Tag 68 des Editorials: innerer Kampf
Ein verrückter Gedanke … Wie alle Gedanken, die eine eigene Realität von heute in eigenen Bildern von gestern darstellen wollen, geht mir ein Schlagwort aus dem rumänischen Frühjahr 1990 nicht aus dem Kopf, als zurückkehrenden Exilanten vorgeworfen wurde, keine Salami mit Soja gegessen zu haben! Denn das bedeutete damals Wohlbefinden: nicht gezwungen gewesen zu sein, Salami mit Soja zu essen! Heute auch? Gerade umgekehrt, meinen Ernährungswissenschaftler, die uns beibringen wollen, was für unsere Gesundheit gut wäre und was nicht. Was nun mit meinem seit über 32 Jahren erfüllten Traum, keine Salami mit Soja mehr gegessen zu haben? Soll ich daraus schließen, dass die damaligen Berater des „nationalen Wohltäters“ Rumäniens es bereits besser wussten? Verstehen soll das, wer kann. Es ist alles nur ein Witz. Oder?
Heute erinnere ich mich erneut an Zeiten, als ich dachte, dass alles, was ich bis dahin geschrieben hatte, keine Berechtigung mehr habe, weil – nicht wahr? – die Gegebenheiten nun andere waren. Was sollte ich anfangen mit meinem Krieg mit Ceauşescu, als der nicht mehr da war? Damals, als ich begonnen hatte, an den Schriftsteller Traian Pop Traian zu glauben? Sollte dies die Wirkung der literarischen Veranstaltung sein, die vor einigen Wochen stattfand, als ich nicht nur einen Haufen Bücher verkaufen konnte, sondern auch als Verleger so gelobt wurde, dass ich am liebsten nicht dabei gewesen wäre? Als Verleger nämlich, Sie haben richtig gelesen. Denn der Autor blieb irgendwie auf der Strecke. Soll ich das nun so verstehen, dass der Verleger den Autor verdrängt hat? Soll dies der Anfang des Endes sein?
Apropos Lob: Ich denke immer öfter, dass Lob mehr schadet als nützt. Es teilt. Es verursacht Reaktionen, die sich nur mit der Unvorhersehbarkeit, der einzigen Konstante, die in unsere sterbliche DNA eingeprägt ist, erklären lassen – falls in dieser Welt noch etwas konstant und überhaupt erklärbar geblieben ist. Wenn ich das Lob erwidern könnte, das mir zuteil wurde, ohne diejenigen zu beleidigen, die mich damit bedachten, würde ich nur ein einziges bewahren: die Zeilen der Ermutigung, die meine ersten Gedichte begrüßten, die in einer Zeitschrift des Schriftstellerverbandes Timişoara erschienen waren – diesen außergewöhnlichen Moment, wenn jemand aus einem Himmel voller Euter jenes mit deinen Träumen gefüllte auswählt, um seinen Durst und Hunger zu stillen. Es hätte damals gereicht, mich zwischen den noch heißen und nach Druckfarbe riechenden Seiten zu verstecken. Dass es anders lief, beweist die Tatsache, dass sich in mir wieder einmal die Wortkleie entfacht. Ich bin nicht berechtigt zu sagen, ob das Lob verdient oder unverdient war, oder den Lobregen zu verurteilen, der auf den als Mitglied einer literarisch-finanziell-administrativen Genossenschaft verdächtigen Autor fiel. Und ich weiß aus direkter Quelle, dass der Verleger, über den ich rede, nie einer solchen Genossenschaft angehörte. Alles, was ich zu tun wage, ist, mich an eine Rede zu erinnern, die von einem Schriftsteller gehalten wurde, der mir am Herzen liegt:
Ich wollte gelobt und geschätzt werden. Bis ich eines Tages verstand, dass gelobt zu werden eine Art Begräbnis von jemandem ist, der sein Leben noch nicht gelebt hat. Wie kann ich dann die Eifersucht erklären, die den Schriftsteller erfasst, der immer noch glaubt, dass sein „Job“ dem Unglück geschuldet ist, nichts anderes tun zu können als zu schreiben, und nicht den Lobpreisungen oder Anerkennungen, die niemand auf der Welt wirklich einordnen kann in der Rubrik „verdient“ oder – sagen wir – „fällig“? Wir Schriftsteller sind sehr seltsam – wenn Ehrungen von anderen entgegengenommen werden, drehen wir durch: Wir stürzen uns darauf zu behaupten, dass die Lobenden doch irrelevant sind und dass die Gelobten ein Zeichen der Würde setzen würden, wenn sie das Lob ablehnten. Aber wenn dieselben Lobpreisungen oder andere Ehrungen an unsere Tür klopfen, vergessen wir, sie abzulehnen. Wir mögen es, in Lob und Ehre „begraben“ zu werden, sogar bevor wir sterben, aber wir beschweren uns, dass wir zu Unrecht früh wie lebende Leichen behandelt werden. Denken Sie nur: Wenn ein Autor vor seinem Werk stirbt, haben wir es mit einem natürlichen Akt in der Ordnung der Natur zu tun, wenn aber das Werk vor seinem Autor stirbt, haben wir den tragisch-unwiderlegbaren Beweis des Scheiterns. Woher also die Bosheit und der Groll, dessen ein und derselbe Mensch fähig ist, in dem der Schriftsteller den Erfolg doppelt beneidet?
Nun – haben Sie es schon bemerkt? –, seit einiger Zeit fühlt sich unser Verleger sehr müde. Was er sich vorgenommen hat, übersteigt seine Kräfte und er sitzt immer einsamer vor dem Berg von Dingen, die er lösen muss. Wie seltsam: Als Unternehmer so gelobt zu werden, so viele Autoren zu haben, die dabei sein wollen, und dennoch mit den Problemen des Verlags jedes Mal fast allein zu sein …
Vielleicht hätte ich Ihnen das alles nicht erzählt, wenn in einer Ausgabe einer Literaturzeitschrift, die ich sehr respektiere, eine Primadonna der rumänischen Literatur, die auch hier in Deutschland bekannt ist, nämlich Nora Iuga, nach einer Lesung in Reşiţa nicht geschrieben hätte:
Aber eine noch größere Überraschung bereitet uns diesmal der bekannte Verleger Traian Pop Traian, der in seinem Verlag in Deutschland die Spitzenlyrik rumänischer Frauen herausgebracht hat und uns nun eine Collage seines eigenen Schaffens präsentiert, die ich mit Tränen in den Augen und offenem Mund wahrgenommen habe, dazu noch in deutscher Sprache, was er bisher nicht wagte. Und hier eine kleine Kostprobe des großen Dichters: „ist dieser bleierne Flügel alles / was von der Sehnsucht bleibt / die sich aufgemacht hat / ein bisschen frische Luft zu schnappen“. Es ist tatsächlich erstaunlich, dass eine Sprache wie ein geliehener Regenmantel für immer an deiner Garderobe hängen bleibt, damit du ihn zu Hand hast, wenn es zu regnen beginnt …
Uff, wie leicht man aus dem Rahmen fällt, als wüsste man nicht … dass Eigenlob nichts Gutes bringt!
Klarstellung: Der Autor dieses Editorials, der eigentlich mit dem Herausgeber der Zeitschrift identisch ist, wollte den Verleger keineswegs beiseiteschieben. Im Gegenteil, er bot ihm an, ihm zu helfen, indem er versucht, jene Texte aufzuspüren, die seiner Meinung nach nicht allgemein gewünscht, sondern tatsächlich lesenswert sind. Ein Musk-Humanoid würde ihn voraussichtlich auf der Stelle feuern. Da der Herausgeber dieses Magazins jedoch kein Humanoid, sondern ein Mensch ist, und weil unsere Zeitschrift keinem Mäzen oder sonstigen Geldgeber verpflichtet ist, gebe ich dem Autor beträchtliche Chancen bei seinem Kampf mit den Bedürfnissen des Marktes. Nach dem Motto: nicht den Anforderungen des Marktes nachzugeben, sondern den Markt dazu zu bringen, das zu wollen, was ich anbiete.
Unter anderem auch aus folgendem Grund: „Alsbald sollte ich Neuigkeiten erfahren / Die vielleicht diesem Poem / einen höheren Sinn verleihen“, wie Seine Exzellenz Emil Hurezeanu, ein Autor, der übrigens nicht nur die rumänische Gegenwartsdichtung, sondern auch das Land Rumänien als Botschafter vertritt, sein Für jede Jahreszeit von unser Redaktion empfohlenes Gedicht beendet.
„Unter dem Blick / in den Himmel steigender / und fallender Kometen / schluchzt lautlos im vollkommenen Vergessen / das Schweigen – / und daneben die Geschichte, / deren Mund vollgestopft ist mit Sand“ – eine andere Art Schrei von Arevshat Avagyan eröffnet unsere kurze Vorstellung der armenischen Lyrik der Gegenwart. Wachen in Lethargie ist mehr als ein kurzer Spaziergang durch die gegenwärtige Literatur eines Volkes, das sich immer noch allein mit seinem Kampf ums Überleben „arrangieren“ muss, solange auf der Tagesordnung der Großmächte seit über 100 Jahren immer wieder etwas anderes steht. Für jede Menge lebendige Literatur zeugen die Texte von Razmik Davoyan, Henrik Edoyan, Hovhannes Grigoryan („Ich, der Bürger / habe das Recht wie die staatlichen Akteure, / am frühen Morgen aufzuwachen / in der Überzeugung, dass die Mächtigen alles dafür getan haben, / dass die Sonne im Osten aufgeht, / die Wolken sich parallel zum Wind bewegen / und die Vögel vor meinem Fenster singen – / dasselbe Lied, dessen Melodie und Text / auf dem Volksreferendum bestätigt wurde“), Vardan Hakobyan, Davit Hovhannes, Edvard Militonyan, Hrachya Sarukhan, Sevak Aramazd, Gohar Galstyan [„Wir regeln eure Angelegenheiten / (sie werden dann nicht mehr die Euren sein). // Wir ordnen eure Gedanken / (sie werden dann nicht mehr die Euren sein)“], Eduard Harents, Andranik Karapetyan, Khachik Manukyan („Ein Fluch – die Nacht ohne Schlaf nun, / In der es weder Liebe gibt noch Lied … “), Hakob Movses („Ein Stück weiter stand ihr Kind – die Zeit – / Mit einem Schwert in den Händen“) und Ruzanna Voskanyan („Und jeden Abend findet ein kleines Mädchen / In der Zimmerecke in einem Couvert ohne Adresse sein Herz. // Und jeden Abend beginnt die zehnjährige Puppe / Wieder zu lügen und lächelt dein Lächeln …“).
Zum Höhlenkloster Geghard reisen wir begleitet von Wolfgang Schlotts Armenien-Zyklus, um dann nach Deutschland zurückzukehren.
Armin Steigenberger, der herrlich respektlose Dichter aus München, bringt uns wieder in Bedrängnis: „wir vollziehen perspektiven und deren turbulente wechsel“.
Theo Breuer legt hier den zweiten und dritten Essay des insgesamt siebenteiligen Projekts L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« vor:
„Bücher sind meine Freunde. Und nichts tue ich wohl lieber, als mit diesen Freunden im Sessel zu sitzen und mir erzählen, berichten, schildern zu lassen – in der ihnen jeweils eigenen Sprache. Sprache. Das ist das (numinose …) Phänomen, das ich in allererster Linie in Büchern suche. Nichts gegen Inhalt, Stoff, Motiv, nichts gegen Spannung, Unterhaltung, Vergnügen, nichts gegen Stirnrunzeln, Schmunzeln (usw.). Und so bin ich lebenslänglich auf der Suche nach der ›besondren‹ Sprache, dem ›eignen‹ Ton, dem, was ich so gerne ›Sound‹ nenne.“
„Na, ich will dem künftigen Leser die Spannung nicht nehmen“, schriebt er, nachdem er uns seine Impressionen zu den frisch gelesenen Neuerscheinungen von Jürgen Becker, Harald Gröhler, Norbert Scheuer und Rainer Strobelt mitgeteilt hat. Und weiter:
„Seit Jahren – seit sehr vielen Jahren – schwör ich mir mindestens einmal pro Woche, keine Bücher mehr ins Haus kommen zu lassen. Es gibt doch noch so viele Lebensbuchkandidaten, die der Zweitlektüre harren, flüstre ich mir zu, um gleichzeitig den Blick auf die Bücherwand, vor der ich gerade stehe, zu werfen und mich zu fragen, ob ich etwaige Lücken erkenne. Und schon geht die nächste Bestellung raus. So ging das auch mit den Romanen, die nun alle neune ums Notebook herum verstreut liegen.“ Neunerlei heißt der zweite Essay, der uns mitten in die frisch erschienenen Romane von Lena-Maria Biertimpels Iris Blauensteiner, Wlada Kolosowa, Doris Konradi, Thea Mengeler, Ela Meyer, Sybille Ruge, Rebekka Salm und Julia Weber führt: „Um ganz am Ende zu spüren: Ja, so mag’s gehen, so bleibt es stehen.“
Hier muss ich noch etwas gestehen: Ich bewundere Theo Breuer nicht nur für alles, was er in die deutsche Literaturlandschaft mitgebracht hat, sondern auch für die Art, wie er es als Autor verstanden hat, dem legendären – und dennoch so oft alleingelassenen – ,Verleger Theo Breuer zur Seite zu stehen.
In memoriam des viel zu früh verstorbenen Dichters, Verlegers und Kulturschaffenden Aleksander Nawrocki veröffentlichen wir einige seiner Gedichte, die seiner vorher verstorbenen Frau gewidmet sind. Peter Gehrisch, sein Freund und Übersetzer ins Deutsche, hat uns nicht nur die Gedichte zur Verfügung gestellt, sondern auch einen ergreifenden Nachruf verfasst.
Und nicht zuletzt teilen uns Peter Gehrisch, Sevak Aramazd und Widmar Puhl ihre Eindrücke von frisch gelesenen Büchern mit.
Ich hoffe, trotz meiner Gedanken und Entgleisungen, die eigentlich in keiner direkten Verbindung zu unserer Ausgabe stehen, ein gelungenes Heft hinbekommen zu haben, sodass Sie nach dem Lesen wie Theo Breuer sagen werden:
„Es gibt eine ganze Reihe gängiger Wörter, von denen ich behaupte, sie nicht mehr zu kennen, sie sind aus dem Wortschatz verschwunden. Drum kann ich sie nun auch nicht benennen. Auf der andren Seite gibt es Wörter, die ich liebend gern benutze, um einigermaßen das zum Ausdruck zu bringen, was ich denke, was ich fühle. So schreib ich, z. B., sehr gern: ›Ich bin begeistert‹.“
Ihr
Traian Pop
• Emil Hurezeanu • Ein Gedicht für jede Jahreszeit • Arevshat Avagyan • Wachen in Lethargie • Armenische Lyrik der Gegenwart • Razmik Davoyan • Henrik Edoyan • Hovhannes Grigoryan • Vardan Hakobyan • Davit Hovhannes • Edvard Militonyan • Hrachya Sarukhan •Sevak Aramazd • Gohar Galstyan • Edvard Harents • Andranik Karapetyan • Hakob Movses • Ruzanna Voskanyan • Wolfgang Schlott • Armin Steigenberger • Theo Breuer • Aleksander Nawrocki • Peter Gehrisch • Widmar Puhl •Traian Pop Traian • Mark Behrens • Philipp Ammon • Eva Filip • Wolfgang Schlott • Stefanie Golisch • Christoph Kleinhubbert • Harald Gröhler • Ortwin Beisbart • Uli Rothfuss •
Traian Pop • Editorial / S.4
Die Welt und ihre Dichter
Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Emil Hurezeanu • Erscheinung mit Frau in Rot / S. 11
Wachen in Lethargie • Armenische Lyrik der Gegenwart
Arevshat Avagyan • Sechs Gedichte / S. 13
Razmik Davoyan • Zwei Gedichte / S. 17
Henrik Edoyan • Sechs Gedichte / S. 23
Hovhannes Grigoryan • Sechs Gedichte / S. 28
Vardan Hakobyan • Sieben Gedichte. / S. 35
Davit Hovhannes • Drei Gedichte / S. 43
Edvard Militonyan • Neun Gedichte / S. 50
Hrachya Sarukhan • Acht Gedichte / S. 61
Sevak Aramazd • Acht Gedichte / S. 67
Gohar Galstyan • Sieben Gedichte / S. 75
Edvard Harents • Zehn Gedichte / S. 81
Andranik Karapetyan • Acht Gedichte / S. 89
Khachik Manukyan • Vier Gedichte / S. 97
Hakob Movses • Zwei Gedichte / S. 101
Ruzanna Voskanyan • Drei Gedichte / S. 105
Wolfgang Schlott • Höhlenkloster Gegard 1976 . Drei Gedichte aus Armenien-Zyklus / S. 109
Armin Steigenberger • Zehn Gedichte / S. 112
Theo Breuer • Literatour »22« . Bericht · Gedicht · Roman · Kurzprosa : Neue Bücher von Becker · Gröhler · Scheuer · Strobelt / S. 122
Theo Breuer • Literatour »22« . Neunerlei . Eine Vermengung : ladylike/ S. 131
Aleksander Nawrocki • Nacht frißt sich in mich hinein . Briefe an die Ehefrau im Jenseits / S. 155
Peter Gehrisch • Nachruf auf Aleksander Nawrocki / S. 178
Bücherregal
Peter Gehrisch • Das gefährdete Gleichgewicht der Welt . Zu Zoltán Böszörményis großem Roman „Weicher Körper der Nacht“ / S. 181
Sevak Aramazd • Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian (Hg.), Todesvision: Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915-1945) / S. 186
Widmar Puhl • Martin voin Arndt, Wie wir töten, wie wir sterben. / S. 190