffentlich den eigenen bürgerlichen Mut immer wieder zum Ausdruck bringen – sich für gewöhnlich aus dem Staub machen. Sie sind genau dann nicht da, wenn Sie am ehesten Hilfe gebraucht hätten, erinnern sich plötzlich an Familie, Verpflichtungen, dringende Erledigungen …
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich spreche nicht von Ihnen, sondern immer noch von mir. Es stimmt, ich habe meine Familie, meine Verpflichtungen sowie alle Dringlichkeiten der Welt ignoriert. Aber: Auch wenn es anders zu sein scheint, ich erlaube mir, Ihnen in Erinnerung zu bringen, dass Ausnahmen die Regel bestätigen.

Ich weiß nicht, wie und warum das so ist, aber wir erkennen dies alles erst, wenn es zu spät zu sein scheint. Die Umstände wollten, dass Dieter Schlesak zu einem der größten, mir in meinem bisherigen Leben bekannten Opfer seines, meines sowie unser aller Rückzugs ins eigene Selbst wurde. Von dieser Tatsache wird ab sofort unser Weiterleben bestimmt werden.

Ja, er ging in letzter Zeit nicht mehr so oft ans Telefon und bat mich einige Male zu warten, bis er sein Hörgerät eingeschaltet hatte. Ich war so dumm, darauf zu warten, statt mir selbst eines zu besorgen. Denn in der Tat bin ich der wirklich Taube gewesen. Zumindest ist es ihm gelungen, mich auf den Weg nach Agliano zu bringen. Nicht mehr, aber auch nicht
weniger!

Dieter Schlesak: Das Treffen mit ihm hat mir gezeigt – als es unbedingt notwendig war –, wie klein und unbedeutend, wenn überhaupt sichtbar ich in dem Register des ewigen Notars, der Zeit, bin. Wie lange wird er über uns schreiben? Wie lange ist er bereit, uns zu ertragen? Wie lange braucht er uns? Braucht er uns überhaupt? Wofür? Trotzdem: Was für ein fantastisches Abenteuer! Unsere Reise zwischen zwei unbekannten Bahnhöfen, ohne zu wissen, wann alles anfängt und endet, wer die Reisekosten übernimmt, was mit den Hinterbliebenen passiert, was auf all dieses, so geliebt und gehasst, folgen wird. Und dennoch der Nabel der Erde zu bleiben, die sich immer wieder neu entdeckt findet, um unseren Egozentrismus zu streicheln.

Vor fast 85 Jahren führten für ihn alle Wege der Erde und des Himmels nach Schäßburg/Sighişoara. Es folgte Bukarest. Dann Stuttgart. Nun heißt die Hauptstadt der Welt Camaiore. Agliano. Die Zeitlose?

(Ich suche etwas, das ich selbst lesen möchte, und schreibe es mir auf; löse Gedichte wie eigne Rätsel, verständlich für einige, gebe sie auf. Auch wenn der Tod wie die Zeit droht. Ein Liebesbrief wäre die beste Erregung, um zu verstehen, was nicht ist.)

WER HAT MICH OBEN AN DEN BRÜCHEN ERKANNT?

Die Zeitlose
droht

Dröhnen von draußen Scheiben klirren zitternd ein Vogel
am Fenster mit mir

so treten wir an/ ohne Nachricht taub

von fern ein Dröhnen
Kräfte Wirbel die schon die Schläge vorbereiten die Nähe
die Sachen fesseln dagegen körpereng

die Augenblicke gehn
aus dem ertrunknen Meer das droht unfrei an Land

wer sie bezeichnen könnte
wäre tot

Habe ich tatsächlich deine letzten Texte gesehen, mein lieber Dieter Schlesak? Vielleicht. Verstehen kann ich alles immer noch nicht. Ich finde alles zu unerwartet, irreal, ungerecht … Einige unter dem Titel „SENSE. Die letzten Reisegedichte und Texte“ gesammelten Gedichte sind 1978 datiert. Warum „die letzten“, verstehe ich genauso wenig wie vieles andere. So lange sollest du unter dem Terror des un- (oder doch) erwarteten Treffens mit Charon gelebt haben? Auch die Frau, die mehr als 50 Jahre an deiner Seite stand, scheint noch vieles nicht zu verstehen, sondern so, wie es ist, zu akzeptieren. Sie leidet grausam, aber zeigt es nicht, klagt keinen Moment. Eine echte Grande Dame. Wie die Berge im Hintergrund, die Schneemützen tragen, obwohl schon Sommer ist: aus Stein, aber gleichzeitig extrem zerbrechlich. Sie ist fest entschlossen, auch ihren letzten Lebensabschnitt hier zu absolvieren. Sie wird es tun, wie du es an ihrer Stelle getan hättest.

Erleichterung, vorsichtig, vorsichtig, Unglücksfälle sind möglich, Sturzgeburten, Blutstürze. Dreiviertel acht ist das Kind da … furchtbare Angst beim Abtrennen, Gefühl des Erstickens, Atemnot, Form der Einfachheit, ein Jauchzen –
Leben? Noch ist der Große Schatten, der seit einem Jahr über der Welt steht, nicht da, doch eine Kontur schon in den Wolken von Westen her ist erkennbar, wie eine Schmerz­linie am Himmel, ein Riesengesicht auch, das mit spitzen Zähnen in den Himmel beißt, sodass die Vögel schreien und davonfliegen; das alles wird sich entfalten wie ein fledermausartiges Geschöpf – jetzt aber noch Stille und Morgenkühle, schöne Idylle, Ruhe, von wem behütet der noch fast Ungeborene, der sich zum Dasein bequemen soll, schreiend vorerst, „wie am Spieß“, sagte der junge Vater: „Was er denn hat, der Junge?“
Ich aber friere erbärmlich …

Habe ich tatsächlich deine letzten Texte gesehen? Bestimmt
nicht.

Ich hatte mir gerade die Finger verbrannt, als ich versuchte zu erfahren, was du uns noch oder nicht sagen wolltest. Ja, wie ein unverschämter Dieb legte ich meine Hand auf einige Gegenstände, die du auf deinem Schreibtisch liegen ließt: Sie waren alle noch warm. Dein letztes Gedicht jedoch scheint eine Rose zu sein, die plötzlich in einem Garten der Toskana aus dem Boden spross. Sieht das Paradies wie ein Garten in der Toskana aus? Oder vielleicht die Hölle? Ich weiß es nicht, aber mir wurde erlaubt, dieses Wunder selbst mitanzusehen durch das Fenster deines Arbeitszimmers. Kein Buch der Welt hätte es schöner fassen können.

Ob meine Finger auch etwas anderes als deine Wärme entdeckt haben, weiß ich leider – oder Gott sei Dank – (noch) nicht: Die Dornen der Rose wollten unbedingt meine verbrannten Finger auf ihre eigene Art behandeln.

bevor du zum Thema kommst
irrst du ab
und lebst

Welch ein Irrtum, Dieter Schlesak!
Gelebt.
Geliebt.
Das auf dem Schreibtisch liegende Tagebuch:

Dott. Amoroso
Con gratitudine
Dieter Schlesak
01. 2019 Camaiore

24./25. Januar 2019: Traum von meiner Hinrichtung […]

13. März 2019: Traum von Celan […]

Ein gelber Post-it-Zettel:

Was tun? Pop Traian?

So etwas wurde mir erlaubt zu lesen … Es ist nur ein kleiner Teil von allem, was ich unter meinen Augenlidern verstecken konnte. Und nun? Was tun, Dottore Amoroso?

Vor ungefähr einem Jahr hat uns Dieter Schlesak drei Lyrikbände und einen Roman zur Veröffentlichung angeboten. Davon haben wir nun für Sie einige Gedichte und ein Prosafragment ausgewählt.

„Es war einmal in Schäßburg“ und „Drăculea ist nicht Dracula“: Die zweí Buchbesprechungen von Barbara Zeizinger beschäfti­gen sich mit dem letzten Teil von Dieter Schlesaks Transsylvani-scher Trilogie – TranssylWAHNien und Vlad, der Todesfürst. Die Dracula-Korrektur – sowie mit dem Roman des Romans:
Der Tod und der Teufel.
Anton Sterbling ergänzt den literarischen Teil zu Dieter Schle­sak mit seinen Gedanken über eine wichtige Facette von dessen Werk:

Zu Dieter Schlesaks sehr zutreffend formulierten These der „Entpolitisierung durch Überpolitisierung“, die vielfach zu einer „Politik- und Geschichtsverhinderung“ und zugleich zu einem indifferenten Opportunismus führte, wird unter anderem befunden: „Politik gibt es also im Land selbst immer noch nicht; was es gibt, ist Herrschaft.“ Und: „Erziehung zum Unpolitischen: Erwünscht ist sozialistisches Untertanendenken. Meinungsaustausch, offene Diskussion in Versammlungen, in Massenmedien ist unerwünscht, ja, verboten.“
Im kurzen dritten Hauptteil des Buches geht es vornehmlich um Vergleiche der Anpassungsmechanismen und der da-
mit erzeugten Deformationen („Infektionen“) in Ost und West […].

Außerdem versuche ich, Ihnen Dieter Schlesak mit ein paar Bildern näherzubringen. Mehr in unseren nächsten Ausgaben von MATRIX und BAWÜLON sowie in den geplanten Neuerscheinungen. Und nicht zuletzt in der vom POP-Verlag angekündigten Werkausgabe.

Georgien trat im Oktober 2018 als Hauptdarsteller auf die Bühne der größten Buchmesse der Welt in Frankfurt. Ich weiß nicht warum – wie schon so oft gesagt –, aber die Tatsache, dass ein Kleinverlag, nämlich POP aus Ludwigsburg, dort mehr Neuerscheinungen aus der georgischen Literatur präsentiert hat als alle anderen Verlage aus dem deutschen Sprachraum insgesamt, wurde von fast allen Medien einfach übersehen. Trotzdem erschien 2019 ein weiterer Titel eines wichtigen Vertreters der georgischen Literatur: Goderdsi Tschocheli. Daraus veröffentlichen wir nun eine Kurzprosa. Und Bela Tsipuria, eine bekannte Uni-Professorin aus Tbilissi, schrieb für uns einen ausführlichen Essay über den Autor und sein Werk. Beide Texte wurden von Maja Lisowski ins Deutsche übersetzt.

Wie in der letzten Nummer feiern wir auch in dieser das 15-jährige Jubiläum des POP-Verlags. Diesmal mit Materialien zu Peter Rühmkorf (einem Essay von Theo Breuer und einem Interview von Francisca Ricinski), einem Romanausschnitt von Johann Lippet und Kurzprosa von Eje Winter.

Antworten auf „die zwei großen Aspekte unseres Lebens: Wie sollen und können wir leben und wozu? Und: Was kommt danach?“ findet Ulrich Bergmann in seinen Gedanken zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“. Edith Ottschofski will (und schafft es) mit einigen Gedichten, uns nach London mitzunehmen, während Ngo Nguyen Dung uns Die Erkenntnisse der Genitive und seines Lebens mitteilt. Die Karpateske Nach-Lese von Carmen Elisabeth Puchianu und ein Fragment aus Edith Lutz’ Roman Einer aus Wiesendorf schließen unsere Literatur-Ausstellung.

Das Schlusswort haben wie immer unsere Rezensenten. Uli Roth­fuss, Wolfgang Schlott und Edith Ottschofski haben für uns Bücher von Isaku Yanaiharas (Mit Alberto Giacometti), Franck Maubert (Caroline. Alberto Giacomettis letztes Modell), Michaela Debastia­ni (Frauenherz), Goderdsi Tschocheli (Eine Krähe für zwei), Ngo Nguyen Dung (Tausend Jahre im Augenblick) und Ioana Nicolaie (Der Himmel im Bauch) gelesen. Außerdem kommt unser Berichterstatter aus der Stuttgarter Kulturszene, Widmar Puhl, zu Wort, der über eine Schmutzkampagne gegen SWR-Chefdirigenten, ein Symphoniekonzert plus x und ein Internationales Friedenskonzert in Stuttgart schreibt.

Mehr passte in diese – schon wieder opulente – Ausgabe nicht hinein. Die nächste aber steht vor der Tür.

Ihr Traian Pop

Es signiert: • Dieter Schlesak • Anton Sterbling • Barbara Zeizinger • Goderdsi Tschocheli • Bela Tsipuria • Eje Winter • Johann Lippet • Francisca Ricinski-Marienfeld • Theo Breuer • • Peter Rühmkorf • Ulrich Bergmann • zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ • Edith Ottschofski • Carmen Elisabeth Puchianu • Edith Lutz • Uli Rothfuss • Traian Pop • Wolfgang Schlott • Widmar Puhl •

Traian Pop • Editorial / S. 4

Dieter Schlesak • THEOPHANIE. Letzte Reisegedichte und Texte
Traian Pop • Porträts, 2014 . Fotos / S. 11 und S. 12
Dieter Schlesak • Sense . Gedichte / S. 13
Dieter Schlesak • Devachan . Prosa / S. 23
Dieter Schlesak • Sechs Fotos aus dem Privatarchiv des Autors, 1934–2009 / S. 53
Traian Pop • Linde Birk, die Frau, die immer an Dieter Schlesaks Seite stand und stehen wird . Foto / S. 58
Traian Pop • Dieter Schlesaks Tagebuch . Foto / S. 60
Traian Pop • Vor der Reise: Dieter Schlesaks letzte Notiz . Foto /
S. 62
Barbara Zeizinger • Es war einmal in Schäßburg. Der letzte Teil von Dieter Schlesaks Transsylvanischer Trilogie / S. 63
Barbara Zeizinger • Drăculea ist nicht Dracula. Zu Dieter Schle-saks Vlad, der Todesfürst. Die Dracula-Korrektur und Der Tod und der Teufel / S. 66
Anton Sterbling • Dieter Schlesak – Erinnerungsfragmente / S. 70
Traian Pop • Dieter Schlesaks Schreibtisch . Foto / S. 86
Traian Pop • Hier fängt die letzte Reise an: Dieter Schlesaks Ruhe-
stätte . Foto / S. 87

Die Welt und ihre Dichter
Goderdsi Tschocheli • Ein Brief an die Tannen . Prosa / S. 89
Bela Tsipuria • Der magische Realismus bei Goderdsi Tschocheli /
S. 103
Francisca Ricinski-Marienfeld • Peter Rühmkorf, 2009 . Fotos / S. 112 und S. 120
Theo Breuer • Peter Rühmkorfs Gedichtbuch Wenn – aber dann von 1999 – haltbar bis heute (und darüber hinaus) / S. 113
Francisca Ricinski-Marienfeld sprach mit Peter Rühmkorf: „Als Richter über den Dichter tauge ich nicht“ / S. 117
Johann Lippet • Franz, Franzi, Francisc . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman / S. 129
Eje Winter • der ort der verwandlung . die geschichte mit valentin . Prosa / S. 143
Ulrich Bergmann • EX ORIENTE LUX. Gedanken zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ / S. 149

Atelier
Edith Ottschofski • Sechs Gedichte / S. 159
Ngo Nguyen Dung • Die Erkenntnisse der Genitive und meines Lebens / S. 165
Carmen Elisabeth Puchianu • Nach-Lese. Eine kleine Karpateske .
Prosa / S. 169
Edith Lutz • Einer aus Wiesendorf . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman / S. 177

Bücherregal
Uli Rothfuss • Alberto Giacometti . Zwei neue, grandiose Annäherungen an ein Kunstgenie – Isaku Yanaihara: Mit Alberto Giacometti und Franck Maubert: Caroline. Alberto Giacomettis letztes Modell / S. 199
Uli Rothfuss • Michaela Debastiani: Frauenherz / S. 201
Wolfgang Schlott • Goderdsi Tschocheli: Eine Krähe für zwei / S. 204
Wolfgang Schlott • Ngo Nguyen Dung: Tausend Jahre im Augen­blick / S. 208
Edith Ottschofski • Ioana Nicolaie: Der Himmel im Bauch / S. 211

Aus der Kulturszene
Widmar Puhl • Schmutzkampagne gegen SWR-Chefdirigenten? /
S. 213
Widmar Puhl • Internationales Friedenskonzert in Stuttgart: „Touch!“ / S. 215
Widmar Puhl • Symphoniekonzert plus x mit Currentzis / S. 217

 

MATRIX 1/2019 (55) • Eginald Schlattner •

Ciudat, dar îmi vine să scriu româneşte …
Komisch, aber ich hätte Lust, rumänisch zu schreiben … Denn ich lerne Rumänien auch dank einiger deutscher Freunde besser ken-
nen. Ich, der geborene Rumäne, der jetzt – als Verleger ein „Wiederholungstäter“, der immer wieder an den „Tatort“ zurückkehrt – ein Editorial schreiben muss.
Nun, so wie ich mich wahrscheinlich zig Mal geäußert habe, ohne besonders hervorzuheben, dass alles, was ich Ihnen mitteile, nur meiner Realität entspricht – um Ihnen das Gefühl zu geben, dass
es sich bei meinen Aussagen um eine allgemein verbindliche
Sicht der Dinge handelt –, muss ich nun betonen, dass alles, was ich im Folgenden erzähle, stimmt.
Ich bin nicht mehr der Jüngste. Als mein Vater noch lebte, habe ich mal seine Jacke und seinen Mantel anprobiert. Danach traute ich mich, in seine Haut zu schlüpfen. Als mein Bruder von einer Lawine verschüttet wurde und starb, bat ich meinen Vater, seine Haut zu verlassen, um in die Haut meines Bruders zu schlüpfen.
Er sagte nichts, aber ich konnte nur mit seiner Haut in die Haut meines Bruders schlüpfen. Die Szene wiederholte sich, als meine Mutter mich aufforderte, in ihre Haut zu schlüpfen.
Warum ich Ihnen all dieses sage? Weil ich gerade mit meinen eigenen Fehlern konfrontiert bin. Und mit den Fehlern meines Vaters. Und mit den Fehlern meines Bruders. Und mit denen meiner Mutter. Meines Erachtens schaffte ich es nie, meine bisherigen Fehler zu vermeiden. Ebenso wenig wie die Fehler von Vater, Bruder oder Mutter. Noch schlimmer: Meine Kinder haben – soweit ich das mitbekommen habe – nie etwas aus meinen Fehlern gelernt, ob-wohl ich immer wieder vorgesorgt habe, genauso wie mein Vater und meine Mutter … Anders gesagt: Ich habe es nicht geschafft, meine Kinder besser als mich werden zu lassen.
Hätte ich das machen müssen? Wäre diese Welt besser, wenn zum Beispiel meine Kinder kein Flugzeug besteigen würden, da es
umweltschädlich, außerdem gefährlich und absolut ungesund ist – vor allem, wenn man bedenkt, dass mein Vater, der Pilot war, an Krebs starb und lange Zeit gar nicht gemerkt hatte, wie sich die
Radar-Strahlung auf seinen Körper auswirkte? Würde es meinen
Kindern besser gehen, wenn sie auf Fast Food verzichteten, weil es
ungesund ist? Würden sie ruhiger schlafen, wenn sie kein Handy benutzen würden und kein Bluetooth und kein WLAN, weil man nicht
sicher sein kann, was für einen Schaden dies alles nach sich zie-
hen könnte? Würden Sie länger leben, wenn Sie das Skifahren auf-
gäben, weil nicht nur mein Bruder, na ja, dabei erwischt wurde … Würden meine Kinder einen besseren Job haben, wenn sie nicht mehr zur Wahl gingen wie meine Mutter, die alle Politiker ent-
weder für dumm oder für korrupt erklärt hat und schuldig am Tod ihres Mannes wie ihres Sohnes? Wie wäre es ohne das Abenteuer, das Risiko, den Wunsch, etwas Neues zu entdecken, zu erleben, zu versuchen? Eine Gesellschaft von gealterten Kindern, eine
Geschichte ohne Vergangenheit und Zukunft, ein Zahnrad, das sich selbst genug ist, um selbstverliebt zu entscheiden, wann es
sich nicht mehr drehen mag?
Schön, werden einige von Ihnen sagen, schön wäre, wenn alle
Horrortaten, die von Menschen an Menschen – um nicht noch
an die Zerstörung der Umwelt zu erinnern – verübt werden, ein für alle Mal verschwinden würden: endlich Gerechtigkeit! Warum sollte es wie gewohnt weitergehen?
Nun frage ich mich: Wie anders? Gibt es etwas anderes? Gibt es tatsächlich eine „gute“ und eine „schlechte“ Geschichte? Es sieht so aus, dass wir nur zwischen dieser Mischung aus Versuch, Horror, Abenteuer, Unerträglichkeit, Unvorhersehbarkeit und … dem Nichts wählen dürfen.
Wie gesagt, ich höre die Stimme meines Bruders, wenn ich etwas über die Berge erzähle oder wenn ich jemandem kategorisch widerspreche – nur um ihm zu widersprechen. Die Stimme meiner Mutter höre ich, wenn mein Körper schmerzt, weil ich
sie so sehr vermisse. Die Stimme meines Vater höre ich, wenn ich unserem Enkelkind zu erklären versuche, wie man eine eingefro-
rene Militärmaschine startklar macht mithilfe einer Roma-Band, die Csárdás-Tänze spielt, und mit einem Viertel Palinka.
Ja, ich hätte gern rumänisch schreiben wollen …
Komisch? Nicht unbedingt, wenn ich an diese MATRIX-Ausgabe denke, die mich in einen Ausnahmezustand versetzt hat.
Wundern Sie sich nicht: Ich lerne gerade eine wunderbare Facette Rumäniens kennen dank eines der besten dort geborenen deutschsprachigen Schriftsteller. Ich lerne gerade eine wunderbare Facette Europas und der Welt kennen dank eines evangelischen Pfarrers und Gefängnisseelsorgers aus Rumänien. Ich lerne gerade mich kennen: so ängstlich, neidisch, schwach, gierig, unbedeutend usw., aber deswegen doch froh, glücklich und unternehmungslustig. Und vor allem voller Lust, ins Auto zu steigen und nach Rothberg/Roşia zu fahren. Um Freude und Frieden zu tanken. Binecuvântat să fie cel ce mi-a îndreptat paşii spre dumneavoastră! Gelobt sei jener, der meine Schritte zu Ihnen gelenkt hat, Eginald Schlattner! Und ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich nun – so „klein und mit sprudelndem Kopf“, wie ich mich fühle –, nicht in der Lage bin, etwas anderes zu tun, als unseren Lesern zu empfehlen, Ihre
Bücher so schnell wie möglich zur Hand zu nehmen.

Liebe Leserinnen und Leser, ich freue mich, Ihnen diese besondere Ausgabe, die Eginald Schlattner, den erfolgreichsten deutschen Autor aus Rumänien, als Schwerpunk hat, präsentieren zu dürfen. Es signieren: Eginald Schlattner, Sigurd Paul Scheichl, Michaela Nowotnick, Edith Konradt, Karl-Markus Gauß, Eva László-Herbert, Gabriela Sonnenberg, Andreea Dumitru, Christoph Klein, Matthias Buth, Traian Pop Traian, Frieder Schuller, Gabriella-Nóra Tar, Cord Meier-Kloth, Emil Hurezeanu und Mirona Stănescu.

Dazu gibt es einen starken Lyrik-Teil zum 100. Geburtstag von
Hans Bender mit seinen letzten Vierzeilern, begleitet von einem Essay von Theo Breuer.

Und vergessen Sie bitte nicht, uns auf der Leipziger Buchmesse, Halle 4. E213 zu besuchen. Die vorliegende Ausgabe wird am Sonntag, 24. März 2019, im Café Europa, Halle 4, E401 um 13.00 Uhr von Edith Konradt, Herausgeberin dieses MATRIX-Schwerpunktes und Lektorin von Eginald Schlattners Buch Wasserzeichen, vorgestellt.
Traian Pop

Es signiert: • Eginald Schlattner • Man verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handle so, dass die Leiden den Ort verlassen • Sigurd Paul Scheichl • Michaela Nowotnick • Karl-Markus Gauß • Christoph Klein • Eva László-Herbert • Gabriela Sonnenberg • Andreea Dumitru • Matthias Buth • Traian Pop Traian • Frieder Schuller • Gabriella-Nóra Tar • Cord Meier-Kloth • Emil Hurezeanu • Mirona Stănescu • Harald Gröhler • Wolfgang Schlott • Hans Bender • Letzte Vierzeiler • Theo Breuer •

Editorial / S. 4

Die Welt und ihre Dichter

Eginald Schlattner • Man verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handle so, dass die Leiden den Ort verlassen
Eginald Schlattner • Und … / S. 7
Sigurd Paul Scheichl • „Wie an den Lagerfeuern der Karawan-
sereien“. Eginald Schlattner – ein exotisches Kuriosum? Zur Schlattner-Rezeption in den deutschsprachigen Ländern / S. 27
Michaela Nowotnick • Vom Büchermachen / S. 51
Eginald Schlattner • im Gespräch mit Edith Konradt über seinen Debütroman Der geköpfte Hahn: „Eindeutigkeit gibt es nur um den Preis des Irrtums“ / S. 57
Eginald Schlattner • Maghrebinische Zwischenräume / S. 65
Eginald Schlattner • Vom Dorfweiher zum Königsschloss. Ein modernes Märchen und mehr / S. 72
Karl-Markus Gauß • Brief an Eginald Schlattner / S. 75
Eva László-Herbert • Geballte Klarsicht und die bittersüße Poetik
der Erinnerungen eines Mitteleuropäers / S. 77
Gabriela Sonnenberg • Gespiegelt im Fluss der Erinnerungen. Gedanken zu Eginald Schlattners Buch Wasserzeichen / S. 79
Andreea Dumitru • „Erlebte, gelebte Wirklichkeit“. Eginald Schlatt-
ners neues Buch Wasserzeichen / S. 89
Christoph Klein • Mythische Erinnerungsorte in Eginald Schlattners Wasserzeichen / S. 95
Eginald Schlattner • Bericht des evangelischen Gefängnispfarrers /
S. 125
Eginald Schlattner • Ja nicht Ja. Walther Gottfried Seidner zum 80. /
S. 145
Eginald Schlattner • Fackeln im Schnee / S. 159
Matthias Buth • Gemeinde / S. 167
Traian Pop Traian • Ultima ninsoare / Der letzte Schnee / S. 170
Frieder Schuller • Rothbach zur Neige / dr. honoris ruffimontanus /
S. 173
Eginald Schlattner • Post festum. Zur Verleihung des Ehrendoktor-
titels am 12. November 2018 in der Johanniskirche zu Hermannstadt / S. 176
Gabriella-Nóra Tar • Laudatio zur Verleihung des Ehrendoktortitels an Pfarrer Eginald Schlattner / S. 183
Eginald Schlattner • Der Fremdling im Tor. Akademische Ansprache beim Festakt zur Verleihung des Ehrendoktortitels / S. 192
Eginald Schlattner • Tränen in vielen Sprachen / Lacrimi în multe
limbi. Deutsche Übersetzung der rumänischen akademischen Ansprache / S. 207
Cord Meier-Kloth • Ansprache in der Begegnungsstätte „Bischof Friedrich Teutsch“ / S. 224
Emil Hurezeanu • Ansprache in der Begegnungsstätte „Bischof Friedrich Teutsch“ / S. 228
Mirona Stănescu • Ansprache in der Begegnungsstätte „Bischof Friedrich Teutsch“ / S. 231

Hans Bender • Letzte Vierzeiler
Theo Breuer • Vertraute Wörter, Rhythmen, Reime. Zum 100. Ge-
burtstag von Hans Bender / S. 234
Hans Bender • Hinter die dunkle Tür. Zwanzig Vierzeiler / S. 237

Bücherregal
Harald Gröhler • Dato Barbakadse: Wenn das Lied sich vom ermüdeten Körper befreit / S. 243
Wolfgang Schlott • Helmut K. Seitz / Ingrid Thoms-Hoffmann: Die berauschte Gesellschaft. Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich / S. 247

MATRIX 4/2018 (54) • 15 Jahre Literaturverlag •

Vor 15 Jahren habe ich mir erlaubt, einen Verlag zu gründen. Eine größere Sünde hätte ich nicht begehen können, lieber Gott der Literatur und Kunst!
Ich gestehe: Meine Sünde betrifft mehr als 400 angenommene Manuskripte, und ich habe immer noch nicht genug davon, trotz meines Alters, meiner fehlenden Kräfte und Kapazitäten. Ich habe mich in mehr als 400 Autorinnen und Autoren verliebt, sogar in jene, die mir und meinem Verlag nicht wohlgesonnen waren, und mit allen – ohne Ausnahme – mein Leben geteilt: mit Tausenden von Prosastücken und noch mehr Gedichten sowie Texten aller Art über Literatur und Kunst. Mit Luther gesprochen: Hier verlege ich und kann nichts anders! Was für eine Anmaßung, lieber Gott der Literatur und Kunst!
Einen Ausspruch des geschätzten Verlegers Kurt Wolff habe ich mir von Anfang an als Maxime auserkoren: „Man verlegt entweder Bücher, von denen man meint, die Leute sollen sie lesen, oder Bücher, von denen man meint, die Leute wollen sie lesen. Verleger der zweiten Kategorie, das heißt Verleger, die dem Publikumsgeschmack dienerisch nachlaufen, zählen für uns nicht – nicht wahr?“ Dieses Zitat ist zugleich Motto und Leitfaden meiner verlegerischen Ambitionen. „Geht es noch?“, wirst du, lieber Gott, bestimmt fragen.
Nun folgt aber etwas, das alle Erwartungen übersteigt: Der Verlag ist unabhängig und macht davon im Dienste der Förderung der Literatur auch im Sinne der Zusammenführung europäischer Autoren und Literaturen mit Sorgfalt und Verstand Gebrauch, und zwar aus Überzeugung und Vergnügen, mit Augenmaß und Ernsthaftigkeit, auf eigene Kosten und mit einem eigenen, unverkennbaren Verlagsprofil.
Verzeih mir, lieber Gott, wenn ich ergänze, dass der Aufwand für Lektorate, Druckkosten, Messestände usw. nicht nur beträchtlich, sondern auch immer höher war als die Einnahmen und mich an die Grenzen des Machbaren und der Existenz geführt hat. Mit der vorliegenden Beichte der umfassenden literarischen Sünden des Pop-Verlags und dessen Betreiber lege ich mein Herz in deine Hände, auch wenn es schwach ist, verrückt und immer noch bereit zu sündigen, trotz regelmäßiger ärztlicher Behandlungen.
Eine Sünde ist natürlich auch die Tatsache, dass es sich beim Pop-Verlag de facto um einen „Ein-Mann-Verlag“ handelt – was fälschlicherweise vermuten lassen könnte, dass die verlegerische Arbeit (Romane, Lyrik, Essays, Übersetzungen aus Literaturen anderer Länder, Reisebeschreibungen etc.) nicht professionell erfolgt. Dazu lässt sich nur anmerken, dass das Gegenteil der Fall ist.
Könntest du bitte, lieber Gott, unseren Autoren zuflüstern, dass der Pop-Verlag mit Stolz auf seine lange Reihe von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern Europas und den USA blickt, auf namhafte, vielfach international prämierte Schriftsteller mit allerhöchsten ästhetischen Ansprüchen (deren Werke zum Teil auch verfilmt wurden): die weltbekannte rumänische Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Ana Blandiana, Friederike Mayröcker, Eginald Schlattner, Hans Bender, Orhan Kemal, Orhan Pamuk oder Herta Müller, aber auch Klaus Martens, Richard Wagner, Dieter Schlesak, Johann Lippet, Horst Samson, Dieter P. Meier-Lenz, Badri Guguschwili, Dato Barbakadse, Jan Goczol, Dimiter Dublew, Haadaa Sendoo, Robert Şerban und viele andere, darunter auch bekannte Größen aus der Region wie Imre Török, Barbara Zeizinger, Reiner Wedler, Uli Rothfuss oder Norbert Sternmut. Dazu Übersetzer von Ruf aus dem Amerikanischen, wie Klaus Martens, oder aus dem Rumänischen, wie Ernest Wichner, Gerhard Csejka, Georg Aescht oder Edith Konradt, die für den Pop-Verlag arbeiten. Mit welch sündhaftem Engagement ich den Verlag betreibe, zeigt nicht zuletzt auch der seit 2014 jährlich vergebene Debüt-Literaturpreis zur Förderung von jungen/neuen Autoren.
Doch das ist bei Weitem nicht alles. Das literarische Sünden-Programm wird flankiert von der Herausgabe zweier Literaturzeitschriften – „Matrix“ und „Bawülon“ –, jede Ausgabe mit durchschnittlich 200 Seiten, die regelmäßig viermal pro Jahr erscheinen. Und dies ohne Zugeständnisse an die literarische Qualität, sodass eine ständige Präsenz auf den Literaturbühnen nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in ganz Deutschland, ja, auch in Europa gewährleistet ist.
Selbstverständlich sündigt der Pop-Verlag auch bei den Buchmessen in Frankfurt und in Leipzig, wo er jeweils mit einem eigenen Stand vertreten ist, um die Neuerscheinungen auch in Form von Autorenlesungen dem interessierten Publikum zu präsentieren.
Bei diesem umfassenden Programm und Konzept käme niemand auf die Idee, dass es sich beim Pop-Verlag in der Tat um einen Kleinstverlag handelt, hinter dem im Prinzip nur eine einzige Person steht, die – um das anspruchsvolle verlegerische Programm finanzieren zu können – bis vor kurzem auch noch einer geregelten Erwerbstätigkeit als Elektronikingenieur nachgegangen ist.
Verehrter Gott der Literatur und Kunst, es lässt sich aus der Ferne nicht im Leisesten ermessen, aber gewiss erahnen, wie viel Herzblut, Energie und Arbeit ich in diesen Verlag stecke! Ich bin auch dankbar, dass es mir immer wieder aufs Neue gelingt, einzelne Schriftsteller für Korrekturen oder für die Vorauswahl literarischer Texte als aktive Helfer einzubinden. Doch die Hauptsünde – von der Textauswahl über das Layout, die Gestaltung der Buchumschläge und die Druckvorbereitung bis hin zum Vertrieb – kann mir ohne deinen Willen niemand abnehmen.
Lieber Gott der Literatur und Kunst, verzeih mir, aber ich halte die Verlagsarbeit mit dem 15-jährigen Jubiläum keineswegs für abgeschlossen, vollendet, sondern bin bereit, auch künftig all meine Energie, Kraft und Ambitionen, mein Wissen und Können in diese wunderbare Tätigkeit zu investieren. Denn ich bin mir sicher: Ganz dagegen kannst du nicht sein. Wie sonst hätte ich die Menge an Autoren und Freunden, Texten und Bildern, Freude und Ärger, Arbeit, Schulden, Krankheiten und allem, was sonst noch dazugehört, bewältigt? Ich danke dir, dass du mir dies alles gewährst!
Und, lieber Gott der Kunst und Literatur, was wäre ich ohne die Redaktionsmitglieder (deren Namen und Funktionen du auf der ersten Seite jeder Ausgabe lesen kannst)? Diese Frage bedarf – selbstredend – keiner Antwort, und ich sage, schlicht und (hoffentlich) ergreifend: DANKE.
Ich danke auch allen Autorinnen und Autoren sowie Leserinnen und Lesern, ohne die es den POP-Verlag nicht gäbe, und bitte sie, an unserem Fest teilzunehmen. Auf der Bühne stehen diesmal: Dieter Schlesak, Orhan Kemal, Orhan Pamuk, Kalosh Çeliku, Uli
Rothfuss, Theo Breuer, Francisca Ricinski, Barbara Zeizinger, Klaus Martens, Mićo Cvijetić, Benedikt Dyrlich, Ngo Nguyen Dung, Holger Benkel, Peter Frömmig, Horst Samson, Ulrich Bergmann, Wolfgang Schlott, Marco Sagurna, Mark Behrens, Karl Wolff, Elke Engelhardt, Eric Giebel und Widmar Puhl.
Traian Pop

Es signiert: • Dieter Schlesak • Orhan Kemal • Orhan Pamuk • Kalosh Çeliku • Uli Rothfuss • Theo Breuer • Francisca Ricinski • Barbara Zeizinger • Klaus Martens • Mićo Cvijetić • Benedikt Dyrlich • Ngo Nguyen Dung • Holger Benkel • Peter Frömmig • Horst Samson • Ulrich Bergmann • • Marco Sagurna • Wolfgang Schlott • Mark Behrens • Karl Wolff • Elke Engelhardt • Eric Giebel • Widmar Puhl • 

Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

• 15 Jahre Literaturverlag Traian Pop •
Dieter Schlesak • Zwölf Gedichte / S. 7
Orhan Kemal • Die 72. Zelle . Prosa. / S. 23
Orhan Pamuk • Die Lebensbejahung Orhan Kemals / S. 29
Kalosh Çeliku • Dreizehn Gedichte / S. 31
Uli Rothfuss • nachrichten aus einem land im dauernden ausnahmezustand – die gedichte von kalosh çeliku / S. 39
Theo Breuer • Zehn Gedichte / S. 42
Francisca Ricinski • Acht Gedichte / S. 53
Barbara Zeizinger • der ort der verwandlung . die geschichte mit valentin / S. 61
Klaus Martens • Das Übliche, mit Variationen: Ein weiteres Kapitel / S. 67
Mićo Cvijetić • Sechs / S. 75
Benedikt Dyrlich • Begegnungen mit Mićo Cvijetić / S. 81
Ngo Nguyen Dung • Auszug aus „Tausend Jahre im Augenblick“ / S. 85
Holger Benkel • wohnräume der poesie: Theo Breuer · Zischender Zustand · Mayröcker Time / S. 95

Zeitgeschichte
Peter Frömmig • Mythos und Wirklichkeit revolutionärer Zeiten. Die 1968er Bewegung und ihre Folgen. / S. 103
Horst Samson • Umherirren in der Fremde · Die Bulhardt-Affäre – Der Anfang vom Ende des Literaturkreises „Adam Müller-Guttenbrunn“ / S. 114
Ulrich Bergmann • Der Bonner Bücherkarren / S. 137

Atelier
Wolfgang Schlott • Dreizehn Gedichte / S. 148
Marco Sagurna • Zehn Gedichte / S. 155
Mark Behrens • Chimären und andere Seltsamkeiten . Gedichte und Geschichten / S. 165
Karl Wolff • Warum ich Nationalhymnen brauche . Vier Prosa-
stücke. / S. 176

Bücherregal
Elke Engelhardt • Zurückhaltung im Dienst der Tiefe . Michael Hillen, Antonia und andere Frauengeschichten / S. 181
Elke Engelhardt • Landgewinnung durch Poesie . Francisca Ricinski, In deinen Schuhen voller Sand / S. 184
Eric Giebel • Diskrete Poesie . Michael Hillen, Antonia und andere Frauengeschichten / S.187
Eric Giebel • Zwei georgische Lyrikerinnen . Bela Chekurishvili und Irma Shiolashvili / S. 189
Wolfgang Schlott • Helmut K. Seitz / Ingrid Thoms-Hoffmann, Die berauschte Gesellschaft. Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich. / S.189

Aus der Kulturszene
Karl Wolff • 30-jähriges Jubiläum der Gesellschaft zur Förderung der deutsch-russischen Beziehungen Münster / Münsterland e.V. / S.193
Widmar Puhl • Liechtenstein wie noch nie: 40 Jahre PEN Club. / S.197

MATRIX 3/2018 (53) • Kreuz und quer – Literatur aus Rumänien •

„Jedoch: Ist ein Buch gedruckt, gehört es nicht mehr dem Verfasser an. Es ist in die Hände der Welt gelegt. Und verwandelt sich im Guten, im Unguten durch die, die es lesen, wächst auf alle Fälle über sich hinaus.“
Eginald Schlattner

Zauberer des Wortes

Sie sind Zauberer des Wortes und einige von ihnen schon lange nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch über deren Grenzen hinaus bekannt. Einige sind – sonderbarerweise – im Ausland sogar bekannter und beliebter als zu Hause. Und einige warten noch darauf, entdeckt zu werden. Sie kommen alle aus Rumänien. Nicht nur, aber auch deswegen bieten wir ihren Werken so viel Platz wie möglich in unserer MATRIX, einer Veröffentlichung des – wie einer der eloquentesten Schriftsteller Rumäniens und gleichzeitig des deutschsprachigen Raumes bemerkt hat – „vielstimmigen Verlags POP, Inhaber Traian Pop, beheimatet in Rumänien, zu Hause in Deutschland“. Und hoffen, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wie viel noch zu entdeckende Literatur aus Rumänien versteckt sich in den Schubladen der Autoren, Übersetzer und Verlage, die mit diesem Land verbunden sind?
So viel darüber, was mir als Initiator dieses Projekts vor etwa drei Jahren durch den Kopf ging, als das Ganze sich noch in der Planungsphase befand. Inzwischen ist vieles passiert und die Leipziger Buchmesse, auf der Rumänien Gastland war, liegt schon einige Monate zurück, doch fertig sind wir mit unserem Vorhaben noch lange nicht. Und werden, wie es aussieht, nie damit fertig sein.

Alltag des Schreibens

Eginald Schlattner, ein im Dörfchen Rothberg bei Hermannstadt/Sibiu lebender siebenbürgischer Autor und evangelischer Pfarrer, dessen letztes Buch Wasserzeichen definitiv zu den besten Titeln des Jahres 2018 gehört, eröffnet unsere Gala. In einer „kurzen Darbietung“ zu Wasserzeichen schrieb er u. a.:
Doch nachdem es heißt, der Heilige Geist Gottes hat sein Wohlgefallen an gelungenen kulturellen Schöpfungen, sage ich: Gott befohlen.
Zu mir ein Wort: Für mich stand das vergangene Jahr unter dem Zeichen von „fallen“, war gezeichnet von „Missfällen“: Arbeitsunfall in der Kirche beim Friedensgebet. Und dann weiter: Nach dem Hinfall unselige Fälle und Vorfälle noch und noch. Auch ein Todesfall.
Nun also: Ausfälle, ja! Aber kein Wegfall: Jeden Sonntag halte ich Gottesdienst, allerdings vor den Menschenkindern aus den Lehmhütten beim Bach. Evangelische Deutsche sind wir noch vier Greise zu begraben. Selbst die Toten sterben aus.
Dazwischen wahrlich das Ganze metaphysisch überhöht von Glücksfällen.
Und wie wir es glauben wollen: Alles in allem kein Unfall! Sondern eine Kette von Fügungen. Denkbar auch als Weg Gottes da hinaus, um nachzudenken, was am Ende der Biografie als Sündenfall benannt werden sollte und vielleicht in letzter Stunde wiedergutgemacht werden kann. Über dem Portal meiner Kirche (1225) steht in Marmorlettern: „Weise mir, Herr, DEINEN Weg.“
Leider Rückfall vor einem Monat, unerträgliche Schmerzen. Es geschah eines Abends wie aus heiterem Himmel, wahrlich ein Überfall. Ich tappe neuerlich mit dem Gestell zwischen Bett, Bad, Büro meines Weges.
Traumziel bleibt, wieder mit dem flotten Krückstock, wie im Sommer, hochgestimmt dahinzuwallen, so z. B. von der Küche bis zur Kirche, unbegleitet!
Ansonsten beschirmt Tag und Nacht die Haustochter Carmen
Bianca Trandafir mit viel Lachen und in Liebe. Die sich vor sieben Jahren, spitalsreif geschlagen, aus der Lehmhütte vom Bach eines Nachts auf den Pfarrhof gerettet hat, wissend um die offene Tür hier. Ich sagte: „Bleib!“
Nach zwölf Jahren ist es so weit: Am 16. März 2018 um 17.30 Uhr stellt Frau Dr. Edith Konradt das Buch vor: „Wasserzeichen“. Leipziger Buchmesse, Stand Rumänien.
Es ist ein letztes Wort am Ende meiner Biografie. Das letzte Wort. Ob und wie es gehört wird?
Zwei Damen befinden, die den Inhalt am Stück kennen und jedes Teilstück dazu: „Die Fülle von springlebendigen Gestalten und oft haarsträubenden historischen Gegebenheiten verdichtet sich zum breiten Zeitgemälde.“ (Edith Konradt) „Langwierig, aber nicht langweilig. Und ,Wasserzeichen‘ kann den übrigen Büchern ‚das Wasser reichen‘.“ (Tamar Ambros)
Auf der Himmelsleiter der Geltungen, gewiss, wünsche ich meinen Büchern einen würdigen Platz. Aber auf den obersten Sprossen der Skala gilt für mich, den Geistlichen, als triftig ungleich anderes. Denn: Meiner Seele Seligkeit hängt nicht von den Büchern ab.
Wie einfach, klar und natürlich. Man versucht das Leben zu leben – egal ob es seine schöne oder weniger schöne Seite zeigt –, bewusst und froh, diese einmalige Chance nutzen zu dürfen.
Haben Sie bitte Verständnis für den Verfasser dieses Editorials, wenn er dem oben Gesagten kaum noch etwas hinzuzufügen hat. Was könnte ich Ihnen denn noch erzählen? Dass sich auch im Dasein eines Schriftstellers vieles um den normalen Alltag dreht? Selbst in Rumänien – wie überall, wo man (noch) schreibt und liest. Es geht – wie Sie den ausgewählten Textbeispielen entnehmen können – um nicht mehr und nicht weniger als um das Leben in dieser Ecke der Welt, das zu weiten Teilen anders war und ist, als man es sich im Westen in vielen klischeehaften Bildern vorstellt, nämlich keineswegs nur Dracula, Bettler, Ceauşescu, Securitate, leere Regale, Plattenbauten und Korruption. Meiner Meinung nach will Eginald Schlattner auf keinen Fall die Siebenbürger Sachsen, die Rumänen, die Ungarn, die Zigeuner – die sich übrigens in Rumänien selbst so nennen und nicht Roma – sowie alle, die dort gelebt haben oder immer noch leben, verteidigen oder verurteilen, er versucht nicht, sich oder andere reinzuwaschen, er lässt nur sein Leben – und alles, was dazugehört – in seine Prosa einfließen. Einfach so, aus Lust am Erzählen. Nicht weil er es so plant, sondern weil er nicht anders kann. Er ist kein gelernter, sondern ein geborener Schriftsteller. Einer mit einem eigenen Stern in der himmlischen Nomenklatur. Was nicht unbedingt heißt, dass er und sein Werk mit bedeutenden Literaturpreisen bedacht wurden. Denn das Gegenteil gehört leider auch zur unserer „Normalität“. Selbst wenn z. B. der Roman Rote Handschuhe, der Eginald Schlattners zwei Jahre Untersuchungshaft bei der Securitate in Stalinstadt (heute wieder Kronstadt/Braşov) thematisiert, unter den hundert besten in deutscher Sprache geschriebenen Büchern 1999–2001 figuriert (Goethe-Institut, Internationes). Übrigens wird eine der nächsten Ausgaben von MATRIX dem Werk und Wirken von Eginald Schlattner als Schwerpunktthema gewidmet sein.
Der „rumänische Teil“ dieser Ausgabe wird durch Lyrik unterstützt. Es signieren u. a.: Ana Blandiana (Die Einsamkeit ist eine Stadt, / in der die anderen gestorben sind – welch ein wunderbarer Einstieg in die Welt der Lyrikerin!), die junge Autorin Ana Donţu (mit tom&jerry konntest du alles tun), Dinu Flămând (frühmorgens das Schweigen der Nacht / am Fenster die Asche der Zeit), Ilse Hehn (Der Versuch, auf Füchsen zu reiten. // Nichts geht mehr bis aufs Blut, / die Pferde sind tot, es lebe der Gaucho, / die Pampa verloren an den Westen), Petru Ilieşu (Rumänien, / – Siehe da die Logik von der Immunität der Parlamentarier / siehe ein neues Handwerk rentabel und geschützt / das der Demokratie alle schmutzigen Spuren verwischt […] Rumänien, ein neuer Sieg! / Eine neue Diktatur der Opfer. / Ein Frieden! / Noch ein Frieden! / Ein … neuer Frieden!), Traian Pop Traian (der Augenblick der Liebe muss vor anderen geheimgehalten werden / denn die Gefahr mehr zu lieben als du verkraftest verzehnfacht sich / wenn alles öffentlich wird wenn der Zuschauer dich zu immer / höheren Leistungen zwingt ausgerechnet dich der du so konservativ veranlagt bist / dass du nicht einmal ihren Namen in Kleinbuchstaben schreiben würdest), Horst Samson (Also werde ich zappeln, werde zappeln / In der Hoffnung auch, dass der Mann am Schlegel / Mut und Weisheit genug haben wird, zu berichten, / Wie maßlos gering sein Verdienst war), Hellmut Seiler (Es geht also weiter. Immer weiter. / Die Wirklichkeit eine Strickleiter, / zur Kenntlichkeit verzerrt) und Robert Șerban, einer der erfolgreichsten (noch) Jungautoren aus der rumänischen Literaturszene (tatsächlich / erwarte ich nichts wenn / das Blatt Papier vor mir liegt / genauso wie ich auf einer Brücke / nichts anderes erwarte als dass sie mich hinüberbringt / oder entzweibricht).

Die Welt und ihre Dichter wird eingerahmt von einigen neu ins Deutsche übersetzten Gedichten von Wjaceslaw Kuprijanow. Und ein Essay von Klaus Martens – „Ich bin, der ich bin. Wer oder was schreibt wem? Einige Phänomene in der (zumeist) amerikanischen Lyrik“ – fliegt über den Atlantik zu uns, um die Reise durch die Welt abzurunden.
Die deutschen Autoren sind natürlich auch vertreten, diesmal durch Gedichte von Michael Hillen und Peter Gehrisch sowie Prosa von Marco Sagurna: ein Auszug aus dem Roman Werbia, ausgezeichnet mit dem „Prima Verba“-Debütpreis 2018 des POP-Verlags.

Wolfgang Schlott, Widmar Puhl, Matthias Hagedorn und Elisabeth Schawerda besprechen neu erschienene Bücher von Eginald Schlattner, Hartmut E. Arras, Peter Meilchen, Tom Täger & A.J. Weigoni, Klaus F. Schneider sowie Charlotte Ueckert. Und „PANTHEON. Ein großartiges Jazzprojekt mit Bach“ heißt Widmar Puhls Bericht aus der Kulturszene.

So viel diesmal und bis bald,
Traian Pop

Es signiert: • Eginald Schlattner • Ana Blandiana • Ana Donţu • Dinu Flămând • Ilse Hehn • Petru Ilieşu • Traian Pop Traian • Horst Samson • Hellmut Seiler • Robert Șerban • Wjatscheslaw Kuprijanow • Klaus Martens • Michael Hillen • Peter Gehrisch •
• Marco Sagurna • Wolfgang Schlott • Widmar Puhl • Matthias Hagedorn • Elisabeth Schawerda •
Inhalt

Editorial / S. 4

Die Welt und ihre Dichter

• Kreuz und quer – Literatur aus Rumänien •
Eginald Schlattner • Wasserzeichen . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman. / S. 9
Ana Blandiana • Zehn Gedichte / S. 25
Ana Donţu • Drei Gedichte / S. 35
Dinu Flămând • Acht Gedichte / S. 39
Ilse Hehn • Sieben Gedichte und drei Arbeiten / S. 47
Petru Ilieşu • Rumänien. Post scriptum . Ein Poem / S. 60
Traian Pop Traian • Acht Gedichte / S. 73
Horst Samson • Vier Gedichte. / S. 83
Hellmut Seiler • Acht Gedichte / S. 93
Robert Șerban • Zehn Gedichte / S. 105

Wjatscheslaw Kuprijanow • Sechs Gedichte (Russ. / Dt.) / S. 116
Klaus Martens • Ich bin, der ich bin. Wer oder was schreibt wem? Einige Phänomene in der (zumeist) amerikanischen Lyrik. / S. 128

Atelier
Michael Hillen • Zwölf Gedichte. / S. 143
Peter Gehrisch • Chronos, preise mir jetzt nicht das Chaos! . Elf Gedichte. / S. 155
Marco Sagurna • Warmia . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman. / S. 167

Bücherregal
Wolfgang Schlott • Eginald Schlattner, Wasserzeichen. / S. 176
Wolfgang Schlott • Hartmut E. Arras, Vom Freischärler zum Propagandisten des Nationalsozialismus. Mein Vater Erwin Arras (1905-1942). / S. 180
Wolfgang Schlott • 630 Buch / Katalog-Projekt von Peter Meilchen, Tom Täger & A.J. Weigoni. / S. 184
Widmar Puhl • Klaus F. Schneider, „pret-a-porter“. / S. 186
Matthias Hagedorn • Die Fluidität der Poesie . 630 . Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. / S. 189
Elisabeth Schawerda • Charlotte Ueckert, Die Fremde aus Deutschland. / S. 199

Musik
Widmar Puhl • Pantheon . Ein großartiges Jazzprojekt mit Bach / S. 201

 

MATRIX 2/2018 (52) • Made by Characters – Lyrik aus Georgien •

Leg alles offen auf den Tisch, den Wahnsinn der Gesellschaft, ihre Attitüden, ihre Auswüchse, und du wirst sofort, ohne das Recht, dich zu wehren, ihr Feind, das trojanische Pferd, der Unglücksbringer, das schwarze Schaf, der Irrsinnige, der in die Zwangsjacke gehört, eine unerschöpfliche Quelle der Abschreckung, damit allen die Lust vergeht, aus der Reihe zu tanzen. Klar: ein gefesselter kritischer Geist. Deshalb nimmt die Feigheit so oft und nicht zufällig „pazifistische“ Konturen an. (Aus dem Gedächtnis zitiert)

Ich bin eigentlich kein „Krieger“, aber es fällt mir schwer, ein „Pazifist“ im zitierten Sinne zu sein, auch wenn ich mich manchmal scheue, „die Karten offen auf den Tisch zu legen“. Aus zwei Gründen. Erstens, weil ich schon seit Langem – wenn überhaupt –
kein Spiel ohne Tricksereien erlebt habe. Zweitens, weil jeder Gewinn in der anderen Waagschale durch einen Verlust ausgeglichen wird. Jeder von uns kennt diese einfache Wahrheit, aber keiner will sie zur Kenntnis nehmen.

Albträume eines Verlegers
Mir geisterten im Laufe dieses Jahres Bilder des Schreckens durch den Kopf. Es ging um unseren Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse 2018. Genauer gesagt, um unser Anliegen, Ihnen die georgische Literatur näherzubringen. Es wäre einfach zu behaupten, Georgien sei ein Land wie jedes andere, die georgische Literatur sei eine Literatur wie jede andere und so weiter und so fort. Doch dem ist nur so, wenn man alles aus der Ferne betrachtet. Wenn man aber versucht, sich zu nähern, ändert sich das Bild. Ich befürchtete also, dass die vertrauten Vorstellungen von georgischer Landschaft, Geschichte und Kultur sich verflüchtigen könnten. Es ist nicht einfach, mit solchen Ängsten umzugehen, wenn man sich schon seit Jahren um einige – nicht wenige – georgische Autoren und Werke gekümmert hat.
Nach etwa vierzig aus dem Georgischen übersetzten und veröffentlichten Titeln hätte ich leider immer noch nicht sagen können, dass alles reibungslos lief, dass ich mich über die Ergebnisse freuen könnte. Warum? Weil mich meine Albträume einfach nicht losließen und ich mich scheute, darüber zu sprechen.
Zu meinen angstbesetzten Vorstellungen gehörte, dass ich es mit einem sogenannten Übersetzer aus dem Georgischen zu tun haben könnte, der gar kein Georgisch kann. Weil ich, naiv oder dumm, ihn vorher nicht nach seiner Qualifikation und beruflichen Laufbahn als Übersetzer gefragt hatte.
Schreckensvisionen waren auch, dass ein sogenannter Herausgeber mir das von ihm betreute Buch erst nach dem verbindlichen Abgabetermin liefern und mir untersagen würde, es lektorieren bzw. korrigieren zu lassen. Dass er mich zwingen könnte, eine bestimmte Druckerei zu nehmen und – damit nicht genug – eine mir unbekannte Person als bevollmächtigte Vertretung des Verlags in einem mir fremden Land zu akzeptieren. Dass es sich um einen Herausgeber handelte, der sich selbst dazu ernannt hatte, erst nachdem das Buch unter Vertrag stand; ein Herausgeber, der sich zwischen Verlag und Druckerei drängen und das zum Druck geschickte Buch hinterher noch ändern könnte, ohne den Verlag zu informieren; ein Herausgeber, der dem Verlag verbieten würde, die Annahme der Bücher zu verweigern, falls sie nicht ordnungsgemäß gedruckt wären; ein Herausgeber, der den Verlag zwingen könnte, die Druckkosten zu begleichen, bevor die gedruckten Bücher überhaupt geliefert wären – mit dem Hinweis, dass andernfalls die von ihm bevollmächtigte Person ermordet würde, falls der Betrag nicht sofort auf das Konto einginge. Und wäre von so einem Herausgeber nicht auch zu erwarten, dass er im Namen des Verlags auf der Buchmesse eigenmächtig agieren könnte, ohne den Verleger davon in Kenntnis zu setzen?
Mich plagten aber noch andere Sorgen. Eine der qualifiziertesten Übersetzerinnen aus dem Georgischen hatte akzeptiert, für uns einen bekannten Roman ins Deutsche zu übersetzen. Doch statt diese Übertragung zu fördern, wollten die von den georgischen Behörden beauftragten Juroren einen Übersetzer favorisieren, der überhaupt kein Georgisch kann. Uns blieb also nichts anderes übrig, als das Buch auch ohne Förderung auf den Markt zu bringen. Und unsere Ausgabe sah sehr gut aus. Gelobt und in der Presse gut besprochen wurde allerdings die geförderte Ausgabe. Und eine ängstliche Stimme flüsterte mir ins Ohr, dass die Lobbyisten vermutlich nie schlafen.
Trotz meiner Befürchtungen und Ängste berichteten einige Zeitungen doch ziemlich positiv über „unsere“ Bücher. Und dann so etwas: „Sehr geehrter Herr Pop, wir hatten bei Ihnen die im Betreff erwähnte Anthologie bestellt und haben sie auch vor wenigen Tagen erhalten. Wir sind ziemlich erschrocken über den Zustand des Buches und das umso mehr, da es ja nicht ein sehr preiswertes Buch ist. Auch wenn neu, sieht es antiquarisch aus. Gelesen, beblättert, leicht angestoßen. Ich werde es so meinem Kunden anbieten. Sollte er den Zustand monieren, behalte ich mir eine Rückgabe zur Gutschrift vor.“
Wollen wir dies tatsächlich als unabänderlich hinnehmen? Gerade jetzt, wenn Georgien im Rampenlicht steht? Gerade jetzt, wenn wir endlich die Möglichkeit haben, dass georgische Autoren und Werke von der Leserschaft gewürdigt werden? Was wird aus unserem Fleiß, aus unseren durchgearbeiteten Nächten, aus unseren Träumen, etwas Gutes für uns, für die Welt und für die Weltliteratur getan zu haben? Und was wird aus der qualifizierten Übersetzerin, die alle Feinheiten der georgischen Sprache kennt, die sich seit Jahren für die georgische Literatur und Kultur einsetzt – und zwar nicht nur als Professorin an einer der besten Universitäten im deutschen Sprachraum, sondern auch durch zahlreiche Übersetzungen aus dem Georgischen? Was bleibt dann von unseren gelungenen Nachdichtungen von Lyrikern, die – wie eine renommierte Kritikerin meint – „in die oberste Weltliga gehören“? „Die größte Entdeckung: Lyrik und Dichter aus Georgien, die in die oberste Weltliga gehören, wie (große Empfehlung) Nika Jorjaneli und sein Band Roter Schein: ,Im Sommer vergeht kein Tag, ohne dass kleine Vögel in meine Küche fliegen. / Ein kaum zu hörendes Geräusch auf dem Linoleumboden verrät ihr Erscheinen, / das sind ihre winzigen Füße. / Und ich – ich weiß auch nicht warum – scheuche die Vögel nach draußen.‘“ (Iris Radisch, Die Zeit, Nr. 43/2018).
Wie schon gesagt, ich hatte Angst, dass die ganze Arbeit futsch sei, wenn nun alle in ein und denselben Topf geworfen werden. Es sah so aus, als ob ich wählen müsste zwischen „besser machen“ und „besser verkaufen“. Was könnte ich tun gegen die Lobbyisten, gegen die Tatsache, dass heutzutage mehr in die Verpackung als in den Inhalt investiert wird? Wie könnte ich gegen diese unverantwortliche Ignoranz und Verschwendung vorgehen? Wie könnte ich mich für die Werte einsetzen, die vor meinen Augen mit Füßen getreten werden? Was war das alles? Ein Albtraum? Oder Fiktion? Wie viel Angst darf ein Traum beinhalten? Und wie viel Realität? Wie viel Realität darf in die Fiktion einfließen? Und wie viel in ein Editorial? Wahrscheinlich brauchte ich diese kalte Dusche. Ich ahnte doch, dass für einige unserer Übersetzungen mehr Zeit nötig gewesen wäre, um wirklich dem Original gerecht zu werden. Ich ahnte doch, dass ein Übersetzer, egal wie gut er beide Sprachen beherrscht, zuerst die Sprache des Werkes selbst verstehen und vom allem lieben soll, damit der Text ihm unter die Haut geht, bevor er überhaupt mit seiner Arbeit anfängt. Ich ahnte doch, dass ich mir viel zu viel vorgenommen und vieles zu schnell aus der Hand gegeben hatte. Ich ahnte doch, dass mein Kleinverlag anders aussieht, als ich ihn sehe…

Nun sind wir aber Gastland. Und zwar alle. Egal wie wir heißen, egal ob wir Georgisch verstehen oder nicht, egal ob wir überhaupt wissen, wo Georgien auf der Europakarte liegt (viele denken ja, dass Europa an der EU-Ostgrenze endet), egal ob wir Kenner oder Neugierige, ob wir Verleger, Buchhändler oder Leser sind. Egal ob wir ausgeträumt haben oder weiterhin träumen. Trauen Sie sich einzutreten: Die georgische Welt steht uns offen – und das nicht nur so lange, wie wir Gastland sind. Danke dir, Georgien, dass ich dabei sein darf, danke euch allen für euer Vertrauen und eure Hilfe, danke euch allen, dass es euch gibt!

„Georgia – Made by Characters“
Seit dem 4. Jahrhundert nach Christus gibt es die georgischen Schriftzeichen – die 33 Buchstaben des einzigartigen Alphabets, das kürzlich zum UNESCO-Welterbe erklärt wurde. Unter dem Motto „Georgia – Made by Characters“ präsentierte Georgien auf der Frankfurter Buchmesse Werke, die in dieser Schrift geschrieben wurden, und damit auch die eigentlichen Charaktere: Autoren, Künstler, die Georgier und ihr Land.
„Georgien blickt auf eine 15 Jahrhunderte lange literarische Tradition und eine bewegte Geschichte zurück. Dieses kulturelle Erbe prägt und inspiriert zeitgenössische Autorinnen und Autoren auch heute noch. Auf der Frankfurter Buchmesse 2018 werden unsere Besucherinnen und Besucher aus aller Welt die lebendige Literaturszene des kaukasischen Landes entdecken.“ (Juergen Boos, Geschäftsführer der Frankfurter Buchmesse).
„[Die georgische Literatur] hat sich Schritt für Schritt neben der modernen Weltliteratur entwickelt und vermittelt ein klares Bild von dem Charakter der Nation, die sie hervorgebracht hat.“ Und weiter: „Wir wollen als Ehrengast unsere Antwort auf die Herausforderungen der modernen Welt präsentieren – die Antwort eines Landes, das so klein ist wie unseres und das seine historischen und kulturellen Erfahrungen mit der ganzen Welt teilen möchte.“ (Medea Metreveli, Leiterin des georgischen Ehrengast-Komitees).
Wie von unseren Mitstreitern erwartet, wurden die meisten Bücher, mit denen sich Georgien auf der Messe vorgestellt hat, nicht in Großverlagen veröffentlicht, sondern in Kleinverlagen. Mit mehr als 33 Titeln dürfen wir als einer der wichtigsten Unterstützer Georgiens auf dieser Buchmesse gelten. In der vorliegenden MATRIX-Ausgabe stellen wir Ihnen einige georgische Lyrikerinnen und Lyriker vor, u. a. Dato Barbakadse, Kato Dschawachischwili, Badri Guguschwili, Nika Jorjaneli, Rusudan Kaischauri, Eka Kevanischwili, Esma Oniani, Nino Sadghobelaschwili, Lela Samniaschwili, Irma Schiolaschwili, Amiran Swimonischwili und Mariam Ziklauri.
Die Essays „Gedanken über die Poesie“ von Esma Oniani sowie „Die ewig fließende Grenze zwischen Leben und Tod“ von Peter Gehrisch runden den georgischen Teil dieser Ausgabe ab. Ich stelle gerade fest, dass ich eines der besten Bücher, die überhaupt über Georgien geschrieben wurden, nicht erwähnt habe, und bitte Karl Wolff um Verzeihung: „Von Tiflis nach Tbilissi. Reise an den Ursprung einer Sehn-Sucht“ ist immer noch aktuell, auch wenn es mehr als zehn Jahre alt ist. Ich darf es sehr empfehlen.
Und last but not least haben wir von unseren Mitstreitern Klaus Martens und Barbara Zeizinger einige Texte für Sie ausgewählt. Im Bücherregal stehen diesmal Neuerscheinungen von Karl Ove Knausgård, Holger Benkel und Hellmut Seiler, die von unseren Rezensenten Pilar Baumeister, Ulrich Bergmann und Edith Ottschofski kritisch unter die Lupe genommen wurden.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Traian Pop

Es signiert:
• Dato Barbakadse • Peter Gehrisch • Kato Dschawachischwili • Ela Gotschiaschwili • Badri Guguschwili • Nika Jorjaneli • Rusudan Kaischauri • Esma Oniani • Eka Kevanischwili • Nino Sadghobelaschwili • Lela Samniaschwili • Irma Schiolaschwili • Amiran Swimonischwili • Mariam Ziklauri • Klaus Martens • Barbara Zeizinger • Pilar Baumeister • Ulrich Bergmann • Edith Ottschofski •
Inhalt
Editorial / S. 3
Die Welt und ihre Dichter
Frankfurter Buchmesse 2018 • Gastland Georgien
Dato Barbakadse • Elf Gedichte / S. 9
Peter Gehrisch • Die ewig fließende Grenze zwischen Leben und Tod / S. 38
Kato Dschawachischwili • Zwei Gedichte / S. 47
Ela Gotschiaschwili • Zwei Gedichte / S. 52
Badri Guguschwili • Sieben Gedichte / S. 58
Badri Guguschwili • Die Metro der Illusion . Vier Gedichte / S. 68
Badri Guguschwili • Visuelle Gedichte / S. 78
Nika Jorjaneli • Neun Gedichte / S. 86
Rusudan Kaischauri • Zwei Gedichte / S. 103
Eka Kevanischwili • Zwei Gedichte / S. 106
Esma Oniani • Neun Gedichte / S. 111
Esma Oniani • Gedanken über die Poesie / S. 125
Nino Sadghobelaschwili • Zwei Gedichte / S. 147
Lela Samniaschwili • Drei Gedichte / S. 153
Irma Schiolaschwili • Drei Gedichte / S. 158
Amiran Swimonischwili • Elf Gedichte / S. 162
Mariam Ziklauri • Drei Gedichte / S. 174
Klaus Martens • Sechs Gedichte / S. 179
Atelier
Barbara Zeizinger • Die Reise . Prosa / S. 185
Bücherregal
Pilar Baumeister • Karl Ove Knausgård, Im Frühling. / S. 192
Ulrich Bergmann • Holger Benkel, fliegende wesen. / S. 195
Edith Ottschofski • Hellmut Seiler, Dieser trotzigen Ruhe Weg. / S. 201

MATRIX 1/2018 (51) • Kreuz und quer – Lyrik aus Rumänien •

Schon mal erlebt? Beim Durchblättern einer Publikation, die sich als „Zeitschrift“ oder „Anthologie“ ausweist, entsteht der Eindruck, dass sie nicht für die Leser, sondern für die Urheber der veröffentlichten Texte gemacht wurde. Man erkennt mühelos, welcher Urheber mehr investiert hat, um für sein Werk ein Obdach zu finden, nämlich nach der gepachteten Fläche. Ich erinnere mich genau an einen Novemberabend, als ich bei der Präsentation einer solchen Ausgabe überrascht feststellen musste, dass die meisten Exemplare nicht von Lesern, sondern von den Autoren gekauft wurden – wobei die Anzahl der jeweils erstandenen Exemplare Rückschlüsse auf die Anzahl der jeweils belegten Seiten erlaubte. Doch über solche Praktiken möchte ich keine weiteren Worte verlieren, dafür ist mir meine Zeit zu schade.
Was mich aber beschäftigt, ist eine Sammlung von Texten, wo nicht der Autor, sondern sein Werk das Sagen hat. Gerade weil es öfter vorkommt, dass solche Projekte in erster Linie die Autoren oder die Kritiker im Visier haben. Manche Anthologien scheinen sogar von Autoren für Autoren bzw. von Kritikern für Kritiker gemacht zu sein. Gut für den Autor, für den Kritiker und für andere Spezialisten (Studenten, Forscher usw.). Was aber können wir tun, um die Literatur, die diesen Namen verdient, vor allem dem Leser näherzubringen? Und dies ohne falsche Versprechungen, ohne luxuriöse Ausgaben, ohne aggressive Werbung oder dergleichen? Wie können wir einfach das Werk für sich sprechen lassen in einer Zeit, wo immer öfter die Verpackung mehr wert ist als der Inhalt und niemand daran interessiert scheint, dies zu sehen, noch weniger, es zu bekämpfen? Wie steht es dann um eine Anthologie für den anonymen Leser? Einige von Ihnen werden sofort sagen, dass die „echten Werke“ zu wichtig, zu schön, zu überraschend und zu berauschend sind, um nur Spezialisten – seien es Autoren oder Kritiker – zugänglich zu sein. Wie aber sollte eine Anthologie aussehen, damit die Texte von möglichst vielen Lesern wahrgenommen werden können? Gute Frage!
Die jetzige Ausgabe von MATRIX gehört, wie Sie schon ahnen werden, zu einer Reihe, die Ihnen ganz einfach – und das heißt: ohne Hierarchien, Ranglisten oder Zugeständnisse an irgendeine verkopfte oder verkrampfte Sichtweise – Werke aus Rumänien vorstellen möchte. Wir wollen Ihnen lediglich – im Rahmen unserer Möglichkeiten – einen kleinen Teil des umfangreichen Angebots präsentieren.
Die Geschichte der Literatur aus Rumänien wurde – von den Anfängen bis heute – noch nicht einmal in ihrem Herkunftsland gebührend wahrgenommen. Selbst dortige Leser brauchten einen Literaturnobelpreis, um zu verstehen, dass in Rumänien verdammt gute Literatur geschrieben wurde und wird – sogar in einer anderen Sprache als Rumänisch. „Wer hat Angst von Herta Müller?“, fragte einer der besten Literaturkritiker des Landes, als die frisch ausgezeichnete Autorin nach Rumänien reiste, um endlich einen Dialog mit der rumänischen Leserschaft zu beginnen. Dass dieser Dialog schon dreißig Jahre vorher hätte stattfinden müssen, scheint niemanden mehr zu interessieren. Sollen wir glauben, dass daran – wie an allem anderen – nur die kommunistische Regierung schuld sein soll? Trotz der Tatsache, dass ihre Werke veröffentlicht und geehrt wurden, sogar mit dem Preis der Kommunistischen Jugendorganisation – übrigens einer sehr guten Erfindung der rumänischen Literaturbranche, um sich an der Wachsamkeit der „Behörden“ zu rächen: Wer diesen echten Literaturpreis bekommen hat, konnte sich einigermaßen sicher fühlen. Sollen wir uns nun wundern, dass eine Bukarester Zeitschrift fragte, was man tun könne, um den Literaturnobelpreis auch nach Rumänien zu holen? Es sieht so aus, als ob tatsächlich noch einer nötig wäre, um die Vermutung, hier schreibt man Weltliteratur, zu bestätigen. Was schwer verständlich scheint, ist die Tatsache, dass die preisgekrönte Autorin in Rumänien eigentlich für sich und für einen kleinen Leserkreis schrieb. Dort gab damals nicht mehr so viele Deutsche und die meisten waren bestimmt nicht einverstanden mit Herta Müllers antifaschistischer und antikonservativer Prosa – wenn sie überhaupt an etwas anderes als an Auswanderung gedacht haben. Eine Autorin, die mehr Aufmerksamkeit von Kollegen (auch viele rumänische Autoren haben Herta Müllers Prosa schon damals, vor ihrer Ausreise, sehr geschätzt) und Kritikern bekommen hat als von den Lesern. Dass sich das Blatt nach ihrer Ausreise nach Deutschland gewendet hat, steht fest, auch wenn einige bekannte Zeitschriftenredaktionen nicht wahrhaben wollten, dass die Angehörigen der deutschen Minderheit in Rumänien Deutsch gesprochen, gelernt, kommuniziert, Theater gespielt und geschrieben haben – manche so gut, dass die Stockholmer Juroren dies unbedingt honorieren wollten.
Klammer zu. Sollen wir nun aber davon ausgehen, dass noch ein Literaturnobelpreis – und zwar für einen Schriftsteller, der rumänisch schreibt, aber im Ausland lebt – nötig wäre, damit die rumänische Leserschaft versteht, dass die rumänische Literaturgeschichte nicht nur im Land selbst, sondern auch in Deutschland, Frankreich, den USA, Russland, Ungarn, der Ukraine oder Moldawien – eigentlich überall auf der Welt – geschrieben wurde und wird? (So viel z. B. zum Thema Panait Istrati, Mircea Eliade, Emil Cioran, Eugen Ionesco, Matei Vişniec, Norman Manea, Carmen-Francesca Banciu, um einige auch hierzulande bekannte Namen in den Mund zu nehmen.)
Oder besser gleich zwei (es wäre möglich, zumindest 2019) – und zwar auch einer für einen rumänischen Autor, der in Rumänien lebt und schreibt (Mircea Cărtărescu kommt seit Jahren dafür infrage, Ana Blandiana ist keine Unbekannte in Stockholm und Varujan Vosganian hat, meiner Meinung nach, auch verdammt gute Karten, sein „Buch des Flüsterns“ wurde als „Ein ,Jahrhundertbuch!‘“ von der FAZ gefeiert.)
Nun, nachdem ich gerade dieses Jahr ohne Literaturnobelpreis mit dem Preis verbunden habe, möchte wieder auf die Erde zurückfinden, um Ihnen endlich zu sagen, dass ich einfach weitermachen möchte und mein Versuch als ein kleiner Beitrag zur Bekanntmachung der Literatur aus Rumänien verstanden werden soll, die sich wie ein umgedrehtes Fernglas auf die schmerzhafte menschliche Komödie in diesem Teil Europas richtet. Diese Literatur, entstanden auf einer „Insel der Latinität“, auf welche die meisten Rumänen so stolz sind und auf die sie alle gleichzeitig spucken. Diese Literatur, die eine Menge Freude und Trauer, Erfüllung und Verzicht, Kriege, Auswanderungswellen, Deportationen und andere Schicksale enthält, welche die „Insulaner“ meist als Pech betrachten wollen, auch wenn allen bewusst ist, dass sie dessen unmittelbares Produkt sind.
Was sollen wir nun im deutschen Sprachraum damit anfangen? Ich schlage vor, wir reisen einfach weiter kreuz und quer durch diese Landschaft. Gastgeber und Gast zugleich, erlaube ich mir diesmal, einige Lyrikbeiträge von Constantin Acosmei, Wolf von Aichelburg, Ion Barbu, Stoian G. Bogdan, Paul Celan, Traian T. Coşovei,  Dan Dănilă, Edith Konradt, Ioana Nicolaie, Nicolae Popa, Eugen D. Popin, Carmen Elisabeth Puchianu, Moses Rosenkranz, Petre Stoica, Theodor Vasilache, Matei Vişniec, Richard Wagner und Andrei Zanca auszuwählen. In der parallel erscheinenden Ausgabe von BAWÜLON werden dann Prosatexte von Radu Aldulescu, Carmen-Francesca Banciu, Mircea Cărtărescu, Gheorghe Crăciun, Rodica Draghincescu, Johann Lippet, Liviu Papadima, Viorel Marineasa, Julia Schiff und Géza Szocz veröffentlicht. Vielleicht vermissen einige von denen, die uns regelmäßig folgen, die Namen mancher Autoren, die wir schätzen und über deren Beiträge wir uns immer wieder freuen. Keine Sorge, nicht nur Eginald Schlattner und Dieter Schlesak – um hier nur zwei von ihnen zu nennen –, sondern auch viele andere werden in den folgenden Nummern vertreten sein.
Neben den oben genannten Autoren empfehle ich Ihnen einen Text von Gerhard Pötzsch, die Rezensionen von Wolfgang Schlott (Karl Ove Knausgård: Im Frühling, und Karl Ove Knausgård: Im Sommer), Stefanie Golisch (Susanna Piontek: In einer Falte der Welt), Katja Hachenberg (Donna Tartt: The Goldfinch und Der Distelfink) sowie den Essay von Matthias Hagedorn: „Die Fluidität der Poesie, 630. Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni“.
Einen weniger heißen Sommer hätte ich Ihnen gewünscht, um das Fieber des Literaturlandes namens MATRIX auszugleichen. So wie es aussieht, sind beide, sowohl MATRIX als auch der Sommer, aus dem Ruder gelaufen.
Traian Pop
Es signiert:
• Constantin Acosmei • Wolf von Aichelburg • Ion Barbu • Stoian G. Bogdan • Rihard Wagner • Rolf Bossert • Horst Samson • Paul Celan • • Frieder Schuller • Traian Pop Traian • Traian T. Coşovei • Dan Dănilă • Edith Konradt • Carmen Elisabeth Puchianu • Moses Rosenkranz • Theodor Vasilache • Matei Vişniec • Carmen Elisabeth Puchianu • Moses Rosenkranz • Theodor Vasilache • Matei Vişniec • Ioana Nicolaie • Nicolae Popa • Eugen D. Popin • Petre Stoica • Andrei Zanca • Barbara Zeizinger • Gerhardt Csejka • Uli Rothfuss • Wolfgang Schlott • Katja Hachenberg • Stefanie Golisch •
Editorial / S.4
Die Welt und ihre Dichter
• Kreuz und quer - Lyrik aus Rumänien •
Constantin Acosmei • Dreizehn Gedichte / S. 8
Wolf von Aichelburg • Zwei Gedichte / S. 17
Uli Rothfuss • „Ich selbst bin ein ungünstig gewählter Ratgeber in diesem Fall“ . Wolf von Aichelburg über Heimat / S. 20
Ion Barbu • Romantisch parallel . Acht Gedichte / S. 22
Stoian G. Bogdan • Zwei Gedichte / S. 32
Gerhardt Csejka • Hätte Rolf Bossert... / S. 35
Rihard Wagner • Laudatio / S. 36
Rolf Bossert • Acht Gedichte / S. 39
Rolf Bossert • Dankesrede zum „Adam Müller-Guttenbrunn“-Literaturpreis 1983 / S. 48
Horst Samson • Eulenspiegels Regenschnüre . Dem Dichter Rolf Bossert zum 65. Geburtstag / S. 50
Horst Samson • Vielleicht wollte er fliegen / S. 61
Horst Samson • Vier Gedichte für Rolf Bossert / S. 63
Traian Pop Traian • Gedicht für Rolf Bossert / S. 68
Paul Celan • Todesfuge / Tangoul morţii (Todestango) . Ein Gedicht / S. 70
Frieder Schuller • Celan und der lange Weg seiner „Todesfuge“
nach Deutschland / S. 74
Traian T. Coşovei • Ein Gedicht / S. 81
Dan Dănilă • Sieben Gedichte / S. 82
Edith Konradt • Zwei Gedichte / S. 89
Ioana Nicolaie • Fünf Gedichte / S. 93
Nicolae Popa • Fünfzehn Gedichte / S. 105
Eugen D. Popin • Sechs Gedichte / S. 116
Carmen Elisabeth Puchianu • Sechs Gedichte / S. 124
Moses Rosenkranz • Ein Gedicht / S. 132
Petre Stoica • Neun Gedichte / S. 133
Theodor Vasilache • Drei Gedichte / S. 142
Matei Vişniec • Sechs Gedichte / S. 146
Richard Wagner • Sechs Gedichte / S. 149
Andrei Zanca • Fünf Gedichte  / S. 159
Atelier
Gerhard Pötzsch • Abgesang . Prosa / S. 169
Bücherregal
Wolfgang Schlott • Karl Ove Knausgård, Im Frühling. / S.187
Wolfgang Schlott  • Karl Ove Knausgård, Im Sommer. / S. 190
Stefanie Golisch • Susanna Piontek, In einer Falte der Welt. / S.193
Katja Hachenberg • Donna Tartt, The Goldfinch . Donna Tartt, Der Distelfink. / S.195

MATRIX 4/2017 (50) • Kreuz und quer – Lyrik aus Rumänien •

MATRIX_50_A MATRIX_50_BVor ein paar Tagen habe ich in Rumänien ehemalige Kollegen getroffen, um 40 Jahre seit unserem Uni-Abschluss zu feiern. Nachdem wir uns alle wiedererkannt hatten, ging man ziemlich rasch zum Wesentlichen über. Wie es schien, sollte jeder zuerst einige Kreuzchen auf dem Fragebogen seines eigenen Lebens machen. Ich war endlich brav geworden, wie meine Frau anmerkte, und beantwortete – wenn auch leicht irritiert – alle Fragen, ohne zu übertreiben oder jemanden vor den Kopf zu stoßen. Eine einzige Kollegin meinte jedoch, ich sei immer noch der gleiche Rebell wir vor 40 Jahren und sie lasse sich von meinem Gerede nicht an der Nase herumführen. Denn sie wisse, dass ich schreibe, und ihr Sohn lese Gedichte, sogar auf Deutsch, obwohl seine Stärke das Englische sei.
So war es: Einige waren echt froh, mich wiederzusehen. Was sie nicht glauben wollten, ist die Tatsache, dass ich kein Haus, keine Jacht, keine Jagdpacht oder zumindest einen Porsche besitze und in Deutschland als Verleger einen schweren Stand habe.
Dies erinnerte mich an die Zeiten, als unsere Eltern miteinander wetteiferten, wer die klügeren und erfolgreicheren Kinder hatte. Pech für meine Eltern, zumindest was mich betraf: Ich war zwar an Lesen, Rechnen und Sport interessiert, aber es reichte nicht. Das Rennen machten die wenigen, die bereit waren, sich die Vorträge und Meinungen unserer Lehrer wortwörtlich zu merken und zu wiederholen.
Meine Eltern haben dann doch akzeptiert, dass ich stets an anderem interessiert war, als festen Boden unter den Füßen zu haben. Irgendwie sind alle meine Verweigerungen mehr gewesen, als eine Art zu pennen. Im Gegenteil. Ich war nie zufrieden mit dem, was ich erreicht hatte. In Rumänien zum Beispiel, wo ich nach meinem Elektrotechnik-Studium statt Ingenieur Schriftsteller sein wollte. In Deutschland, wo ich mit einem Uni-Abschluss in der Tasche mein Brot jahrelang als Lagerarbeiter verdient oder mich integriert habe, wenn Sie es lieber so lesen wollen, bevor mir die liebevollen Damen und Herren von den „Human Resources“ eine qualifizierte Stelle als von Microsoft geprüfter und zertifizierter Systemingenieur anboten. Doch „Human Ressource“ wollte ich nie sein und habe mich als Verleger getarnt.
Sie werden es kaum glauben, aber trotz der Tatsache, dass ich mich auch als Verleger nicht besonders gut aufgehoben fühle, mache ich weiter. Entgegen allen Erwartungen. Gefragt wurde ich schon: Wie, warum, wieso, was steckt dahinter? Fragen tue ich selbst allerdings immer weniger. Es hat kein Sinn, ich mache sowieso weiter.
Ein Literaturverleger also, um genauer zu sein, der natürlich die Literatur des Landes, wo er geboren und, wenn überhaupt, erwachsen wurde, gut kennen sollte. Deswegen hatte ich zunächst auch kein Problem, eine Lyrik-Anthologie ins Auge zu fassen. Erst als ich anfing, konkret an eine Auswahl von Autoren und Texten heranzugehen, bemerkte ich, dass die Sache gar nicht so einfach war. Die „Anthologie“ ist mittlerweile zum „Versuch einer Anthologie“ geworden. Und demnächst werde ich wohl zu dem Ergebnis kommen, dass ich die rumänische Literatur nur oberflächlich kenne. Werde ich irgendwann einräumen müssen: Ich kenne die rumänische Literatur nicht? So lange werde ich bestimmt nicht warten.
Deshalb will ich versuchen, Ihnen mithilfe einiger (leider nicht sehr vieler) aus dem Rumänischen, aber auch aus dem Ungarischen, Aromunischen, Serbischen, Romanes und anderen Sprachen ins Deutsche übersetzter Texte sowie mithilfe (nicht weniger) deutsch verfasster Gedichte einen Blick auf Rumäniens Lyrik-Landkarte zu ermöglichen.
Nehmen Sie bitte als Maßstab nicht die im deutschen Sprachraum bekannten Schriftsteller aus Rumänien. Auch wenn dazu einige renommierte Autoren zählen wie Eugen Ionesco, Emil Cioran, Mircea Eliade, Norman Manea, Mircea Cărtărescu, Matei Vişniec, Ana Blandiana, Eginald Schlattner, Richard Wagner, Dieter Schlesak oder die Nobelpreisträgerin Herta Müller. Die Vielfältigkeit dieser Literatur kann höchstens geahnt werden, ohne ihren „Exoten“-Status zu vermindern.
Außerdem bitte ich Sie, die hier und in der nächsten Ausgabe gesammelten Texte nicht als eine Anthologie aufzufassen, sondern als eine Lyrik-Reise durch Rumänien, wie sie uns die Mittel, die Zeit, die Kräfte und das Glück erlaubt haben.
Unser Versuch, die Präsenz Rumäniens nicht nur bei der Leipziger Buchmesse, sondern allgemein in der Literaturszene des deutschen Sprachraums zu fördern, hat einen einzigen Grund: In Rumänien schrieb und schreibt man großartige Literatur, deren Bekanntheit immer noch schmerzlich auf sich warten lässt.
Die mehr als 170 Seiten Lyrik aus Rumänien (mit Gedichten von Daniel Bănulescu,  Nikolaus Berwanger, Denisa Comănescu, Iosif Costinaş, Aura Christi, Grigore Cugler, Rodica Drăghincescu, Mihail Eminescu, Ioan Flora, Emilian Galaicu Păun, Slavomir Gvozdenović, Emil Hurezeanu, György Mandics, Zsuzsanna M. Veress, Kira Iorgoveanu-Mantsu, Virgil Mazilescu, Ruxandra Niculescu, Nicolae Prelipceanu, Dieter Schlesak, Nichita Stănescu und Gelu Vlaşin) werden begleitet von Ulrich Bergmanns Reise durch „Die Monde der gelben Mitte“, Prosa von Gerhard Bauer und Bernd Kebelmann sowie einem Interview mit Bernd Kebelmann über sein Buch Blind Date mit Ägypten (gefragt hat Barbara Zeizinger). Wolfgang Schlott, Edith Ottschofski, Eric Giebel, Uli Rothfuss, Barbara Zeizinger und Roland Kaufhold besprechen neu erschienene Bücher von Badri Guguschwili, Micho Mossulischwili, Thomas Melle, Werner Streletz, Manfred Chobot und Dogan Akhanli.

In der nächsten Ausgabe setzen wir unsere Reise durch die rumänische Lyrik-Landschaft fort.

Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen
Traian Pop

Es signiert:

• Daniel Bănulescu • Kreuz und quer – Lyrik aus Rumänien • Nikolaus Berwanger• Denisa Comănescu • Iosif Costinaş • Aura Christi • Grigore Cugler • Horst Fassel • Rodica Draghincescu • Mihail Eminescu • Ioan Flora • Emilian Galaicu Păun • Slavomir Gvozdenović • Emil Hurezeanu • György Mandics / Zsuzsanna M. Veress • Kira Iorgoveanu-Mantsu • Virgil Mazilescu • Ruxandra Niculescu • Nicolae Prelipceanu • Dieter Schlesak • Nichita Stănescu • Gelu Vlaşin • Wolfgang Schlott • Rainer Wedler • Ulrich Bergmann • Gerhard Bauer • Bernd Kebelmann • Barbara Zeizinger • Uli Rothfuss • Edith Ottschofski • Eric Gieebel • Roland Kaufhold •  

Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

• Kreuz und quer – Lyrik aus Rumänien •

Daniel Bănulescu • Drei Gedichte / S. 7
Nikolaus Berwanger • Drei Gedichte / S. 13
Denisa Comănescu • Fünf Gedichte / S. 24
Iosif Costinaş • Einiges von dem, was ich nicht verstehe . Ein Gedicht / S. 31
Aura Christi • Zehnte Elegie . Ein Gedicht/ S. 34
Grigore Cugler • Fünf Gedichte / S. 38
Horst Fassel • In vielen Sprachen zu Hause . Grigore Cugler (1903-1972) / S. 44
Rodica Draghincescu • Meinetwegen . Prosa als Gedicht / S. 50
Mihail Eminescu • Acht Gedichte / S. 62
Ioan Flora • Vier Gedichte / S. 74
Emilian Galaicu Păun • Ch-ău . Ein Gedicht / S. 85
Slavomir Gvozdenović • Acht Gedichte / S. 92
Emil Hurezeanu • Drei Gedichte / S. 101
György Mandics / Zsuzsanna M. Veress • Zwei Gedichte / S. 111
Kira Iorgoveanu-Mantsu • Sechs Gedichte / S. 119
Virgil Mazilescu • Zehn Gedichte / S. 125
Ruxandra Niculescu • Sechs Gedichte / S. 135
Nicolae Prelipceanu • Sieben Gedichte  / S. 139
Dieter Schlesak • Sechs Gedichte / S. 147
Nichita Stănescu • Vier Gedichte / S. 157
Gelu Vlaşin • Sechs Gedichte / S. 166

Die Monde der gelben Mitte
Ulrich Bergmann – 包悟礼 • Lie Zi und die Parabel vom Reh / S. 173

Atelier
Gerhard Bauer • Das Horn von Mars-la-Tour . Prosa / S. 180
Bernd Kebelmann • Grabräuber und Spione . Prosa / S. 187
Barbara Zeizinger • Gespräch mit Bernd Kebelmann über sein Buch Blind Date in Ägypten. / S. 191

Bücherregal
Wolfgang Schlott • Badri Guguschwili, Der Tag des Menschen. / S.195
Wolfgang Schlott • Micho Mossulischwili, Schwäne im Schnee. / S. 197
Edith Ottschofski • Thomas Melle, Die Welt im Rücken. / S. 200
Eric Giebel • Johann Lippet, Kopfzeile, Fußzeile. Gedichte&Variationen. / S. 203
Uli Rothfuss • Werner Streletz, unterwegs mit robert desnos. Der freieste aller Dichter. / S. 206
Barbara Zeizinger • Manfred Chobot, Franz -Eine Karriere. / S. 207
Roland Kaufhold • Dogan Akhanli, Verhaftung in Granada oder: Treibt die Türkei in die Diktatur. / S.210

MATRIX 2/2017 (48) • Short story der kanadischen Lyrik •

MATRIX 48MATRIX 2/2017 (48)

Kein Land kann tatsächlich die Heimat eines Menschen sein. Unser Heimatland ist, wie die Bibel sagt, der Himmel. Hier aber, unter dem Himmel, sind wir, wo immer wir leben, in der Lage von Exilanten. „Fremdlinge“ also sind wir und immer unterwegs. Natürlich ist jeder Mensch mit dem Ort seiner Geburt verbunden, der Gegend, wo er aufgewachsen ist. Auch mit der Sprache, der Geschichte seines Landes, dessen Traditionen. All dies macht seine Identität aus. Diese Identität aber ist eine gegebene, keine, die man bewusst wählen kann. Also kann niemand seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land als persönliches Verdienst betrachten. Man kann demnach nicht stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein, wie man auch nicht auf blaue Augen stolz sein kann.
Die Tatsache, ein Deutscher zu sein, muss ohne Eitelkeit, ohne Überheblichkeit, auch ohne Minderwertigkeitskomplexe angenommen werden. Aber ein Deutscher zu sein (oder ein Angehöriger irgendeiner anderen Nation) impliziert nicht nur Loyalität, sondern auch Verpflichtungen. Und kommt man denen nicht nach, läuft man Gefahr, sich menschlich – und nicht im strengen Sinne „patriotisch“ – zu disqualifizieren. Was auch für die Parteien zutrifft, ob die Roten, die Grünen, die Gelben, die Blauen, die Schwarzen, die uns eigentlich vertreten sollten. Ehrlich gesagt, fühle ich mich in keinem Fall vertreten, von keinem der gewählten Farbenträger oder -bekenner. Ich hätte mir gewünscht, dem wäre nicht so, aber wie im Leben werden auch in der Politik die Farben immer wieder verstärkt, geschwächt, gelöscht, vermischt, verwechselt, vertuscht, verfälscht, gekauft, verkauft …

Vertreten fühle ich mich deshalb hauptsächlich von der Literatur. Sei sie aus der Türkei, aus Georgien, aus Rumänien, aus Russland, aus Korea, aus dem Iran, aus den USA, aus Deutschland, woher auch immer: Hauptsache Literatur. Nicht mehr, aber auch nicht weniger als LITERATUR.
Manchmal schaffen wir es – mein Team und ich –, Ihnen Literatur zu vermitteln. Wenn es so ist, können Sie davon ausgehen, dass die Werke, die in MATRIX zu Wort kommen, zu den Vertretern der von uns anerkannten Republik der Literatur und Kunst zählen.

Einer davon, der große karibische Dichter Derek Walcott, wurde 1988 von Klaus Martens für Deutschland entdeckt. Martens war bis zur Jahrtausendwende sein deutscher Übersetzer, er war dem Nobelpreisträger von 1992 aber auch als sein Gastgeber freundschaftlich verbunden. Er verfolgte den weiteren Weg des Dichters, der nicht einfach gewesen ist, mit großem Interesse bis zu dessen Tod am 17. März 2017 auf seiner Insel St. Lucia.

Short story der kanadischen Lyrik heißt der Hauptteil dieser Ausgabe. Eine kleine Auswahl, die Andrew Goldthorp und Stefanie Golisch zusammengestellt haben, repräsentiert einen Querschnitt von Gedichten, die exemplarisch für die Suche nach einer genuin kanadischen Identität begriffen werden können ‒ einem Paradoxon, wenn man bedenkt, dass die Wurzeln der weitaus meisten Kanadier in andere Länder und Kulturkreise reichen. Vertreten durch eigene Texte sind die englischsprachigen Autoren: Pauline Johnson, E. J. Pratt, A. M. Klein, Irving Layton, Al Purdy, Leonard Cohen, Margret Atwood, Gwendolyn MacEwen, Kevin Irie und Bruce Meyer.

„An den rostig-weißen Mauern von Cartagena
liest eine Palme dem Sand aus der Hand,
doch die Linien vergehen schnell; »Malagueña«
kratzt eine strohbehütete Band,
und ein Hahn stolziert mit Quetzalcoatls Federn,
und die rußigen Büschel der Palmen sind Braten
am Spieß von Briganten, ganz wie im Hilton.“

Ay, caramba, Gringo! / wie New York ist‘s, findste nicht? … Derek Walcott ist nicht nur durch die Erinnerungen seines Freundes Martens, sondern auch mit drei von ihm ins Deutsche übersetzten Gedichte vertreten.

Erst nach dem Tod des polnische Poeten Cyprian Kamil Norwid wird der unvergleichliche Wert seines Dichtens erkannt und von Zenon Przesmycki und der Krakauer Avantgarde entsprechend gewürdigt. Peter Gehrisch versucht, ihn uns nahe zu bringen durch seine raffinierten Übersetzungen und einer ausführlichen Einführung.

Das Werk des iranisch-deutschen Dichters SAID bewegt heute mehr denn je, findet Maryam Aras und gratuliert SAID zu seinem siebzigsten Geburtstag. In seiner Lyrik und seinen Essays reflektiert er beharrlich das Leben im Exil, sein mal liebevolles, mal leidvolles Verhältnis zur deutschen Sprache und zu seinem Europa, dessen Idealen er sich trotz der aktuellen Politik verbunden fühlt.
Theo Breuer ist wieder dabei, diesmal mit Collagen. Denisa Comănescu, Arzu Demir, Kira Iorgoveanu-Mantsu, Emil Hurezeanu, Horst Samson, Viorel Marineasa, Adriana Carcu, Barbara Zeizinger und Charlotte Ueckert ergänzen unser dichterisches Weltpanorama.

„Übersetzen ist ein Grattanz, den man ins dialektische Gleichgewicht bringen muss, um sich nicht zu verirren in der Wüste der Akribie oder in einem Amazonas leerer Phantasie.“ meint Ulrich Bergmann  und versucht dies zu belegen durch „Ein kleines Gedicht und viele Übersetzungen“.

„Am Tag, als mein Vater verschwand, stand ich im Examen, hatte einen halben Vormittag in einem Göttinger Prüfungsamt verbracht und war dann mit meiner Freundin spazieren gegangen, um den Kopf auszulüften…“ Ob der Vater Klaus Martens tatsächlich an diesen Tag – und überhaupt – verschwunden ist, möchte ich – schon nach den ersten Seiten – gar nicht mehr wissen, so hält mich der Text gefangen. Ein Auszug aus dem Roman finden Sie in unserem unter dem Namen „Atelier“ bekannten Vorschaufenster.

Wolfgang Schlott, Anneliese Merkel,  Stefanie Golisch, Peter Frömmig, Katharina Kilzer,  Ulrich Bergmann, Rainer Wedler, Uli Rothfuss, W. Gunther le Maire haben wieder interessante Rezensionen geschrieben.
Traian Pop

Es signiert:

• Klaus Martens • Derek Walcott • Cyprian Kamil Norwid • Peter Gehrisch •Andrew Goldthorp • Stefanie Golisch • Short story der kanadischen Lyrik • Pauline Johnson • E. J. Pratt • A. M. Klein • Irving Layton • Al Purdy • Leonard Cohen • Margret Atwood • Gwendolyn MacEwen • Kevin Irie  • Bruce Meyer • Said • Theo Breuer • Denisa Comănescu • Emil Hurezeanu • Viorel Marineasa • Adriana Carcu • Barbara Zeizinger • Kira Iorgoveanu-Mantsu •Arzu Demir • Charlotte Ueckert • Anneliese Merkel • Katharina Kilzer • Uli Rothfuss • Wolfgang Schlott • Rainer Wedler • Peter Frömmig • W. Gunther le Maire •

Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

• Short story der kanadischen Lyrik •
Andrew Goldthorp und Stefanie Golisch • Short story der kanadischen Lyrik / S. 7
Pauline Johnson • The Song My Paddle sings . Das Lied, das mein Paddel singt / S. 12
E. J. Pratt • Erosion . Erosion / S. 16
A. M. Klein • Heirloom . Erbstück / S. 22
Irving Layton • A Tall Man Executes a Jig . Ein großer Mann führt einen Freudentanz auf / S. 24
Al Purdy • Roblin’s Mills. Roblin’s Mills / S. 32
Leonard Cohen • A Kite is a Victim . Ein Drache ist ein Opfer / S. 38
Margret Atwood • Game After Supper . Spiel nach dem Abendbrot / S. 40
Gwendolyn MacEwen • Dark Pines Under Water . Dunkle Kiefern unter Wasser / S. 42
Kevin Irie • Immigrants: The Second Generation . Emigranten: die zweite Generation / S. 44
Bruce Meyer • The white flower . Die weiße Blume / S. 48
Short story der kanadischen Lyrik . Kurzbiographien der Autoren / S. 50

• Derek Walcott •
Klaus Martens • Kleine Rückschau auf Derek Walcott (1930-2017) / S. 52
Derek Walcott • Drei Gedichte / S. 61

• Cyprian Kamil Norwid – der unergründliche Kosmos •
Peter Gehrisch • Cyprian Kamil Norwid – der unergründliche Kos-
mos . Versuch einer ersten Einführung / S. 68
Cyprian Kamil Norwid • Vier Gedichte / S. 73
Said • tage voller verlangen . Ein Gedicht / S. 79

Theo Breuer • Visuellpoetische Collagen / S. 82
Denisa Comănescu • Fünf Gedichte, rumänisch und in deutscher Übersetzung / S. 89
Arzu Demir • Sechs Gedichte / S. 107

Die Monde der gelben Mitte

Ulrich Bergmann – 包悟礼 • Ein kleines Gedicht und viele Übersetzungen / S. 119

Atelier
Kira Iorgoveanu-Mantsu • Sechs Gedichte/ S. 131
Emil Hurezeanu • Sechs Gedichte/ S. 137
Horst Samson • Sechs Gedichte/ S. 147
Viorel Marineasa • Partoş–Europa, hin und zurück . Prosa / S. 153
Adriana Carcu • Ein altes Haus . In Curtici, zwischen den Welten . Marion . Prosa / S. 157
Klaus Martens • Das Übliche, mit Variationen . Prosa / S. 165
Barbara Zeizinger • Sommerschweigen . Prosa / S. 175
Charlotte Ueckert • Die Fremde aus Deutschland . Prosa / S. 179

Bücherregal

Wolfgang Schlott • Salman Nurhak, … nur die Liebe. 66 Gedichte. / S.185
Anneliese Merkel • Ilse Hehn, Sandhimmel, Lyrik und Übermalun-
gen. / S. 188
Stefanie Golisch • Hans-Jörg Dost, Orte zu leben. / S. 191
Peter Frömmig • Florian Günther, Genug Zeit zu verlieren. Neue Fotos, gebrauchte Gedichte. / S. 193
Katharina Kilzer • Hellmut Seiler, Dieser trotzigen Ruhe Weg. / S. 196
Ulrich Bergmann • David Krause, Die Umschreibung des Flusses. / S. 199
Rainer Wedler • Ruth Langen-Wettengl, Zugabe. Kunst in der
Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. / S.203
Rainer Wedler • Burkhard Fuhr, Schafe. / S.205
Uli Rothfuss • Ralph Dutli, Die Liebenden von Mantua. / S.207
W. Gunther le Maire • Harald Gröhler, Eine Selbstmörderin / Samobójczyni. / S.209

MATRIX 1/2017 (47) • Schriftsteller untergetaucht? • Signum •

MATRIX 47 A„Poesie und Politik werden nie einander die Hand reichen. Auf der terminologischen Ebene bedeutet Politik die Kunst der Staatsverwaltung. Ich werde  nicht zu beweisen versuchen, dass die Kunst im erwähnten Kontext nichts Gemeinsames mit jener Kunst hat, mit der man einen Schriftsteller, Maler, Musiker charakterisiert (obwohl auch hier viele problematische Nuancen auftauchen).“ So reflektiert Dato Barbacadse über „Poesie und Politik“.
 
„Ich weiß nicht, wie der zukünftige Leser sein wird, z. B. der Leser, der im Unterschied zu mir den Luxus entbehren wird, zu schaffen, umgeben von den mit eigenen Büchern beladenen Regalen (diesen Luxus entbehren bereits heute einige meiner Bekannten – ausländische sowie georgische Dichter), aber ich bin der Meinung, dass diese Frage wichtiger ist als die, ob die von uns geschaffenen Bücher die Zeit überleben und das digitale Dorf der Zukunft erreichen, ob sie auch den künftigen Chip-Leser erreichen werden.“ Ein Kerngedanke aus Dato Barbacadses Essay „Poesie und postgutenbergsche Realität“.
 
„…auch nach siebzehneinhalb erschienenen Jahrgängen darf an Aufhören nicht zu denken sein. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen, unter denen die Herausgabe der „Blätter für Literatur und Kritik“ vollzogen werden muss, sukzessive zu verschlechtern scheinen. Es muss weiter gehen. Aus vielerlei Gründen. Zuvörderst natürlich der Leser, Macher und Autoren wegen. Außerdem: Wohin sollte der Herausgeber, der das Fehlen seiner Blätter für Literatur und Kritik „geradezu körperlich als ernsten, ja unerträglichen Mangel empfände“, wohin denn also, sollte er sonst mit seiner Passion?“ Norbert Weiß über sein Lebenswerk, die Literaturzeitschrift „Signum“.
 
Der Verleger und Schriftsteller Traian Pop Traian fühlte sich irgendwann dazu verpflichtet,  Gedichte wie das folgende zu  schreiben.
„…du weiterhin die Blicke deiner Kollegen prüftest der Arbeiter /in deren Mitte du dich nicht sicher fühlen zu können glaubtest / gelähmt von der Angst einen Fehler zu machen / Verwirrung bei einem noch nicht abgeschlossenen Projekt / zu stiften // weshalb dich / ein Gefühl der Unruhe beschleicht / wenn deine Hand eine Zange einen Schraubenzieher packt / deine Hand die schöne Namen für Frauen Männer Kinder und Vögel zu formen weiß / deine Hand die heimlich von einer Revolution des Schreibens / träumt“ (Traian Pop Traian, 1989)
 
Irgendwann stellt man fest, dass eigentlich viel mehr zusammenpasst, als ursprünglich gedacht. Danke, dass es dich gibt, liebe Literatur, liebe Kunst! So denkt der Herausgeber Traian Pop.
 
Autorinnen und Autoren der Zeitschrift SIGNUM kommen in dieser Ausgabe zu Wort. Es ist eine breit angelegte Auswahl, „bei der es sich weder um eine Text-Bestenliste noch eine Präsentation der Lieblingsdichter des Herausgebers handelt, sondern um die (hoffentlich) profunde und aussagekräftige Annotation ganz unterschiedlicher Schreibweisen und Weltsichten, eine Volltextdokumentation mithin wohlverstandener Zeitgenossenschaft, die mit dem in den Leitmedien gebetsmühlenartig beschworenen Zeitgeist recht wenig zu tun haben dürfte.“ So der Herausgeber Norbert Weiß.

„Die Welt und ihre Dichter“ wird eröffnet mit einem Auszug aus dem gerade ins Deutsche übersetzten Roman, der auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse präsentiert werden wird mit der nicht ganz unbegründeten Hoffnung, dass er zu den besten Übersetzungen gehören wird. Als Übersetzer von Daniel Bănulescu erhielt Ernest Wicher 2005 den Preis für Europäische Poesie der Stadt Münster. Hinter den Titel „Der Teufel jagt nach deinem Herzen“ versteckt sich eine Welt des magischen Realismus‘, balkanisch wohlschmeckend und geheimnisvoll riechend, eine Welt aus dem dunklen Rumänien der 80er Jahre, vergrößert unter der Lupe der überbordender Fantasie des Autors.
 
Kürzere Texte von Gegenwartsautoren finden wir im „Atelier“: Gedichte von Irma Schiolaschwili  (Akupunktur: Ganz fest und unkompliziert sagte der Vater: / Wenn wir glauben, werden wir alle Schmerzen im Griff haben, / und aus dem Finger wird das blühende Wort herausdringen, /nicht als Blut oder als Tränen, / sondern als Brief der Seele …) und Harald Gröhler  (Ich und nicht Eulenspiegel unterhalt mich nervös mit den Nachbarn, / über zwei Goldröhrlinge. / Die beiden gelben Pilze wachsen gleichzeitig unter einer Lärche, / artig nebeneinander.) sowie das Prosastück „Leben am Fluss“ von Regine Kress-Fricke.
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Dominik Irtenkauf , Wolfgang Schlott, Rainer Wedler, A. Dana Weber, Heide Rieck und Barbara Zeizinger besprechen Neuerscheingungen von Markus Liske, Marjana Gaponenko, Roland Kaehlbrandt, Irma Shiolashvili, Harald Gröhler, und Kurt Drawert.
 
Traian Pop
Es signiert:

• Dato Barbacadse • Daniel Bănulescu • Schriftsteller untergetaucht? • Signum •
Kathrin Schmidt • Gerd Künzel • Kerstin Hensel • Gert Steinert • Jörg Bernig • Uwe Claus • Erich Sobeslavsky • Roland Bärwinkel • Wolfgang Hädecke • Norbert Weiß • Jürgen Israel • Andreas Altmann • Uwe Hübner • Joochen Laabs  • Christian Hussel • Eckhard Mieder • Ralph Grüneberger • Benedikt Dyrlich •Thomas Rosenlöcher • Hans-Jörg Dost • Wolfgang David • Manfred Streubel • Rudolf Scholz • Hans Georg Bulla • Stefanie Golisch • Irma Shiolashvili • Harald Gröhler • Regine Kress-Fricke • Dominik Irtenkauf • Wolfgang Schlott • Rainer Wedler • A. Dana Weber • Heide Rieck • Barbara Zeizinger •

MATRIX 4/2016 (46) • Badri Guguschwili • Mich auf jeden Fall, nicht! •

MATRIX_46_ASie bekommen nun eine – leider – verspätete Ausgabe einer unserer Zeitschriften MATRIX oder BAWÜLON. Es ist eine aktuelle Ausgabe, auch wenn auf dem Cover 2016 steht. Der Grund: die Reihenfolge sollte nicht unterbrochen werden. Ich hatte immer gedacht, dass ich über das, was ich tue, was ich will und was ich muss, selbst entscheiden kann. Nun aber gibt es im Leben Situationen, die uns lehren, dass es so einfach nicht ist. Im letzten Jahr war ich durch eine plötzliche Erkrankung quasi zum Zuschauer meiner eigenen Hilflosigkeit geworden. Statt meinen verlegerischen Verpflichtungen nachzugehen, musste ich für längere Zeit im Krankenhaus und in der Reha zubringen. Jetzt aber arbeiten meine Kollegen und ich mit Hochdruck daran, die verspäteten Ausgaben fertigzustellen und den normalen Erscheinungsrhythmus wiederherzustellen. Ich bitte Sie und meine Redaktionskollegen um Pardon für die Verspätungen und hoffe, Sie bleiben uns weiterhin treu. 
Dass Dichter-zu-sein nicht leicht war, ist und wird, dachte ich schon immer. Dass ein System oder eine Gesellschaft dich als Dichter entweder unterwürfig macht oder dich tötet oder, wie Bela Tsipuria plastisch schreibt, dich erst unterwürfig macht und dann tötet, ahnte ich auch. Mehr noch hielt und halte ich für normal,dass ein Dichter sich nicht unbedingt geliebt oder erwünscht fühlt und ihm dies alles bewusst ist. Und dennoch, es tut mir physisch weh, wenn ich diese Verse lese:

„sie alle
wissen, wen genau sie brauchen!
Mich auf jeden Fall, nicht!“

Ich hätte ihm gern widersprechen wollen. Ein erster Versuch liegt Ihnen vor: Mehr von und über Badri Gugushvilli, ein georgischer Dichter, der uns Menschen sehr geliebt hat, können Sie ab Seite sieben lesen.

„Ich entdeckte sie wieder in meinen alten Tagebüchern. Und diese Exilgedichte nach dem ersten Schock und meiner Flucht aus Deutschland nach Italien schienen mir eine Rarität in meinem Werk zu sein“, schrieb mir Dieter Schlesak. Er erlaubte uns einen ersten „archäologischen“ Blick in sein Lyrik-Archiv, aus dem wir  einige Gedichte aus den 70er-Jahren für Sie ausgewählt haben.

„… an den Fahnenstangen fault die Wut“, heißt der neueste Gedichtband des unermüdlichen Kämpfers für Wahrheit und Gerechtigkeit William Totok. Zusammen mit Mariana Codrut, Christine Kappe,Lenka und Peter Frömming ergänzt er glücklicherweise unser Lyrikfest.

Benedikt Dyrlich, der zwischen und in zwei Sprache lebt und schreibt, erklärt uns … „Das Sorbische profitiert vom Deutschen, wie das Deutsche Impulse aus der sorbischen Sprache aufgenommen hat…“.
Und Ulrich Bergmann setzt seinen China-Bericht fort mit „Der Schrei – Ein expressionistisches Gedicht vor 1200 Jahren“.

Gudrun & Karl Wolff haben sich nach einer langen „Reise ins Morgen-Land“ wieder gemeldet. In einigen Essays, Reportagen und Geschichte(n) berichten sie über Ethos und Ethnogenese der Tataren vom Wolgabulgarischen Reich bis zur Republik Tatarstan, über Identitäts-und Sprachverlust, über Marina Zwetajewas Grab in Jelabuga (Patriarch Alexij II., 1990: „Die Selbsttötung Marina Zwetajewas ist einem Mord durch das Regime gleichzusetzen“) und über „Der Silicon-Valley-Spirit“, „Sonderwirtschaftszone Alabuga“ und „IT-Stadt Innopolis“.
„Verwandeln uns Kleider auch? Das Tragen ebenso, wie die Verzierung derselben?
Kleider sind mehr als nur Schutz vor Kälte und Sonne. Sie können eine symbolische Funktion (u. a. Totenhemd, Brautkleid, Priesterhemd) ausüben oder auf eine soziale und kulturelle Zugehörigkeit hinweisen. Unsere Kleidung ist immer Teil des Bildes, das wir oder andere von uns machen. Bei meinem Projekt DAS KLEID veränderten sich die Frauen im fertig bestickten Kleid. Sie wurden schweigsam und ihre Bewegungen verlangsamten sich. Ihr Auftritt bekam etwas Würdevolles, fast Majestätisches.“
Gefragt hat Elke Engelhardt, beantwortet: Elisabeth Masé. Ihr neues Projekt „DAS KLEID“ bestückt die Räume der MATRIX-Ausstellung dieser Ausgabe.

Die Rezensionen von Wolfgang Schlott, Stefanie Golisch, Mark Behrens, Rainer Wedler und Uli Rothfuss berichten wie immer über einige, in letzter Zeit erschienene Bücher, u.a von Ursula Teicher-Maier, Tatjana Kuschtewskaja, Hans-Jörg Dost, Eric Giebel und Rainer Wedler.

Ich hoffe, Sie werden eine anregende Lektüre haben.

Ihr
Traian Pop

Es signiert:

• Christine Kappe • Badri Guguschwili • Mich auf jeden Fall, nicht! • Bela Tsipuria • Wolfgang Schlott • Mariana Codruţ • William Totok • Dieter Schlesak • „Lyrikarchäologie“ • Mark Behrens • Benedikt Dyrlich • Gudrun Wolff • Karl Wolff • Rainer Wedler • Lenka • Uli Rothfuss • Elke Engelhardt • Elisabeth Masé • DAS KLEID • Peter Frömmig • Holger Benkel • Stefanie Golisch • Ulrich Bergmann • Die Monde der gelben Mitte •

MATRIX 3/2016 (45) • MaximilianZander • Bericht zur Lage •

MATRIX_45_AIn absehbarer Zeit könnte die Welt anders aussehen, das heißt „erdoganisiert“, um einen guten Freund aus der Türkei zu zitieren. Nur hat mein Freund damals an eine „erdoganisierte“ Minderheit gedacht, heute geht es um eine übergroße erdoganisierte Mehrheit, eine antikritische und antidemokratische Mehrheit, die sich gegen alle Minderheiten wendet.
Vordem undenkbar, entfaltet sich heute eine konservative Revolution gegen alle zivilisatorischen Werte. All dies ist eingebettet in der sogenannten postfaktischen Ära. „Die Toten haben damit begonnen, sich zu fürchten“, hat ein rumänischer Dichter in Zeiten des faschistoiden Kommunismus geschrieben. Was würde er heute schreiben?
Können wir überhaupt etwas gegen diese trügerische „Normalität“ unternehmen? Können wir es uns leisten zu schweigen, uns nicht einzumischen? Das ginge nur, wenn sich die demokratischen Kräfte fest zusammenschlössen. Dagegen sehe ich nur Feigheit, Kollaboration und dumpfe Gleichgültigkeit. Ich setze aber große Hoffnungen in Künstler, Schriftsteller und Denker, in eine Elite im gramscianischen Sinn. Ich träume von einer aufgeklärten Jugendrevolte gegen die Welt, die eigentlich ihr gehören soll. So gesehen fühle ich mich noch immer jung.  
 
Das Gedicht „Zehn Verbote“ von Theo Breuer spiegelt auf frappierende Weise die augenblickliche Situation in der Türkei Erdogans. Viele Texte dieser Ausgabe passen wie bestellt zu diesem Problemfeld.

„Ich habe zu Max Zanders Gedichten nie etwas geschrieben“, schrieb mir der Autor der „Zehn Verbote“, als ich eine „Umfrage“ zu Zander gemacht habe. Und Breuer weiter:
„Wir haben seit vielen Jahren etwa einmal im Monat stundenlange telefonische Literaturgespräche geführt. Wenige Wochen vor seinem Tod wollte ich – gleichsam außer der Reihe – über die Möglichkeit einer ihm gewidmeten Matrix-Ausgabe sprechen, wozu es allerdings nicht einmal ansatzweise kam. Es ging ihm gesundheitlich schlecht, und er meinte:
,Theo, ich rufe Dich an, sobald es mir besser geht.‘ Das war oft so gewesen in den letzten Jahren, und ich wünschte ihm, nicht ahnend, dass es das letzte Mal war, dass wir miteinander sprachen, gute Besserung. Das war‘s. Zwei Wochen später erhielt ich die Nachricht vom Tod meines Freundes Maximilian Zander. Umso mehr freue ich mich, dass Du diese Ausgabe nun machst.“
Maximilian Zander, der uns mit seinen Gedichten und Aphorismen seit Jahren begleitet, hat mir mehrmals Autoren vorgeschlagen für den Schwerpunkt der einen oder anderen Ausgabe. Eine davon habe ich quasi persönlich genommen, aber der vorgeschlagene Autor wollte nichts davon wissen und drohte mir die Redaktionskreis zu verlassen, falls etwas in der Richtung unternehme. Über eine „Zander“ Ausgabe traute ich mich nie, ihn anzusprechen.
Jetzt liegen die Reisenden / in getrennten Schachteln / mit gewaschenen Händen / mit dem Rücken zur Nacht.
Mir bleibt nur festzustellen, dass er etwas geahnt hat und eine solche Besprechung vermeiden wollte.“

„Ich habe die poesie erfunden und habe kein herz mehr“ schrieb Virgiel Mazilescu, ein zeitgenössischer im deutschsprachigen Raum wenig bekannter rumänischer Dichter. Ruxandra Niculescu,  eine gute Kennerin der rumänischen Literaturszene, hat für uns 25 Texte Mazilescus ins Deutsche übertragen.
„Es mag sein, dass Poesie nicht den realen Nutzen im Auge hat, doch sie kann der Welt Frieden und Hoffnung geben.“ Hadaa Sendoo sagt uns damit nichts Neues: neu und frisch dagegen ist die Art, wie es der berühmte mongolische Dichter sagt. Maya Gogoladse sprach für uns mit dem Autor. Andreas Weiland hat einige Gedichte Hadaas Sendoo für die MATRIX ins Deutsche übertragen.
Joachim Britze stellt uns den georgischen Autor Micho Mosulishvili vor.
Josef Balazs denkt über unseren Mitstreiter Horst Samson nach und stellt ihm vor einem interessierten Publikum elf Fragen, siehe S. 117ff. das “Nürnberger Interview”.
Ulrich Bergmann bringt uns das heutige China näher, indem er uns den Sinologen und Poeten Wolfgang Kubin vorstellt.
Im Atelier finden sich Beiträge von Klaus Martens, Marius Koity, Dieter Beck, Ruxandra Niculescu, Peter Ettl, Norbert Sternmut, Rainer Wedler und Dorothea Šołćina.

Gleich zwei Debütantinnen  können wir vorstellen: Justyna Michniuk (Jetzt bin ich eine Europäerin, in Polen geboren / trage Schwarz, weil ich ewig trauere / um die verlorene Identität / Ich kenne zwar fünf Sprachen / in keiner aber kann ich ausdrücken / wie sehr ich von der Wirklichkeit enttäuscht bin) und Jîn Musa (da werden sich Wille  / und Freiheit ergeben / wie die Blätter / dem Wind / du wirst es spüren bis in die Adern / da ich es lebe).

Matthias Hagedorn, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss und Holger Benkel besprechen Neuerscheinungen von A.J. Weigoni, Hans Bergel / Manfred Winkler, Thomas Brock, Holger Benkel, Sylvain Tesson, Gudrun & Karl Wolff, Edith Ottschofski, José Samarago, Ulrich Bergmann, Mani Matter und Roland Kaehlbrandt.

Traian Pop

Es signiert:

• Frank Milautzcki • MaximilianZander • Bericht zur Lage • Peter Ettl  • Theo Breuer  • Josef Balazs • Virgil Mazilescu • Barbara Zeizinger • Horst Samson • Klaus Martens • Giuseppe Pontiggia • Hadaa Sendoo • Rainer Wedler • Micho Mossulischwili • Uli Rothfuss • Marius Koity • Dieter Beck • Ruxandra Niculescu • Norbert Sternmut • Holger Benkel • Dorothea Šołćina • Ulrich Bergmann • Die Monde der gelben Mitte  • Matthias Hagedorn • Wolfgang Schlott • Christine Kappe • DEBÜT: Justyna Michniuk • Jîn Musa 

MATRIX 2/2016 (44) • Kurt Drawert • 60 Jahre. 47 Antworten

M_44Damit große Dichter existieren können, braucht man große Leser.
Walt Whitman

„Niemand wird noch an den Büchern anderer interessiert sein, wir werden unsere eigenen Romane lesen, bestellt bei den Self-Publisher-Verlagen. Wir werden alle Schriftsteller sein“, stellt Matei Vişniec, einer der großen Dramatiker der Gegenwart, fest und ergänzt: „Anscheinend sind wir schon im Sternzeichen der leserlosen Schriftsteller angelangt … Uns gefällt die Umwandlung vom denkenden zum absorbierenden Gehirn, vom Erbauer zum Nachahmer… Ich bin mir nicht sicher, dass der Aufruhr noch möglich ist in einer Welt, in der die Hirnwäsche immer effizienter wird und die zu dieser ,Mutation‘ eingesetzten Instrumente immer sophistischer werden, einfallsreicher, subtiler … Die Mediendiktatur hat der Diktatur des Showgeschäfts die Hand gereicht. Auf meinen Fiktionsseiten halte ich fest, dass nach einigen Jahrzehnten ein Dostojewski lesender Mensch es riskiert, zum Lobotomiepatienten gestempelt zu werden. Denn ein Mensch, der liest, schaut nicht mehr fern, wird also resistent, ein indirekter Oppositioneller des Medienimperiums. Mein letztes, bei Cartea Românescă veröffentlichtes Buch Der Mensch, aus dem das Böse extrahiert wurde enthält drei Stücke, die eine Analyse der Art und Weise, wie der Mensch Schritt für Schritt seine Werkzeuge zum Verstehen der Welt, aber auch die seiner Zukunftssicherung zerstört. Ich will nicht pessimistischer als Cioran sein … Wer konnte sich aber beim Fall des Kommunismus vorstellen, dass die folgende große Gefahr der Menschheit der Integralismus sein wird. Es gibt Lösungen, damit wir uns nicht von Moden verblöden lassen, von Modellen, zahlreichen Formen des Dilettantismus, die nicht nur in der Politik gedeihen, sondern auch in der Kunst. Wenn ich dem Menschen nicht zutrauen würde, dass er sich über die Mittelmäßigkeit erheben kann, würde ich keine Literatur mehr schreiben.“

Auch mit dieser MATRIX-Ausgabe versuchen wir gegen die Strömung von Hirnwäsche und Verblödung anzuschwimmen. Neben oben zitiertem Matei Vişniec und unserer Ehrengast Kurt Drawert unterstützen wieder zahlreiche zeitgenössische Autoren unser Vorhaben, Literatur unter die Menschen zu bringen, nicht mehr und nicht weniger.

„…es gibt Container voller schlechter Bücher, jedes Halbjahr neue, und sie verstopfen regelmäßig die Zu- und Abflüsse des Literaturbetriebes“, schreibt Kurt Drawert, der gerade 60 Jahre jung geworden ist, im Jahr 2001. „Mein Schutz sind meine Bücher, in ihnen habe ich alles für mich Wichtige gesagt – der Rest sind Irritationen und halbe Wahrheiten, die allenfalls für die Psychoanalyse von Bedeutung sind, aber nicht für das öffentliche Leben. Ich bin immer wieder erstaunt, wie offensichtlich gern sich einige in ihre körperlichen Öffnungen blicken lassen, ihre banalen Verwerfungen voyeuristischen TV-Skandalen zur Verfügung stellen und ihre platten Empfindungen in die Kameras nuscheln, als gehörten sie zum Weltkulturerbe an und für sich. Das ist natürlich Ausdruck einer restlos verkommenen und exhibitionistisch ausgerichteten Massenkultur, aber leider auch mehr: die medialisierte Pathogenese einer verlorenen Beziehung des Einzelnen zu sich selbst, der für einen Moment der Anerkennung vermutlich alles tun würde“, fügte er 2011 hinzu.

„60 Jahre. 47 Antworten“ – im Hauptteil dieser Ausgabe stellt Kurt Drawert mit einer großzügig edierten Auswahl seine bislang erschienenen Bücher vor. Als Hommage zum 60. Geburtstag, zu dem wir herzlich gratulieren, kann er sich mit diesen Versen selbst beschenken:

Ich bin, was ich in meiner Sprache bin,
Was ich in den Worten bin, die ich mir
            über mich mache.

Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung und Abdruckgenehmigung sowohl beim Autor als auch bei allen in dieser Ausgabe erwähnten Verlagen, die ihn publizistisch betreuen.

Rodica Draghincescu, Horst Samson, Barbara Zeizinger und Theo Breuer gratulieren Kurt Drawert mit Textbeiträgen, während Ute Döring 17 wunderbare Fotos beisteuert, die im Übrigen viel mehr Lob verdienen als diesen einfachen Hinweis – in einer der kommenden Ausgaben wollen wir weitere Facetten ihres künstlerischen Werks vorstellen.

„Die Welt und ihre Dichter“ wird in dieser Ausgabe glücklich ergänzt durch Theo Breuers Gespräch mit Hans Bender, der am 28. Mai 2015 im Alter von nahezu 96 Jahren starb.
„Bei Petrarca trafen Lesen und Sterben zusammen. Sein Haupt fiel auf die Buchseiten. Zu schön, sagen andere. Ich will die Szene so glauben, wie sie überliefert ist“, bemerkt Hans Bender am Ende des Gesprächs, während Theo Breuer zuvor die Gelegenheit nutzt, sich u. a. zu James Joyce’ Hauptwerk zu äußern: „Alles hat seine Zeit, heißt es in der Bibel im Buch der Prediger. Bis vor einigen Jahren ist es mir nie gelungen, James Joyce’ Ulysses vollständig zu Ende zu lesen, ein Buch, das mich seit dem 19. Le­bens­jahr begleitet. Hunderte Male hab ich die erste Seite, mehrfach die ersten 70/80 Seiten gelesen, dann kreuz und quer bis hin zu Mollys Monolog am Ende.“

Francisca Ricinskis Gespräch mit Matei Vişniec sowie ein Beitrag von Paul Tischler über die Zipser deutsche Literatur runden diesen Teil der Zeitschrift ab.

Mit „Memento mori unterm chinesischen Mond“ bringt uns Ulrich Bergmann einmal mehr das von ihm erlebte China nahe – diesmal mit Gedanken über die chinesische Lyrik und ihre Übersetzung ins Deutsche.

Vom Schreibtisch einiger Gegenwartsautoren haben wir für die Rubrik „Atelier“ Gedichte von Klaus Martens („Dies ist ein Gedicht älterer Bauart, / mit dem der abenteuerlustige Autor / oft und gut gefahren ist“), Michael Hillen („am ende seines lebens, heißt es, / fanden zu picasso allein / noch drei menschen: / der frisör, der schneider und ein kunsthistoriker“) und dem aus Moldawien stammenden Autor Nicolae Spătaru („dem Tod war ich stets ein treuer Freund / heute habe ich gespürt, wie er für wenige Augenblicke / seinen erschöpften Flügel schützend über mich breitete“) ausgewählt, außerdem Essays von Maximilian Zander, Irene Klaffke und Wolfgang Schlott sowie Prosatexte von Eric Giebel und Herwig Haupt.

Rainer Wedler, Wolfgang Schlott, Ulrich Bergmann und Christine Kappe besprechen neu erschienene Bücher von Wang Gang, Franz Hohler, Thomas Brock, Holger Benkel, Ekaterine Gabaschwili, Tschola Lomtatidse u. a.
Traian Pop

Es signiert:

• Ute Döring • Kurt Drawert • Barbara Zeizinger •  Horst Samson •Klaus Martens •    Michael Hillen • Rodica Draghincescu • Rainer Wedler • Matei Vişniec • Nicolae Spătaru •  Eric Giebel • Herwig Haupt • Theo Breuer • Gespräch mit Hans Bender • Irene Klaffke • Wolfgang Schlott • Ulrich Bergmann • Die Monde der gelben Mitte • Paul Tischler • Vom Zipserland nach Deutschland • Christine Kappe •

MATRIX 1/2016 (43) • Das andere Dresden • Literaturalltag im Elbflorenz

M_43_AVor 75 Jahren starb James Joyce. Wer kennt ihn nicht? Doch wer hat ihn gelesen? Die Essays von Klaus Martens und Simona-Grazia Dima versuchen nun, Ihnen zwei wichtige Werke des schmalen Mannes mit der Nickelbrille nahezubringen: die Prosasammlung „Dubliner“ und den experimentellen Roman „Finnegans Wake“.

Der originelle amerikanische Dichter Thomas Lux (von uns schon in MATRIX 34 vorgestellt) ist wieder da – dank der wunderbaren Übersetzungen von Klaus Martens: mit eine Serie von neuen und neuesten Gedichten, darunter eines, „Ode an die Narben“, das noch nicht in einem Buch veröffentlicht worden ist.

„Dresden (obersorbisch Drježdźany, von altsorbisch drežďany „Sumpf-“ oder „Auwald-Bewohner“) ist die Landeshauptstadt des Freistaates Sachsen“ – so Wikipedia. Zwischen der reklamierten fehlenden Assimilations- und Selbsterneuerungsfähigkeit des Ur-Dresdners, den es gar nicht gibt, und Michael Bartschs immer lauteren Zweifeln am marktwirtschaftlichen Evangelium, zwischen dem Aufschrei von Benno Budar: „Seht mal, wie schön Dresden ist!“, und den Erinnerungen von Benedikt Dyrlich ans Dresden seiner Mutter findet ein reiches Kulturleben statt, über das kaum einer der Medienvertreter berichtet, von denen die Stadt in immer größerer Anzahl belagert wird, seitdem Pegida in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt ist.
Wir denken zu einseitig, denn dieser Ort hat viel mehr zu bieten als das politische Abseits, das uns aus den Nachrichten entgegenschlägt. Um die Vielfalt und Lebendigkeit der Literaturszene in „Elbflorenz“ zu belegen, hat unser Redakteur Benedikt Dyrlich – darin bestens bewandert – für Sie einige Gedichte, Prosatexte, Essays, Rezensionen und Bilder aus dem Riesenangebot ausgewählt. Für uns ist er auch mit der Kamera durch die Stadt gelaufen, um Symbolbilder aus dem „Florenz des Nordens“ festzuhalten. Neben den Dresdnern Michael Bartsch, Nancy Aris, Abdelwahhab Azzawi, Kerstin Becker, Benno Budar, Uwe Claus, Silvio Colditz, Benedikt Dyrlich, Michael G. Fritz, Peter Gehrisch, Axel Helbig, Lothar Koch, Christina Koenig, Dieter Krause, Gregor Kunz, Andreas Paul, Lutz Rathenow, Bernd Rump, Mike Scholz, Carla Schwiegk, Gundula Sell, Volker Sielaff, Norbert Weiß, Patrick Wilden, Jens Wonneberger, Karin Weber sowie den Künstlerinnen Else Gold und Gudrun Trendafilov, deren Werke zusammen mit Bildern von Gregor Kunz die MATRIX-Ausstellungsräume dieser Ausgabe bestücken, veröffentlichen wir auch zwei „Dresdner Texte“ von Traian Pop Traian und Ursula Teicher-Maier.

Dass Theo Breuers Herz immer höher schlägt, wenn es um Friederike Mayröcker geht, bekräftigt sein Essay zu zwei zuletzt erschienenen Büchern ein weiteres Mal.

Charlotte Ueckert erinnert an Angelika Krogmann, Ulrich Bergmann teilt persönliche Gedanken über seine Generation mit und die Bonner LEXIS-Gruppe präsentiert einen wunderbaren griechischen Autor, Stamatis Polenakis, dessen  Lyrik ein permanenter Dialog mit der jüngeren Geschichte sowie bedeutenden Texten der Weltliteratur ist, wie Elena Pallantza im Einführungstext anmerkt.
Neben Polenakis stellen wir im „Atelier“ auch Texte von Mark Behrens, Norbert Sternmut, Gabriele Frings und Franz Hofner vor.

Im „Forum“ schreibt diesmal Axel Kutsch einen kritischen Beitrag über die Art und Weise, wie Lyrik-Anthologien zurzeit in Zeitschriften von Rang besprochen werden. Wir stimmen ihm zu: Einige Anthologien verdienen ein solches Abkanzeln nicht – viele aber schon.

Und unsere Rezensenten Wolfgang Schlott, Elke Engelhardt, Anke Bütow und Uli Rothfuss haben für Sie Neuerscheinungen von Ana Blandiana, Johannes Anyuru, Stefanie Golisch, Charlotte Ueckert und Rainer Wedler gelesen.
Wir hoffen, Ihren Erwartungen entsprochen zu haben, und laden Sie herzlich ein, viele der hier veröffentlichten Autoren auf der Leipziger Buchmesse persönlich zu treffen, wo wir u. a. auch diese Ausgabe vorstellen werden. Der Termin steht schon fest: 17. März 2016, 10–11 Uhr, Forum OstSüdOst in Halle 4, Stand E505. Anschließend (ab 11 Uhr) findet am gleichen Ort die Veranstaltung „Literatur sorbischer Autoren und ihrer Freunde in der Literaturzeitschrift BAWÜLON“ statt.

Und zu guter Letzt: Die nächste Ausgabe feiert den Dichter und Essayisten Kurt Drawert, der 60 Jahre jung wird, und erscheint pünktlich an seinem Geburtstag.
Ihr
Traian Pop

Es signiert:

• Klaus Martens • James Joyce 75 Jahre nach seinem Tod • Simona-Grazia Dima • Nancy Aris • Abdelwahhab Azzawi • Michael Bartsch • Kerstin Becker • Benno Budar • Uwe Claus • Silvio Colditz • Benedikt Dyrlich • Literaturalltag im Elbflorenz • Michael G. Fritz • Peter Gehrisch • Axel Helbig • Lothar Koch •  Christina Koenig • Dieter Krause • Gregor Kunz • Andreas Paul • Traian Pop Traian • Lutz Rathenow • Bernd Rump• Mike Scholz • Carla Schwiegk • Gundula Sell • Volker Sielaff • Ursula Teicher-Maier • Karin Weber • Norbert Weiß • Patrick Wilden • Jens Wonneberger • Else Gold • Gudrun Trendafilov • Jayne-Ann Igel • Theo Breuer • Charlotte Ueckert• Ulrich Bergmann • Stamatis Polenakis (Σταμάτης Πολενάκης)• Mark Behrens • Norbert  Sternmut • Gabriele Frings• Franz Hofner • Anke Bütow • Uli Rothfuss • Axel Kutsch• Elke Engelhardt • Wolfgang Schlott •

 

MATRIX 3/2014 (37) • 100 Jahre Erster Weltkrieg

M_37_1Seismogramme des Kriegsalltags

Eine Fata Morgana schien die endgültige Fassung dieser MATRIX-Ausgabe zu sein: Sie wuchs und wuchs und wuchs und wir mussten irgendwann STOPP! sagen, sonst hätte sie alle vorstellbaren Rahmen gesprengt. Das 100-jährige Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist eigentlich vorbei, doch angesichts der heutigen Realität sollten wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Es lässt sich nicht ohne Weiteres verdrängen, dass wir Bürger eines Landes sind, das in der Vergangenheit heftig vom Kriegsfiebervirus erwischt wurde und dadurch sich selbst und der Welt unvorstellbares Leid und Schaden zugefügt hat. Dennoch sieht es so aus, als wollten sich unsere Volksvertreter auch bei diesem Anlass trotz des weltweit ausgebrochenen Erinnerungsfiebers eher zurückhalten. Doch das Gedenken an die Tragödie – so unbequem es sein mag – beinhaltet auch eine Chance. Es liegt an uns, diese Gelegenheit zu nützen. Was natürlich nicht leicht ist in Zeiten der Kriegsrhetorik, des Nationalismus, Dschihadismus etc., aber immer noch möglich. So lange, wie uns die Zeit reicht.
Dass durch eine Reihe von peinlichen Pannen und grotesken Lügen, durch eine unglaubliche Mischung von guten und schlechten Absichten, von verborgenem und sichtbarem Willen, über Nacht ein Weltkrieg entstand, ist Gott sei Dank geklärt: nichts Nennenswertes, nichts Ideelles, nichts Zukunftsweisendes dahinter – und trotzdem ein Weltkrieg. Die kleinlichen Querelen, die Nichtigkeiten und die dazugehörige unfähige, aus der Zeit gefallene Diplomatie wirken auf mich sonderbar aktuell. Warum interessiert sich heutzutage niemand für die Haufen von internationalen und nationalen Lügen, von willkürlichen Interpretationen, von ethnozentristischen Gedanken, frage ich immer öfter, ohne eine Antwort zu finden. Deswegen höre ich aber nicht auf, weiterhin zu fragen – weil ich immer noch an Recht, Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit glaube. Ich weiß, ich weiß, auch die Barbarei führt die Argumente „Recht, Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit“ im Munde. Dies entschuldigt aber nicht unser Zögern, Wegsehen und Schweigen. Denn selbst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs haben sich die kriegerischen Handlungen – ob sie Panama, Vietnam, Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Ukraine heißen, um nur einige Desaster aufzulisten – fortgesetzt. Auch die gegenwärtige Isolierung Russlands weckt Befürchtungen. Mehr vielleicht als alle anderen Konflikte, die fast alle Regionen der Welt entzündet haben. Dem Zusammenhang zwischen dem heutigen weltpolitischen Aufrüsten und dem Ersten Weltkrieg wird aber immer noch kaum Beachtung geschenkt. Wegen des größten wirtschaftlichen Erfolgs aller Zeiten – namens Waffenindustrie?
Zeitzeugen der damaligen blutigen Kämpfe gibt es nicht mehr. Die schrecklichen Geschehnisse geraten zunehmend in Vergessenheit. Was bleibt, sind die Schauplätze. Die Wege der Erinnerung 14–18, wie die Franzosen sie genannt haben. Kriegs-Tourismus: Was für eine makabre Beschäftigung, dachte ich, als ich quasi ohne Vorwarnung mitten auf einen solchen Schauplatz der blutigen Stellungskämpfe geriet. Nun weiß ich, dass sich die Gegner in einem Abstand von wenigen Metern gegenüberlagen. Sie haben sich gegenseitig beobachtet, gesehen, gehört. Eigentlich haben sie in diesen engen Stellungen zusammen gelebt, sind hier zusammen gestorben. Wussten sie auch warum?

Klaus Martens schreibt in seinem Essay: „.. uns geht die allzu wenig beachtete literarische Seite der laufenden Diskussionen an, vor allem die Opfer der Kämpfe auf allen Seiten der Fronten: Georg Trakl, Ernst Stadler, Alfred Lichtenstein, August Stramm, Wilfred Owen, Rupert Brooke, Guillaume Apollinaire, Charles Péguy – wir kennen die Namen, diese und viele andere. Aber auch Überlebende wie Gottfried Benn und Ernst Jünger, deren Werke direkt oder indirekt nie davon loskamen.“
Die kleine Werkauswahl ergänzen literarische und historisch-analytische Beiträge von Axel Kutsch, Richard Wagner, Horst Samson, Otto Alscher, Dieter Schlesak, Gabriele Frings, Peter Ettl, Norbert Sternmut, Thomas Kade, Gisela Hemau, Franz Heinz, Katharina Kilzer, Manfred Pricha, Hans Schneiderhans, Peter Frömmig, Sander Wilkens, Rainer Wedler, Barbara Zeizinger, Francisca Ricinski und Charlotte Ueckert – als ein Versuch, uns die damaligen Ereignisse künstlerisch nahezubringen. Dass ein solches Unterfangen nicht einfach ist, trotz (oder wegen?) der 100 Jahre, die dazwischen stehen, beweist die simple Feststellung unseres Autors Frank Milautzcki über Rudolf Börsch: „Ob er in Galizien oder in Frankreich den Tod suchte und fand, bleibt vorerst offen.“
Als Rahmen habe ich einige Fotos ausgewählt – und füge hier als Kommentar hinzu: Was bleibt, ist der Rasen, mit schmucklosen Kreuzen übersät. Einige davon sind aus Metall und schwarz, so sah es der Versailler Vertrag für alle deutschen Gefallenenfriedhöfe vor. Dazwischen Steinstelen für die gefallenen jüdischen Soldaten, die für Deutschland gekämpft haben.

Entgegen allen kriegerischen Handlungen erlauben wir uns weiterhin, an Literatur und Kunst zu glauben. Wir feiern also mit Theo Breuers Essay „Wie eine Lumpensammlerin“ das runde Geburtsdatum Friederike Mayröckers, unser China-Korrespondent Ulrich Bergmann eröffnet seine Reihe „Die Monde der gelben Mitte“ und Horst Waldemar Nägele feiert mit uns den 250. Geburtstag des dänisch-deutschen Dichters und Philosophen Jens Immanuel Baggesen.
Unser Atelier bietet diesmal „An imaginary conversation“ (zwischen Tycho Brahe und Johannes Kepler), das erste Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Jean-Patrick Connerade (pen-name Chaunes) und unserem Redakteur Uli Rothfuss, sowie neue Texte von Jürgen Kross, Martina Hegel, Andreas Noga, Edith Ottschofski und Gerhard Bauer. Der Debütant diese Ausgabe, Thomas Reeh, stellt sich mit einem Prosastück vor: „Es ist alles unwahr oder 10 Liebesbegegnungen“. Jede Menge neue Bücher rezensieren Theo Breuer, Johann Holzner, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss, T. T. Pop, Dieter Mettler, Benedikt M. Trappen und Jo Weiß. Peter Frömmig hat für uns die Ausstellung „Reisen. Fotos von unterwegs“ im Literaturmuseum der Moderne in Marbach angeschaut. Und Aufmerksamkeit verdienen auch die Materialien in unserem Forum, für die Klaus Staeck, Horst Samson und Wolfgang Schlott zeichnen.

Wir wünschen Ihnen – trotz des schwierigen Themas – eine angenehme Lektüre!

T. Pop

Es signiert:

• Barbara Zeizinger • Gabriele Frings • Rudolf Börsch • Wilfred Owen • Georg Trakl • August Stramm • Robert Frost • Richard Wagner • Klaus Staeck  • Horst Samson • Horst Waldemar Nägele • Gisela Hemau • Axel Kutsch • Klaus Martens • Otto Alscher • Dieter Schlesak • Franz Heinz • Rainer Wedler• Manfred Pricha • Norbert Sternmut • Gerhard Bauer • Charlotte Ueckert • Jean-Patrick Connerade/Chaunes • Uli Rothfuss • Peter Frömmig • Peter Ettl • Thomas Kade • Sander Wilkens • Martina Hegel • Edith Ottschofski • Jürgen Kross • Andreas Noga • Ulrich Bergmann • Johann Holzner • Theo Breuer • Jo Weiß • Traian Pop Traian • Benedikt M. Trappen • Hans Schneiderhans • Katharina Kilzer • Francisca Ricinski • Dieter Mettler • Wolfgang Schlott •

MATRIX 4/2014 (38) • Esma Oniani

M38Was Sie gerade lesen, sind nur geklonte/geklaute Zeilen aus einem langen Brief an einen Kulturminister, der vor etwa drei Wochen an den Börsenverein sowie einige Zeitungen ging.
Eine Reaktion darauf habe ich nicht mitbekommen, deshalb denke ich, dass selbst eine Skandalentscheidung hinsichtlich einer Preisverleihung nicht so viel graues Licht werfen wie eine noch viel grauere literarische Landschaft schlucken kann. Es ist unerklärlich, schier unglaublich, aber trotzdem wahr, was da – wieder einmal, muss man sagen – passiert ist.

Ich gehe weder von gehörigem Unwissen noch von hochgradigem Desinteresse der Juroren aus und genauso wenig wie gezielter Korruption, obwohl es ganz danach aussieht, so abwegig ist deren ,Richtspruch‘. Da wird die Literatur förmlich vom hohen Gerüst gestürzt und ein Popanz von Verlag als Polier auf die Bretter weit über den Köpfen projiziert. Was für eine Kulturschande!

Diese Entscheidung Jahr für Jahr Ignoranten überlassen? Wie lange soll das unwidersprochen fortdauern? Künftig sollten Sachverständige in diese Entscheidung aktiv eingebunden sein, anstatt die Köpfe in den Sand zu stecken und so haarsträubende Verdikte zu akzeptieren, wenn Dichterland und öffentliche Gelder beteiligt sind.

Nun, da die Katze aus dem Sack ist und tot im Dreck liegt, sind Kreativität und offensiver Umgang mit solch grober Fehlentscheidung gefragt, will heißen, der Geschädigte hat eine Wiedergutmachung für den zugefügten Schmerz und die ungerecht erlittene Schmach verdient, und sei es auch nur in Form einer Entschuldigung. Am segensreichsten wäre es freilich für die Literatur des schönen, sich mit einer wahrlich großen dichterischen Vergangenheit schmückenden Ländle, ein rühmliches Projekt zu fördern anstatt eines belanglosen – man höre und staune – „mit Buchideen zum amerikanischen Transzendentalismus“, was immer das sein mag.

Dass das Kulturministerium da nicht rebelliert, sondern mitspielt, ist dabei mehr als nur erstaunlich.
Dass das verschlafene Leitungsgremium des dichterländlichen Verbandes deutscher Schriftsteller da nicht kritisch seine Stimme erhebt, ist die nächste Katastrophe.

„Nun, da die Katze aus dem Sack ist und tot im Dreck liegt“, wollte ich von Editorial, Zeitschrift und Literatur nichts mehr wissen. Wolle aber und mache das, wer kann …

Ich bin mächtig, ich bin nichts…

Eines allerdings sollte dem Literaturbetrieb niemand ankreiden: dass man sich nicht ausreichend mit Georgiens literarischer Landschaft auseinandergesetzt habe. Als einen ersten Tropfen auf den heißen Stein sehen wir daher den Versuch, eine Grande Dame der georgischen Literatur und Kunst vorzustellen: Esma Oniani. Jörg Alexander Henle erinnert sich an seine erste Begegnung mit deren bildkünstlerischem Werk: Ein Feuerwerk in Rot empfing den Besucher, der von der Straße in die Gemäldegalerie eintrat. (…) Die Bilder von Esma Oniani waren Flammen, die Wasser nicht löschen konnte. Was sie ausstrahlten, war Kraft. Kraft und Zärtlichkeit. 60 Jahre alt war die Künstlerin, die 1999 starb. Wir denken an „Blau“, wenn wir den Namen Yves Klein hören. Von nun an werde ich an Esma Oniani denken, wenn ich „Rot“ höre. Wir laden Sie ein, die georgische Schriftstellerin und Malerin kennenzulernen: mit Gedichten, Gedanken über die Poesie, Zeichnungen und Bildern ab Seite 7.

 »Fetzchen« ∙ It’s Mayröcker Time

Mit Ștefan Aug. Doinaș wollen wir der deutschsprachigen Leserschaft den Blick ins Werk eines der prominenten Akteure der gegenwärtigen Literatur aus Rumänien vermitteln. Mit einem Essay von Theo Breuer feiern wir Friederike Mayröcker, eine der markantesten literarischen Stimmen der heutigen Zeit, die am 20. Dezember 90 Jahre jung wird.

Die Monde der gelben Mitte

Unser China-Korrespondent Ulrich Bergmann berichtet in seiner Reihe „Die Monde der gelben Mitte“ über „Qingdao – eine neue Welt und drei chinesische Parabeln“. Das Atelier präsentiert Gedichte von Rainer Maria Gassen, Wolfgang Schlott und Elke Engelhardt sowie Prosatexte von Mark Behrens, Sabine Bentler und Alex Judea, dazu einen Theaterstück-Auschnitt von Christian Knieps.
Das Bücherregal dieser Ausgabe schmücken aufschlussreiche Rezensionen. Es signieren: Edith Ottschofski, Wolfgang Schlott, Rainer Wedler, Uli Rothfuss, Willi van Hengel, Klaus Martens, Elke Engelhardt, Dieter Mettler und Stefanie Golisch. Wolfgang Schlott besuchte Yuri Alberts Ausstellung im Bremer Museum für moderne Kunst, Weserburg. Und Barbara Zeizinger berichtet im Forum über unsere Präsenz auf der Frankfurter Buchmesse 2014 sowie über die Verleihung des Gerhard-Beier-Preises an unseren Mitstreiter Horst Samson.

Liebe Leserinnen und Leser, falls ich Sie mit meinen einleitenden Gedanken belastet oder sogar belästigt haben sollte, tut mir das leid, aber ich denke, dass eine freie Meinungsäußerung unserem Literaturleben nicht schaden kann. Mag sein, dass nicht alles so grau ist, wie es manchmal aussieht. Doch nichts zu sagen, das bringt nichts. Sich aber über irgendwelche Entscheidungen einiger Preisrichter zu ärgern, statt sich mit Literatur und Kunst zu befassen, das ist auch nicht richtig – das gebe ich an dieser Stelle offen zu. Es gibt Besseres zu tun.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine gute, versöhnliche Weihnachtszeit und einen gelungenen Start ins neue Jahr!

Herzlich,
Traian Pop

Es signiert:

• Esma Oniani • Dominik Irtenkauf • Jörg A. Henle • Ștefan Aug. Doinaș • Theo Breuer • Rainer Maria Gassen • Sabine Bentler • Uli Rothfuss • Mark Behrens • Elke Engelhardt • Rewas Twaradse • Edith Ottschofski • Ulrich Bergmann • Willi van Hengel • Rainer Wedler • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Wolfgang Schlott • Alex Judea • Christian Knieps • Traian Pop • Klaus Martens • Barbara Zeizinger •

MATRIX 1/2015 (39) • Dieter P. Meier-Lenz

M39Stellen Sie sich mal vor: Egal ob die Information von einer Zeitung, einem Radiosender, TV-Programm oder Blog kommt – überall die gleiche Meinung. Stellen Sie sich dazu noch vor, dass keiner es merkt, zu merken scheint oder merken möchte. Alle haben sich damit arrangiert, alle können damit gut leben. Was soll da noch die Erinnerung an Zeiten, als es verschiedenste Meinungen und Ansichten zum gleichen Thema gab? Wohin mit den „edel, hilfreich und gut“ gesinnten Militanten, die ringsum in der Nachbarschaft die Briefkästen mit Flugblättern gespickt haben, die mit Bild und Adresse vor dem „Störfaktor unserer guten Nachbarschaft“ warnen, der ihrer Ansicht nach „zwischen uns keinen Platz“ habe? Wohin mit dem „Lügenpressevorwurf“? Wohin mit der ständigen Manipulation der Öffentlichkeit in großem Stil? Wohin mit den Whistleblower-Enthüllungen? Wohin mit den Verschwörungstheoretikern, die endlich kapiert haben, was „unseren“ Werten, Interessen und Rechten am besten dient? Eine Vorstellung lässt mir schon lange keine Ruhe: Jeder weiß, das Christus’ Opfer nur der Gipfel einer Pyramide von Opfern ist, die jeden Tag wächst und jede der alltäglichen Wachstumsprognosen (um auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben) in den Schatten stellt – aber keiner hat damit ein Problem. Dass diese Vorstellung Realität ist, will ich immer noch nicht wahrhaben. So viel Freiheit muss mir doch erlaubt sein. Ihnen auch, keine Angst. Probieren Sie’s! Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich ein total anderer Mensch bin, seitdem mir bewusst wurde, wie und was sich hinter der Freiheit verstecken kann.

Als Freiheit sehe ich auch die Entscheidung der Redaktion von „Charlie Hebdo“ an, die absolut passende Karikatur dieser Tage, die ihr sogar umsonst angeboten wurde, nicht zu veröffentlichen: das Bild mit dem französischen Präsidenten François Hollande, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, den Staatschefs von etwa 40 weiteren Ländern sowie Vertretern eigentlich aller großen Weltreligionen beim „Republikanischen Marsch“. Dass dies nur ein Fototermin war, wissen angeblich alle. Vor allem jene, die sich lieber etwas anderes gewünscht hätten: einen Verzicht, zum Beispiel auf die kollektive Anreise, um die so eingesparten Reisekosten einem Fond zu spenden, der den Hinterbliebenen und den überlebenden Opfern zugute kommt. Genauso wie jene, die diese Inszenierung bewusst als Beweis für die fröhliche Nachricht sehen, dass unsere politischen Vertreter – Seite an Seite mit dem saudischen Außenminister und gemeinsam mit dem Volk – für eine freie Presse marschiert sind. Vielleicht ist es aber auch ganz anders gewesen. Man könnte genauso gut annehmen, dass diese Inszenierung nichts anderes als eine Falle für mögliche Attentäter war: dass die Elite dieser Welt sich selbst als Lockvogel zur Verfügung gestellt hat, um die Aufmerksamkeit potenzieller Attentäter von den Angehörigen und Freunden der Opfer abzulenken. Wie sähe es dann mit dem Thema „Mangel an Courage“ aus? Ah, ja, noch eine Verschwörungstheorie: dieses ewige „Wort des Jahres“, das uns immer wieder Hilfestellung gibt …

165 Jahre EMINESCU

Unter dem Motto „Und wenn die Wolken weiterziehen: 165 Jahre EMINESCU“ stellen wir in diesem Heft den in Rumänien überaus verehrten romantischen Dichter Mihail Eminescu vor, der mit seinem Werk Maßstäbe setzte für die weitere Entwicklung der rumänischen Literatursprache – mit einigen Übersetzungen sowie einem ausführlichen Essay von Christian W. Schenk. Simona-Grazia Dimas Beitrag „Eminescu, Schopenhauer, Veda“ rundet unser Gedenken mit eine Facette der heutigen Rezeption seines Werkes ab.

Dieter P. Meier-Lenz wird 85

Feiern – und zwar auf 118 Seiten – wollen wir in dieser MATRIX das Geburtstagskind Dieter P. Meier-Lenz, der 85 Jahre alt wird: „Ein großer Dichter ohne jede Attitüde“, wie unser Redakteur Rainer Wedler hervorhebt. Nicht nur mit seinen Gedichten, sondern auch mit einem kurzen Interview sowie einigen Essays, Prosabeiträgen und Bildern versuchen wir, Ihnen einen lebhaften Eindruck vom Autor und seinem Werk zu vermitteln.
Auf eine literarische Reise – „Zurück in die Zukunft der 1990er-Jahre“ – nimmt uns Theo Breuer in seinem Essay „Traumtänzer“ mit.

China auf der Suche nach der optima res publica?

Und Ulrich Bergmann setzt seine China-Fahrt fort und berichtet von der Suche dieses Staates nach der „optima res publica“.

„Das Schreiben ist meine Weise zu existieren“, räumt Dorthe Nors, eine dänische Schriftstellerin, die mit ihren Büchern gerade die Welt erobert, im Gespräch mit unserer Chefredakteurin Francisca Ricinski ein.
Michael Fruth und Willi van Hengel bestücken das Atelier mit gelungener Poesie und Prosa. Die Essays und Rezensionen von Ulrich Bergmann, Christine Kappe, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss, Christian Knieps und Elke Engelhardt füllen unser Bücherregal. Henri-Paul Campbell berichtet im Forum über den Deutsch-Arabischen Lyrik-Salon.

Und nicht zuletzt informieren wir Sie, dass unsere nächste MATRIX-Ausgabe, die dem bekannten Schriftsteller Richard Wagner gewidmet ist, kurz von der Leipziger Buchmesse erscheinen wird, wo sie am 15. März um 12.30 Uhr im Café Europa (Halle 4, Stand E401) vorgestellt wird. Übrigens finden Sie uns in wie im letzten Jahr in Halle 4, Stand E404. Folgende Autoren begleiten uns diesmal auf der Messe: Ilse Hehn, Steliana Huhulescu, Christine Kappe, Edith Konradt, Ioana Nicolaie, Franciska Ricinski, Barbara Zeizinger, Dato Barbakadze, Mark Behrens, Ulrich Bergmann, Benedikt Dyrlich, Eric Giebel, Wjatscheslaw Kuprijanow, Klaus Martens, Horst Samson, Bosko Tomasevic, Rainer Wedler und Karl Wolff. Den raffinierten Literaturliebhaber und -kenner Gert Weisskirchen konnten wir als Moderator gewinnen. Sie sind herzlich eingeladen, uns zu besuchen.

Ich hoffe, Sie sind neugierig geworden und wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Ihr
Traian Pop

Es signiert:

• Michael Fruth • Jürgen Nendza •  Johann P. Tammen • Dieter P. Meier-Lenz  • Und wenn die Wolken weiter ziehn: 165 Jahre EMINESCU • Christian W. Schenk • Traian Pop • Simona-Grazia Dima • Dorthe Nors • Francisca Ricinski • Christoph Leisten  • Christian Knieps • Theo Breuer • Traumtänzer · Zurück in die Zukunft der 1990er Jahre • Elke Engelhardt • Ulrich Bergmann • Willi van Hengel • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Barbara Zeizinger • Henri-Paul Campbell •

Matrix 3/2015 (41) • Nikolaus Berwanger


MATRIX_41_A
…Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei), schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

Nikolaus Berwanger war damals für mich kein Unbekannter, aber er zählte nicht zu jenen, an die ich dachte, als ich am Schluss der Preisverleihung des Schriftstellerverbandes meinen Freund, den berühmten Literaturhistoriker und Kritiker Cornel Ungureanu, nach den nicht anwesenden deutschsprachigen Autoren fragte, ohne eine Antwort zu erwarten, denn allen war bereits klar, „dass die Deutschen uns für eine bessere Welt verlassen“: Den Anfang hatte doch schon der große Protektor Berwanger selbst gemacht. Ich war damals von den Texten der deutschen Kollegen begeistert – ohne Deutsch zu können –, da sie zum Großteil als Interlinearversionen für mich zugänglich waren. Dennoch wusste ich, dass sich hinter Berwangers prächtiger Gestalt, die mir ab und zu – dank meines Nebenjobs bei einer Literaturzeitschrift – über den Weg lief, viel mehr verbarg, als von außen zu sehen war: Mundartschriftsteller und höherer Parteifunktionär – echte Schimpfworte für uns, die wir gegen die Tradition und die Parteilinie schwammen –, dessen Position (mit den dazugehörigen Beziehungen) ihm ermöglichte, alles zu erledigen; ein Opportunist, der sowohl von den Deutschen (Westen inklusive) als auch von den Rumänen alles verlangte und bekam. Was für ein Kurzschluss, was für ein Irrtum!
Seine Texte sowie die Aussagen vieler Zeitzeugen, die Horst Samson – de facto Herausgeber dieser MATRIX-Ausgabe – hier gesammelt hat, bestätigen nun nicht nur, wie wichtig für mich und meine rumänischen, ungarischen, serbokroatischen Kollegen der Kontakt zu den deutschsprachigen war (lesen Sie dazu die Beiträge von Mária Pongrácz, Ildico Achimescu, Pia Brînzeu), sondern auch, dass ich ein besonders großes Glück gehabt habe, in der Nähe solcher Persönlichkeiten zu leben. Nun, da Nikolaus Berwanger in diesen Tagen 80 Jahre alt geworden wäre, versuchen wir – wie Richard Wagner, einer der besten Schriftsteller, die ich kenne, schreibt –, „etwas in Gang zu setzen“: „Es geht auch um die Lehren, die aus dem Blick auf das Leben eines Nikolaus Berwanger zu ziehen sind. Wenn ein Berwanger im Zeichen der Kontrolle und des Verbots etwas in Gang setzen konnte, so sollten auch wir, die wir jetzt im Zeichen der Verführung leben, der Manipulation, etwas bewegen können.“
Sie werden es uns bestimmt nachsehen, dass dieses Heft so umfangreich geworden ist – doch wenn wir alles, was wir zunächst sammelten, veröffentlicht hätten, wäre es mehr als doppelt so dick geworden. Wir hoffen, dass wir mithilfe der Texte von Nikolaus Berwanger, von den schon genannten beiden Autoren sowie von Karin Berwanger, Paul Schuster, Sigrid Eckert-Berwanger, Walter Engel, Eduard Schneider, Annemarie Podlipny-Hehn, Annemarie Schuller, Luzian Geier, Heinrich Lay, Hans Stemper oder Halrun Reinholz – neben Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern haben sich auch Verwandte, Bekannte, Freunde und Leser zu Wort gemeldet – „etwas bewegen können“.

»Auswertung der Flugdaten« · Notizen zu Thomas Kling

Theo Breuer erinnert mit seinen „Notizen zu Thomas Kling“ an den vor zehn Jahren verstorbenen Dichter. Anlässlich von Axel Kutschs 70. Geburtstag am 16. Mai 2015 veröffentlichen wir – von Theo Breuer ausgewählt – sieben Gedichte aus „Versflug“, dem jüngst erschienenen neuen Gedichtband. Herzlichen Glückwunsch, Axel Kutsch! Und unser kürzlich gefeiertes Geburtstagskind Dieter P. Meier-Lenz stellt uns Lola vor: in einem Gespräch und acht Gedichten.

Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte

Mit „Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte“ sucht Ulrich Bergmann uns das von ihm erlebte China nahezubringen. Und Christine Kappe, Rainer Wedler, Eric Giebel, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss und Stefanie Golisch runden diese Ausgabe mit Essays und Bücherbesprechungen ab.

Am 13. April starb Günter Grass, kurz nachdem er es geschafft hatte, sein letztes Manuskript – keinen Roman, sondern ein Experiment, eine Mischung aus Prosa und Dichtung – „druckfertig“ zu haben. Der Abschied von einem deutschen Gegenwartsautor, der nicht nur mit seiner Literatur auch außerhalb Deutschlands für Wirbel gesorgt hat, erfolgte unterschiedlich – obwohl ausnahmslos unter dem Motto: „De mortuis nil nisi bene.“ Nun, da der politische Provokateur und künstlerische Workaholic nicht mehr da ist, bleibt uns – die wir ihn oft nur noch unter polemischen Stichworten von „Waffen-SS“ bis hin zu „Was gesagt werden muss“ und „Europas Schande“ wahrgenommen haben – zum Glück nichts anderes übrig, als seine Bücher erneut aufzuschlagen. Von der „Blechtrommel“, dem „Big Bang“ der deutschen Nach-kriegsliteratur, bis zu „Hundejahre“, seinem „ungelesensten“ Roman, wie Denis Scheck in einem Interview anmerkt: „Ich habe jedenfalls noch keinen Mitarbeiter des WDR getroffen, der weiß, dass das letzte Drittel von ,Hundejahre‘ im Wesentlichen von einem Redakteur des WDR handelt, der in Köln-Marienburg lebt und dort Talkshows moderiert. Und Grass war immer jemand, der sich der Medienwirklichkeit sehr früh bewusst war, und das auch literarisch reflektierte. Und lesen Sie mal das letzte Drittel der ,Hundejahre‘; das ist ein Roman über das Deutschland des Jahres 2015. Da kann man Gänsehaut bekommen.“
Schwer fällt uns auch, den Verlust von Hans Bender als unwiderrufliche Tatsache zu akzeptieren. Der Autor und Mitbegründer der renommierten Literaturzeitschrift „Akzente“ war zudem Herausgeber der „Konturen – Blätter für junge Dichtung“ sowie zahlreicher Anthologien, u. a. „In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart“ von 1978. „Das war das Logbuch, das war der richtungsweisende Band, wo man sich über die neueste Lyrikproduktion informieren konnte“, so DLF-Literaturredakteur Hajo Steinert.
Diese Ausgabe schließt mit zwei Texten von Theo Breuer im Gedenken an Hans Bender und Günter Grass.

Ihr
Traian Pop

• Horst Samson • Nikolaus Berwanger • Richard Wagner • Theo Breuer • Axel Kutsch • Dieter P. Meier-Lenz • Ulrich Bergmann • Karin Berwanger • Sigrid Eckert-Berwanger • Walter Engel • Eduard Schneider • Mária Pongrácz • Paul Schuster • Ildico Achimescu • Pia Brînzeu • Annemarie Schuller • Luzian Geier • Heinrich Lay • Annemarie Podlipny-Hehn • Hans Stemper • Halrun Reinholz • Christine Kappe  • Uli Rothfuss • Eric Giebel • Stefanie Golisch • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Harald Gröhler • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Gert Weisskirchen • Uli Rothfuss •

Matrix 4/2015 (42) • Hans Bergel

 

M_42 „… Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei)“, schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

„In seinem Werk daheim“ Hans Bergel

Als ich diese Verse zu Papier brachte, dachte ich nicht an Hans Bergel, auch wenn ich ihn inzwischen kennengelernt hatte – indirekt, durch den ersten Übersetzer meiner Gedichte, Georg Scherg. Dies ist im vorliegenden Kontext natürlich unerheblich, und ich muss gestehen, dass ich ihn heute genauso wenig kenne wie sein Werk – denn die paar Bücher und Texte, die ich von ihm gelesen habe, ändern kaum etwas an dieser Tatsache. Allerdings war mir klar, dass sich eine MATRIX-Ausgabe unbedingt auch mit ihm auseinandersetzen sollte. Warum? Auf jeder Seite des über 250 Seiten umfassenden Teils zu Hans Bergel findet sich eine Antwort darauf – die bestimmt auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, entdecken werden: in den zahlreichen Gedichten und Prosastücken, in den Essays, Briefen, Tagebuchfragmenten und Privatfotos sowie Plakaten, Laudationes und Porträts, die um Hans Bergel kreisen.

„Mein Leitspruch, den ich mir seit Jahrzehnten täglich vorsage, gilt als sein berühmtester Satz. Er lautet – Sie wissen es –: ,Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘ Das bedeutet für mich: Ich weiß, dass ich täglich von vorne beginnen und alles auf eine Karte setzen muss, ohne mir des Ausgangs sicher zu sein. Alles, was ich in meinem Leben wollte und über diese Stunde hinaus will, verstehe ich als Handwerker, dessen einziges Streben es ist, saubere Arbeit abzuliefern. Als ein Handwerker an der unbeschreiblich schönen deutschen Sprache.“

So Bergel über Bergel.

Dass – wie Horst Samson, der unermüdliche Redakteur des Schwerpunktes Hans Bergel, sein Geleitwort beendet – „,der Mann ohne Vaterland‘ […] nicht wirklich unbehaust, sondern […] buchstäblich in seinem Werk daheim [ist]“, ahnte ich bereits. Nun sehe ich mich also aufgefordert, ihn zu Hause in seinem Werk zu besuchen. Eingeladen hat er uns schon immer.

Besucht haben ihn auf jeden Fall einige unserer Zeugen seines Weges: Horst Samson, Peter Motzan, Ana Blandiana, Katharina Kilzer, Siegbert Bruss, Peter Paspa, Susanne Schunn, Leonid Balaclav, um nur einige zu nennen. Sonst hätten wir diese Ausgabe gar nicht zusammenstellen können.

In diesem Heft möchten wir Balthasar Waitz zum sechzigsten Geburtstag gratulieren mit einer kleinen Auswahl aus seinen sehr eindrucksvollen Gedichten sowie einem Essay von Cosmin Dragoste keiner hört sie keiner sieht sie über ihn und sein Werk.

Nikolaus Berwanger wäre in diesem Jahr achtzig geworden. Ergänzend zu unserer ihm gewidmeten Ausgabe (Nr. 41) veröffentlichen wir hier noch einen Essay über ihn von Cornel Ungureanu, einem der renommiertesten rumänischen Literaturkritiker.

…wohl nicht sein „letztes Gedicht“ Dieter P. Meier-Lenz

Am 01.07. starb Dieter P. Meier-Lenz, kurz nachdem er uns seine letzten Texte zur Veröffentlichung angeboten hat, die in der vorherigen Ausgabe erschienen sind. In dieser Ausgabe gedenken wir seiner mit einem Gedicht aus seinem letzten Band („hirnvogel. Ausgewählte Gedichte 1990–2014“. Mit 7 Zeichnungen von Brigitte Kühlewind Brennenstuhl, Pop Verlag, 2014), das mit folgenden Versen schließt:

„kein inhalt und ohne gewicht
und schon im entstehen zersprungen
so endet mein letztes gedicht“

Es war wohl nicht sein „letztes Gedicht“, sondern eines der letzten. Wir trauern um ihn – voller Dankbarkeit, ihn unter uns gehabt zu haben –, und nehmen uns vor, sein Werk weiterhin bekannt zu machen. Dazu trägt ein Text von Andreas Noga bei, der ihm – wie viele von uns – nahegestanden hat.

Politische Cartoons in Maos China

Mit seinem Beitrag „Politische Cartoons in Maos China“ führt Ulrich Bergmann eine weitere Facette des fernöstlichen Staates vor Augen. Unser „Atelier“ bietet diesmal Essays, Aphorismen, Gedichte und Prosa von Maximilian Zander, Stefanie Golisch, Franz Hofner, Katja Kutsch, Raluca Naclad und Herwig Haupt. Buchbesprechungen von Katharina Kilzer, Elke Engelhardt, Wolfgang Schlott, Andreas Rumler und Stefanie Golisch runden diese schon wieder überbordende Ausgabe ab – und eine Nachricht, die uns gerade aus Rumänien erreicht hat: Unsere Chefredakteurin Francisca Ricinski wurde zum „Botschafter der Poesie“ ernannt. Wir gratulieren und freuen uns schon auf ihre nächsten Beiträge!

Ihr
Traian Pop

Es signiert:

• Horst Samson • Hans Bergel • Peter Motzan • Dieter P. Meier-Lenz • Ana Blandiana • Renate Windisch-Middendorf •Peter Paspa • Cornel Ungureanu • Balthasar Waitz • Ulrich Bergmann • Cosmin Dragoste • Andreas Noga • Maximilian Zander • Stefanie Golisch • Franz Hofner • Katja Kutsch • Raluca Naclad • Herwig Haupt • Katharina Kilzer • Elke Engelhardt • Andreas Rumler • Wolfgang Schlott •

 

Matrix 2/2014 (36) • Axel Kutsch spannt Versnetze übers Wortland

Cover MATRIX 36

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Europa, ah, meine offene Wunde … Jahrelang habe ich von Europa geträumt. Jahrelang hat mich umgetrieben, dass die meisten Einwohner der EU nicht wissen oder nicht wissen wollen, dass Europa nicht an den Grenzen der EU endet, und sich damit schwertun, dass ein Rumäne, Bulgare, Ukrainer, Georgier oder Russe nichts anderes als ein ganz normaler Europäer ist, auch wenn er nicht in den privilegierten Teil Europas reisen kann bzw. darf. In einem Teil dieses nicht privilegierten Europa kochen nun wieder Ambitionen, Träume, Ideen, Interessen guten oder weniger guten Willens hoch – wie auf dem Basar oder noch schlimmer, auch wenn uns West-Europäern dieses Wort nicht gefällt.  Alle sprechen heutzutage über die Ukraine.

Die Kunst der „Friedensstifter“

Ehrlich gesagt, sollte ich als gebürtiger Rumäne und fast bedingungsloser Unterstützer der europäischen Idee sowie als deutscher Verleger und Redakteur auf der West-Seite stehen. Weil z. B. ein großer Teil Rumäniens von Russland okkupiert wurde (als Folge eines ehemaligen deutsch-russischen Abkommens) und bis heute noch nicht zurückgekehrt ist; oder weil ich immer noch die Zerstörung Jugoslawiens als Zerstörung eines Teils von Europa verstehe. Wenn ich aber die Geschichtslektion einer Politikerin höre, die demnächst den Stuhl des mächtigsten Präsidenten der Welt einnehmen will – was unter Umständen geschehen könnte –, wird mir schwindlig. Genauso, wenn ich mich mit der Kriegsrhetorik fast aller Friedensakteure konfrontiert sehe: von den Friedensnobelpreisträgern Barack Obama und EU über einige Regierungschefs europäischer Länder bis zu Putin (der wahrscheinlich diese Medaille auch unbedingt in seiner Vitrine haben will und kapiert hat, dass dies nur durch Friedenswillen oder -akte nicht zu erreichen ist). Ach, diese Friedensstifter, die überall in der Welt potenzielle Brandstifter suchen, um ihnen Streichhölzer jeder Art zu schenken. Ach, diese Friedensstifter, die bereit sind, selbst Feuer zu legen, wenn sich kein potenzieller Brandstifter finden lässt. Nicht umsonst natürlich: „Gewinner“ gibt es immer, auch wenn hinterher keiner von ihnen etwas mit dem selbst angerichteten Chaos zu tun gehabt haben will. Es reicht manchmal – wie bei einem Kinderspiel –, der Reihenfolge von Ursache und Wirkung zu folgen, um herauszufinden, wer und was … Wer aber will das ehrlich?

Literatur und Kunst am Scheideweg

Wohin, in dieser Konstellation, mit der Literatur? Wohin mit der Lyrik? Unser Vorhaben wirkt manchmal extrem, weil es sich um ein Gleichgewicht von Tradition und Avantgarde, von Respekt gegenüber unserem Kulturerbe und kritischem Geist bemüht. Was gerade passiert, kann aus vielen Gesichtspunkten als tragisch aufgefasst werden, aber es gibt auch berechtigte Gründe, nach vorn zu schauen. Es stimmt, man schreibt heutzutage viel ( allein schon gemessen an dem, was ich täglich an Post bekomme) und liest wenig(er) oder kaum noch (gemessen an dem,  was ich als Verleger verkaufe). Die junge Generation lebt in einer Zeit von Copy & Paste zwischen okay und Cool und wird am Arbeitsplatz von „Spezialisten“ für das Führen/Unterdrücken/Überwachen anderer Menschen getrimmt. Niemand will mehr wahrhaben, dass es auch Bereiche gibt, wo normalerweise die Wirtschaft und Politik draußen vor der Tür bleiben müssen. Dem Geld reicht es jetzt nicht mehr, nur zu regieren, es will dafür auch gelobt werden.

Ein kleiner Text bringt große Hoffnung

Dennoch, gibt es auch etwas anderes. Erlauben Sie mir zu zitieren: „Lieber Traian, habe soeben noch mal die Seiten für die BAWÜLON-Sonderausgabe durchgelesen und bin Dir unendlich dankbar, dass Du mir mit dieser wunderbaren Idee auf die faule Haut gerückt bist. Der Gott, an den ich glaube, ist ein BESONDERER. Aber er hat Dich als Motorengel geschickt, um mich in die Gänge zu bringen. Hoch und lang soll er leben, wo immer er sich aufhält und versteckt … Wie das heute in diese terroristisch geprägten Zeiten so reinpasst, habe ich auf Dich einen Anschlag vor. (…) Das ist – wenn ich die Familie ausblende – mein größter Wunsch in diesem Frühjahr, neben der Hoffnung, dass FRIEDEN bleibt, trotz einiger unverständlich kriegstreiberischer Medien, einiger verrückter (NATO)Politiker und der zwei irren Präsidenten, der eine weiß, der andere schwarz.“  Das hat mir ein Autor zu BAWÜLON Nr. 2/2014 geschrieben – ich kann Ihnen das Heft nur empfehlen, es ist tatsächlich eine (BE)SONDERAUSGABE.

Lyrik: Literatur der kleinen Auflage

Auch der thematische Schwerpunkt einer Zeitschrift für Literatur und Kunst kann durchaus dazu dienen, den Finger in eine brennende Wunde zu legen. Wenn aber das Thema die Grenzen der Berichterstattung sprengt und auf die Straße in die Mitte der Gesellschaft springt, zeigt es seine wahre Brisanz – aus kultureller, sozialer wie auch politischer Sicht. Dazu könnte man von vornherein die Auswahl unseres Wiederholungstäters Theo Breuer rechnen: eine Auswahl, die nicht nur mit der Dimension des Phänomens namens Axel Kutsch überrascht, sondern auch mit seiner ungewohnten Art konfrontiert, „wie ich es alles sehe“, „wer-was sagt/schreibt/meint“. Der Vermittler „eines breiter gefächerten Bildes unserer aktuellen Poesie“ (aus dem deutschen Sprachraum), der die „Vernetzung der Generationen“ spannend findet und feststellt, „dass die Poesie älterer Jahrgänge genau so frisch und anregend ist wie die junger Talente“, macht kein Geheimnis aus der Tatsache, dass er als Herausgeber genau weiß, dass nicht nur die Genies knapp sind – „Das war schon immer so“, merkt er an –, sondern auch, dass es sich beim Genre Lyrik um „ein Nischenprodukt“ handelt, „das sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt“, dass also Lyrik nach wie vor die Literaturgattung der kleinen Auflagen ist. „Lyrik wird heute in erster Linie in Kleinverlagen veröffentlicht – eine oft selbstausbeuterische Angelegenheit von ,Überzeugungstätern‘, deren Zahl in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Mit ihrem Engagement haben sie maßgeblichen Anteil daran, dass man wieder von einer Blüte in der deutschsprachigen Poesie reden kann. Allerdings sollte man sich nichts vormachen: „Die breite Öffentlichkeit nimmt keine Notiz davon“, sagt er im Interview. Und: „Wer sich als Autor und Herausgeber ausschließlich der Lyrik widmet, muss schon fahrlässig naiv sein – wenn er mit einem großen Publikum rechnet.“ „Er schrieb Gedichte/ für eine bessere Welt./ Sie wurde nicht besser, sein Werk gefällt …“

Boten von Literatur, Kunst und Kultur

Man kann nicht ansatzweise von Lyrik leben, aber man kann wunderbar mit Lyrik leben. Axel Kutsch wird dieser Tage 69 – „eine rundum runde Zahl, eine Zahl zum Lieben schön“, schreibt Theo Breuer, der nicht nur den Autor Axel Kutsch, seine Texte und Anthologien kommentiert, sondern auch seiner persönlichen Beziehung zu Kutsch, Kutsch-Texten und Kutsch-Anthologien nachgeht. „Es ist eine Fama, dass Gedichte im zeitgenössischen Leben moderner Menschen kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Das Gegenteil ist der Fall: Buchstäblich überall begegne ich attraktiven Wörtern, Reimen, Sprüchen, Zweizeilern, Vierzeilern. SMS-Botschaften vor allem junger Menschen geraten immer wieder zu verblüffend lyrisch verdichteten Kurzsequenzen …“ Lassen Sie sich verführen, liebe Leserinnen und Leser, von den mehr als 100 Seiten dieses Marathons, der hier Axel Kutsch gewidmet ist. Und dazu noch von Beiträgen von Hans Bender, Katja Kutsch, Katharine Coles, Ulrich Bergmann, Gabriele Frings, Traian Pop Traian, Hendrik Zinkant, Susanne Schmincke, Bernd Marcel Gonner und Vougar Aslanov. Die Debütanten Wanda Wälisch, Rene Magnet und Fabian Bohl stellen sich mit ersten Texten vor. Und Dieter Mettler, Christoph Leisten, Ulrich Bergmann, Wolfgang Schlott, Rainer Wedler, Gabriele Frings, Marcel Faust, Edith Ottschofski und Christine Kappe haben für Sie einige an die Redaktion geschickte Bücher sorgfältig unter die Lupe genommen. Zum guten Schluss: Anlässlich der WM in Brasilien hat Theo Breuer einen Essay geschrieben, der elfstimmig anklingen lässt, wie eng Fußball und Lyrik zusammenhängen.

Eine abwechslungsreiche Lektüre wünscht Ihr Traian Pop

Es signiert:

• Katja Kutsch • Katharine Coles • Hans Bender • Theo Breuer • Axel Kutsch • Christine Kappe • Ulrich Bergmann • Gabriele Frings • Rainer Wedler •  Uli Rothfuss • Susanne Schmincke • Dieter Mettler •  Christoph Leisten • Edith Ottschofski • Klaus Martens • Vougar Aslanov • Bernd Marcel Gonner • Marcel Faust • Dieter Mettler • Hendrik Zinkant • Traian Pop Traian • Wolfgang Schlott • u.a.

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