MATRIX 2/2017 (48) • Short story der kanadischen Lyrik •

MATRIX 48MATRIX 2/2017 (48)

Kein Land kann tatsächlich die Heimat eines Menschen sein. Unser Heimatland ist, wie die Bibel sagt, der Himmel. Hier aber, unter dem Himmel, sind wir, wo immer wir leben, in der Lage von Exilanten. „Fremdlinge“ also sind wir und immer unterwegs. Natürlich ist jeder Mensch mit dem Ort seiner Geburt verbunden, der Gegend, wo er aufgewachsen ist. Auch mit der Sprache, der Geschichte seines Landes, dessen Traditionen. All dies macht seine Identität aus. Diese Identität aber ist eine gegebene, keine, die man bewusst wählen kann. Also kann niemand seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land als persönliches Verdienst betrachten. Man kann demnach nicht stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein, wie man auch nicht auf blaue Augen stolz sein kann.
Die Tatsache, ein Deutscher zu sein, muss ohne Eitelkeit, ohne Überheblichkeit, auch ohne Minderwertigkeitskomplexe angenommen werden. Aber ein Deutscher zu sein (oder ein Angehöriger irgendeiner anderen Nation) impliziert nicht nur Loyalität, sondern auch Verpflichtungen. Und kommt man denen nicht nach, läuft man Gefahr, sich menschlich – und nicht im strengen Sinne „patriotisch“ – zu disqualifizieren. Was auch für die Parteien zutrifft, ob die Roten, die Grünen, die Gelben, die Blauen, die Schwarzen, die uns eigentlich vertreten sollten. Ehrlich gesagt, fühle ich mich in keinem Fall vertreten, von keinem der gewählten Farbenträger oder -bekenner. Ich hätte mir gewünscht, dem wäre nicht so, aber wie im Leben werden auch in der Politik die Farben immer wieder verstärkt, geschwächt, gelöscht, vermischt, verwechselt, vertuscht, verfälscht, gekauft, verkauft …

Vertreten fühle ich mich deshalb hauptsächlich von der Literatur. Sei sie aus der Türkei, aus Georgien, aus Rumänien, aus Russland, aus Korea, aus dem Iran, aus den USA, aus Deutschland, woher auch immer: Hauptsache Literatur. Nicht mehr, aber auch nicht weniger als LITERATUR.
Manchmal schaffen wir es – mein Team und ich –, Ihnen Literatur zu vermitteln. Wenn es so ist, können Sie davon ausgehen, dass die Werke, die in MATRIX zu Wort kommen, zu den Vertretern der von uns anerkannten Republik der Literatur und Kunst zählen.

Einer davon, der große karibische Dichter Derek Walcott, wurde 1988 von Klaus Martens für Deutschland entdeckt. Martens war bis zur Jahrtausendwende sein deutscher Übersetzer, er war dem Nobelpreisträger von 1992 aber auch als sein Gastgeber freundschaftlich verbunden. Er verfolgte den weiteren Weg des Dichters, der nicht einfach gewesen ist, mit großem Interesse bis zu dessen Tod am 17. März 2017 auf seiner Insel St. Lucia.

Short story der kanadischen Lyrik heißt der Hauptteil dieser Ausgabe. Eine kleine Auswahl, die Andrew Goldthorp und Stefanie Golisch zusammengestellt haben, repräsentiert einen Querschnitt von Gedichten, die exemplarisch für die Suche nach einer genuin kanadischen Identität begriffen werden können ‒ einem Paradoxon, wenn man bedenkt, dass die Wurzeln der weitaus meisten Kanadier in andere Länder und Kulturkreise reichen. Vertreten durch eigene Texte sind die englischsprachigen Autoren: Pauline Johnson, E. J. Pratt, A. M. Klein, Irving Layton, Al Purdy, Leonard Cohen, Margret Atwood, Gwendolyn MacEwen, Kevin Irie und Bruce Meyer.

„An den rostig-weißen Mauern von Cartagena
liest eine Palme dem Sand aus der Hand,
doch die Linien vergehen schnell; »Malagueña«
kratzt eine strohbehütete Band,
und ein Hahn stolziert mit Quetzalcoatls Federn,
und die rußigen Büschel der Palmen sind Braten
am Spieß von Briganten, ganz wie im Hilton.“

Ay, caramba, Gringo! / wie New York ist‘s, findste nicht? … Derek Walcott ist nicht nur durch die Erinnerungen seines Freundes Martens, sondern auch mit drei von ihm ins Deutsche übersetzten Gedichte vertreten.

Erst nach dem Tod des polnische Poeten Cyprian Kamil Norwid wird der unvergleichliche Wert seines Dichtens erkannt und von Zenon Przesmycki und der Krakauer Avantgarde entsprechend gewürdigt. Peter Gehrisch versucht, ihn uns nahe zu bringen durch seine raffinierten Übersetzungen und einer ausführlichen Einführung.

Das Werk des iranisch-deutschen Dichters SAID bewegt heute mehr denn je, findet Maryam Aras und gratuliert SAID zu seinem siebzigsten Geburtstag. In seiner Lyrik und seinen Essays reflektiert er beharrlich das Leben im Exil, sein mal liebevolles, mal leidvolles Verhältnis zur deutschen Sprache und zu seinem Europa, dessen Idealen er sich trotz der aktuellen Politik verbunden fühlt.
Theo Breuer ist wieder dabei, diesmal mit Collagen. Denisa Comănescu, Arzu Demir, Kira Iorgoveanu-Mantsu, Emil Hurezeanu, Horst Samson, Viorel Marineasa, Adriana Carcu, Barbara Zeizinger und Charlotte Ueckert ergänzen unser dichterisches Weltpanorama.

„Übersetzen ist ein Grattanz, den man ins dialektische Gleichgewicht bringen muss, um sich nicht zu verirren in der Wüste der Akribie oder in einem Amazonas leerer Phantasie.“ meint Ulrich Bergmann  und versucht dies zu belegen durch „Ein kleines Gedicht und viele Übersetzungen“.

„Am Tag, als mein Vater verschwand, stand ich im Examen, hatte einen halben Vormittag in einem Göttinger Prüfungsamt verbracht und war dann mit meiner Freundin spazieren gegangen, um den Kopf auszulüften…“ Ob der Vater Klaus Martens tatsächlich an diesen Tag – und überhaupt – verschwunden ist, möchte ich – schon nach den ersten Seiten – gar nicht mehr wissen, so hält mich der Text gefangen. Ein Auszug aus dem Roman finden Sie in unserem unter dem Namen „Atelier“ bekannten Vorschaufenster.

Wolfgang Schlott, Anneliese Merkel,  Stefanie Golisch, Peter Frömmig, Katharina Kilzer,  Ulrich Bergmann, Rainer Wedler, Uli Rothfuss, W. Gunther le Maire haben wieder interessante Rezensionen geschrieben.
Traian Pop

Es signiert:

• Klaus Martens • Derek Walcott • Cyprian Kamil Norwid • Peter Gehrisch •Andrew Goldthorp • Stefanie Golisch • Short story der kanadischen Lyrik • Pauline Johnson • E. J. Pratt • A. M. Klein • Irving Layton • Al Purdy • Leonard Cohen • Margret Atwood • Gwendolyn MacEwen • Kevin Irie  • Bruce Meyer • Said • Theo Breuer • Denisa Comănescu • Emil Hurezeanu • Viorel Marineasa • Adriana Carcu • Barbara Zeizinger • Kira Iorgoveanu-Mantsu •Arzu Demir • Charlotte Ueckert • Anneliese Merkel • Katharina Kilzer • Uli Rothfuss • Wolfgang Schlott • Rainer Wedler • Peter Frömmig • W. Gunther le Maire •

Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

• Short story der kanadischen Lyrik •
Andrew Goldthorp und Stefanie Golisch • Short story der kanadischen Lyrik / S. 7
Pauline Johnson • The Song My Paddle sings . Das Lied, das mein Paddel singt / S. 12
E. J. Pratt • Erosion . Erosion / S. 16
A. M. Klein • Heirloom . Erbstück / S. 22
Irving Layton • A Tall Man Executes a Jig . Ein großer Mann führt einen Freudentanz auf / S. 24
Al Purdy • Roblin’s Mills. Roblin’s Mills / S. 32
Leonard Cohen • A Kite is a Victim . Ein Drache ist ein Opfer / S. 38
Margret Atwood • Game After Supper . Spiel nach dem Abendbrot / S. 40
Gwendolyn MacEwen • Dark Pines Under Water . Dunkle Kiefern unter Wasser / S. 42
Kevin Irie • Immigrants: The Second Generation . Emigranten: die zweite Generation / S. 44
Bruce Meyer • The white flower . Die weiße Blume / S. 48
Short story der kanadischen Lyrik . Kurzbiographien der Autoren / S. 50

• Derek Walcott •
Klaus Martens • Kleine Rückschau auf Derek Walcott (1930-2017) / S. 52
Derek Walcott • Drei Gedichte / S. 61

• Cyprian Kamil Norwid – der unergründliche Kosmos •
Peter Gehrisch • Cyprian Kamil Norwid – der unergründliche Kos-
mos . Versuch einer ersten Einführung / S. 68
Cyprian Kamil Norwid • Vier Gedichte / S. 73
Said • tage voller verlangen . Ein Gedicht / S. 79

Theo Breuer • Visuellpoetische Collagen / S. 82
Denisa Comănescu • Fünf Gedichte, rumänisch und in deutscher Übersetzung / S. 89
Arzu Demir • Sechs Gedichte / S. 107

Die Monde der gelben Mitte

Ulrich Bergmann – 包悟礼 • Ein kleines Gedicht und viele Übersetzungen / S. 119

Atelier
Kira Iorgoveanu-Mantsu • Sechs Gedichte/ S. 131
Emil Hurezeanu • Sechs Gedichte/ S. 137
Horst Samson • Sechs Gedichte/ S. 147
Viorel Marineasa • Partoş–Europa, hin und zurück . Prosa / S. 153
Adriana Carcu • Ein altes Haus . In Curtici, zwischen den Welten . Marion . Prosa / S. 157
Klaus Martens • Das Übliche, mit Variationen . Prosa / S. 165
Barbara Zeizinger • Sommerschweigen . Prosa / S. 175
Charlotte Ueckert • Die Fremde aus Deutschland . Prosa / S. 179

Bücherregal

Wolfgang Schlott • Salman Nurhak, … nur die Liebe. 66 Gedichte. / S.185
Anneliese Merkel • Ilse Hehn, Sandhimmel, Lyrik und Übermalun-
gen. / S. 188
Stefanie Golisch • Hans-Jörg Dost, Orte zu leben. / S. 191
Peter Frömmig • Florian Günther, Genug Zeit zu verlieren. Neue Fotos, gebrauchte Gedichte. / S. 193
Katharina Kilzer • Hellmut Seiler, Dieser trotzigen Ruhe Weg. / S. 196
Ulrich Bergmann • David Krause, Die Umschreibung des Flusses. / S. 199
Rainer Wedler • Ruth Langen-Wettengl, Zugabe. Kunst in der
Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. / S.203
Rainer Wedler • Burkhard Fuhr, Schafe. / S.205
Uli Rothfuss • Ralph Dutli, Die Liebenden von Mantua. / S.207
W. Gunther le Maire • Harald Gröhler, Eine Selbstmörderin / Samobójczyni. / S.209


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