MATRIX 3/2020 (61)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Es war noch Sommer und die Dürre versuchte, die Vorhersagen von Umweltaktivisten zu widerlegen, die gemunkelt hatten, dass das Abstellen der Motoren, insbesondere was die Zivilluftfahrt betreffe, der ganzen Welt zeigen werde, wie gut es sei, auf das zu verzichten, was man nicht unbedingt brauche.
Mein ursprünglicher Plan war es, hier ein Gedicht von Peter Frömmig zu veröffentlichen. Aber Louise Glück, eine Dichterin, die unsere Übersetzerin Stefanie Golisch bereits vor einigen Jahren als eine der bestbewerteten Autorinnen in Übersee unter den „gut bewerteten“ vorgestellt hatte, eine Dichterin, die allerdings kein Redaktionsmitglied als Kandidatin für die begehrteste literarische Trophäe der Welt gesehen hatte, hielt Stefanie hartnäckig ein Sommergedicht unter die Augen. Versuche, es abzulehnen, gerade jetzt, wenn Louises Name in aller Munde ist?
Das hat eine andere Kandidatin für die Anführung des Autorenzuges, Catherine (Kitty) O’Meara, nicht daran gehindert, eine Pandemie-Granate in den Kopf des Dichters Horst Samson zu platzieren, sodass er nicht schlafen konnte, bis er den Text ins Deutsche übersetzt hatte.

Die gesamte Redaktion geht zu Boden, gerade als Mia Lecomte uns mit ihrer leisen Stimme unbedingt erzählen will, dass ihr Großvater für immer an seiner La petite klebte.
Ich krieche auf das Handy zu, das mir die Explosion von Kittys Granate aus der Hand gerissen hat: Dichterin bin ich / auch wenn die Träne gefriert / die Wolke zerbricht / der Hai mich anfällt, schreibt Anna Santoliquido gerade, und ich lese ihre Zeilen trotz der halben Worte, die immer noch in der Luft tanzen.
Wenn ich könnte, würde ich unter dem Schreibtisch Schutz suchen, wie bei einem Erdbeben in Japan gesehen. Aber ich kann nicht, ich habe alles unter den Schreibtisch gestopft, was nicht in die Regale passt, die die Wände füllen, also stecke ich meinen Kopf in einen Stapel ungeöffneter Briefe. Und möchte Kitty schelten für die Idee, ihre Granate gerade in unsere Redaktion zu werfen, als mir jemand ins Ohr flüstert: „Hör auf mit dem Blödsinn, diese Granate tut anderen weh und nicht dir!“

Auf einmal Ruhe: Stefanie unterhält sich mit Louise, Horst gibt es auf, einen Kommentar auf Facebook zu veröffentlichen, der Kittys Fans erneut schrecklich irritieren würde.
Ich hätte nie gedacht, dass Friedenssicherung sich so schwierig anlassen könnte, aber in unserer Redaktion folgt nicht einmal eine konventionelle Ausgabe des Magazins klaren Parametern, geschweige denn eine, die auf Messers Schneide zustande gekommen ist, während der unsichtbare Feind jeden Beteiligten aus dem Nichts anspringen kann. Und am Ende versuchen die Mitglieder des Redaktionsrats, die Redakteure, Lektoren, Korrektoren und externen Mitarbeiter aufzuräumen, als ob es möglich wäre, jemals Ordnung in dieses Chaos zu bringen.
Diesmal haben wir Glück gehabt, der Angriff hat nicht länger als drei Minuten gedauert und nach einer knappen Viertelstunde ist kein verdächtiges Geräusch mehr zu hören. Aber wir können uns nicht an die Arbeit machen: Rainer, unser klarer Kopf, hat die Bewertung des Schadens noch nicht abgeschlossen. In letzter Zeit braucht er dafür länger, ein Jüngerer und Toleranterer sollte gefunden werden, um ihm zu helfen – aber woher soll der kommen, woher so viel Jugend, woher so viel Toleranz? Er berichtet schließlich, dass drei oder vier Manuskripte zerstört wurden, dass aber – wie durch ein Wunder – kein Autor tödlich verletzt wurde.

Die Hose eines der Praktikanten ist vorne nass. Niemand hat den Vorfall bemerkt, bis Radu Carp Eginald Schlattner nach seiner ersten Begegnung mit der orthodoxen Kirche fragt. Der Praktikant allerdings schwört, dass seine Kaffeetasse übergeschwappt ist, doch niemand verliert ein Wort darüber. Vor drei Jahren hat der Zufall die Wege des siebenbürgisch-deutschen Romanschriftstellers Eginald Schlattner und des rumänischen Politikwissenschaftlers Radu Carp gekreuzt – eine Begegnung, aus der ein Interviewband hervorging, das 2018 zunächst in Bukarest auf Rumänisch veröffentlicht wurde und nun auch übertragen vorliegt – trotz aller Vorbehalte des Autors, dessen Muttersprache selbstverständlich Deutsch ist und dem es abwegig erschien, quasi „rückübersetzt“ zu werden.
Es herrscht Stille, die folgenden ernsten Literaturpassagen bringen die Jammernden zum Schweigen. Endlich.

„Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren“, schreibt Iris Wolff, laut Denis Scheck „eine Autorin mit einem traumsicheren Sprachgefühl“.

Kurz vor seinem Tod im März 2019 hat der Dichter, Romanautor, Essayist und Übersetzer Dieter Schlesak seine analogen wie digitalen Manuskriptordner durchgesehen, also „Lyrikarchäologie“ betrieben, und einen Band mit Gedichten und Gedanken zusammengestellt, der eine ebenso bezeichnende wie bewegende Auswahl seines literarischen Schaffens bietet. Paul Celan, einer seiner wichtigen Wegbegleiter, durfte natürlich nicht fehlen.

Genauso wie im Fall von Theo Breuer und Horst Samson. Auch von diesen beiden Autoren haben wir einige Texte für Sie ausgewählt, um Paul Celans 100. Geburtstag zu feiern.

Finden und gefunden werden, Matthias Buths poetischer Nachruf auf Axel Vieregg, findet seinen Platz vor Eva Bergs neuesten Gedichten.

Über Neuerscheinungen sowie Berichte aus der Kulturszene gibt es diesmal keinen Streit: Widmar Puhl, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss, Mathias Buth und Peter von Mallinckrodt kommen gut miteinander aus.

Hans Lindemann findet nichts Besseres zu tun, als unsichtbar zu werden und es uns zu überlassen, sein literarisches Werk zu entdecken. Klar, wir werden es tun. Vielleicht schon in der nächsten Ausgabe.

Ich schleiche mich leise in die Küche, um mir einen grünen Tee zu machen. Auf dem Weg lasse ich noch einmal das Video mit Hinweisen zum Ausfüllen der Formulare für eine Verlagsförderung durch meinen Kopf laufen. Und den extravaganten Wortlaut meiner Bewerbung sowie die nicht weniger extravagante Chance, die mir das Leben gegeben hat: mit Literatur zu tun zu haben in einem Land, dessen Sprache ich vor ein paar Jahren noch nicht kannte. Meine Hand zitterte, als ich auf Senden ging.
„Was für eine lustige Bewerbung du gemacht hast, es sieht so aus, als ob du zu jenen Mistkerlen zählst, die nicht viel sagen, aber tun. Schade, es war eine gute Sache …“ Mein Kollege lächelt mich an, als er mir das kochende Wasser wegschnappt und auf seinem überdimensionierten Handy eine E-Mail vor die Augen hält: Alle Förderungen seien gestoppt worden.
„Stimmt nicht“, sage ich ihm, „ich glaube, ich wünschte damals, mein Laptop würde hängen bleiben, als ich die Sendetaste drückte.“
„Doch, stimmt, du bist so einer“, antwortet er, „auch wenn dies das schlechteste Editorial ist, das jemals geschrieben wurde.“

Liebe Leserinnen und Leser, ich habe nichts anderes gemacht, als einen Arbeitstag der Redaktion zu beschreiben, wie ich ihn erlebe. Ob Sie es glauben oder nicht, ist eine andere Geschichte. Um ehrlich zu sein, ist es nicht wichtig, wie unsere Redaktion in Corona-Zeiten arbeitet – allein das Ergebnis zählt. Und diese Ausgabe kann sich meiner Meinung nach sehen lassen.
Viel Freude beim Entdecken wünscht Ihnen
Traian Pop

• Eginald Schlattner • „Gott weiß mich hier“ •  Dieter Schlesak • 100 Jahre Paul Celan • Theo Breuer • Horst Samson • Louise Glück • Iris Wolff • Catherine (Kitty) O’Meara • Eva-Maria Berg • Mia Lecomte • Anna Santoliquido • Matthias Buth • Uli Rothfuss • Peter von Mallinckrodt • Ulrich Bergmann • Traian Pop • Widmar Puhl • Wolfgang Schlott • 

Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für den Herbst
Louise Glück • The Myth of Innocence . Der Mythos der Unschuld / S. 7

Catherine (Kitty) O’Meara • And (the) people stayed home . Und die leute blieben zu hause / S. 12
Horst Samson • Ein Gedicht geht um die Welt / S. 14
Mia Lecomte • Weniger als die Hälfte . Sei poesie / Sechs Gedichte in der Übertragung von Barbara Pumhösel und Eva Taylor / S. 18
Anna Santoliquido • Sieben Gedichte / S. 30
„Gott weiß mich hier“ • Radu Carp im Gespräch mit Eginald Schlattner / S. 42
Iris Wolff • Die Unschärfe der Welt / S. 57

100 Jahre Paul Celan
Dieter Schlesak • Absenz Und Nie. Das Ebenbildliche nach Auschwitz. Am Rand / S. 69
Theo Breuer • nicht weniger nicht mehr / S. 99
Horst Samson • „In den Lüften liegt man nicht eng“ . Anmerkungen zur unauflösbaren Tragik des Dichters Paul Celan (1920 – 1970) / S. 113
Horst Samson • Sieben Paul Celan zugeeignete Gedichte / S. 136

Matthias Buth • Finden und gefunden werden . Axel Vieregg: Wortsucher / S. 145
Eva-Maria Berg • Acht Gedichte / S. 161

Bücherregal
Widmar Puhl • Kompakte Wucht der Sprache. Gedichte von Dato Barbakadse / S. 169
Widmar Puhl • Ich bin viele. Frauenstimmen aus Georgien / S. 176
Wolfgang Schlott • Matthias Buth . Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer / S. 179
Wolfgang Schlott • Sigrid Katharina Eismann . Das Paprikaraumschiff / S. 201
Uli Rothfuss • Mathias Enard . Kompass / S. 184
Uli Rothfuss • Martin Walser . Mädchenleben oder Die Heiligsprechung / S. 186
Matthias Buth • Iris Wolff . Die Unschärfe der Welt / S. 188
Matthias Buth • Ernst Kerneck . Die drei Mäntel des Anton K. – The Three Overcoats of Anton K. / S. 191
Peter von Mallinckrodt • Gisela Hemau, Auf der Rückseite der Augen / S. 194
Ulrich Bergmann • Ines Hagemeier, Dichtungsringerin / S. 198

Aus der Kulturszene
Widmar Puhl • Verlorener Komponist & Teufelsgeiger, weiblich . Das erste Konzert des SWR Symphonie Orchesters nach sieben (7) Monaten in der Stuttgarter Liederhallle / S. 201
Wolfgang Schlott • Nachruf auf seinen Pressereferenten und spiritus rector Hans Lindemann / S. 204


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert