MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

Letzte Nacht geriet ich in einen Streit mit jemandem, der darauf bestand, mich in die Political Correctness einzuweihen.

Alles begann mit dem Artikel eines bekannten Journalisten, dessen Namen ich natürlich nicht erwähnen soll. Ich hatte also ein Material gelesen (das ich hier nicht wiedergeben kann, um nicht des Plagiats beschuldigt zu werden) über eine berühmte Sportlerin (darf ich das aus oben genannter Sicht sagen?), die ihr Brot als Profi in ihrem Land verdient (dessen Namen hier zu nennen nicht korrekt wäre), doch während ihres Urlaubs spielte sie – zur Abrundung ihres Einkommens – in einem Verein jenes Landes, dessen Namen man auf keinen Fall nennen soll. Und so verdiente sie im Urlaub etwa „n“-mal mehr als bei der Tätigkeit im Herkunftsland. Sie tut dies seit mehreren Jahren und kennt daher die Gepflogenheiten und Gesetze des Ortes, an dem sie ihre Ferien verbringt. Trotzdem wurde sie vor nicht allzu langer Zeit an einem Grenzübergang, der weltweit für die Strenge der Kontrollen bekannt ist, mit Drogen im Gepäck überrascht, die in ihrem Urlaubsland gesetzlich verboten sind. Bestrafung? Bis zu annähernd zehn Jahre Haft.

Von einem sehr hohen Beamten des Heimatlandes der Sportlerin wie auch ihren Anwälten und vielen Unterstützern wird dem Urlaubsland „illegale Festnahme“ vorgeworfen: ein Propagandaversuch.

Nach etlichen Monaten gescheiterter Verhandlungen über ihre Freilassung gestand sie plötzlich ihre Schuld ein, erklärte aber, dass sie das Gesetz nicht „vorsätzlich“ gebrochen habe, und der Größte des Tages in ihrem Herkunftsland glaubt immer noch, dass die Sportlerin „zu Unrecht inhaftiert“ wurde!
Nach einer Ewigkeit legte ein Anwalt der Sportlerin ein Dokument vor, das bescheinigte, dass ihr das „Medikament“ zu Hause von einem Arzt verschrieben wurde. Es steht jedoch fest, dass das vom Arzt ausgestellte Rezept zwar in ihrem Herkunftsland legal ist, im Urlaubsland aber, wo andere Gesetze gelten, keine Gültigkeit hat. Obendrein geriet die Sportlerin, die sich für ihre Art zu lieben und zu leben stark macht – eine Art, die im Urlaubsland nicht akzeptiert wird –, von Anfang an ins Fadenkreuz der Behörden. Sie konnte ihre medizinische Situation mit der Ferienclubleitung besprechen und eine Einigung mit den örtlichen Behörden erzielen. Aber sie trat arrogant auf mit dem Gedanken, dass es auch im Land ihrer profitablen Urlaube genauso laufen würde wie zu Hause, wo ihre Berühmtheit viele und vieles zum Dahinschmelzen brachte.

Dass ihr Urlaubsland den Fehltritt nutzt, um im Nervenkrieg mit ihrer Heimat zu punkten, ist klar. Klar ist aber auch, dass die Inhaftierung der Sportlerin auf keinen Fall rechtswidrig ist.

Nach einiger Zeit sind Informationen über eine mögliche Lösung der Situation aufgetaucht: ein Austausch von Geiseln zwischen den beiden Ländern. Als Gegenleistung für ihre Freilassung soll ein anderer Häftling ausgeliefert werden, der ab der Jahrtausendwende als der meistgesuchte Mann der Welt galt, immer noch mehrere Staatsbürgerschaften sowie anhängige Verfahren hat und seit mehreren Jahren (es wäre falsch, nicht wahr, zu sagen seit wie vielen) wegen unterschiedlicher hochkrimineller Machenschaften (über die es nicht geraten ist zu sprechen) hinter Gittern sitzt. Die Berater des Größten des Tages im Herkunftsland der Sportlerin hoffen, dass der Erfolg dieses Deals ein großer PR-Schlag werden und ihnen bei den bevorstehenden Wahlen erheblich helfen könnte. Es wäre möglich.

Bei allem Mitgefühl, das der Sportlerin entgegengebracht werden muss, obwohl sie die einzige Schuldige an der Situation ist, in der sie sich befindet, bleibt eine Frage im Raum stehen: Wie moralisch wäre eine Vereinbarung, durch die ein Krimineller wie der oben genannte im Austausch freigelassen würde? Aber in der Politik liegt der Preis der Moral im permanenten … „negativen Wachstum“.

Diese ganze Geschichte entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Sportlerin, für deren Befreiung sich der Größte des Tages in ihrem Heimatland so intensiv einsetzt, steht zu ihrer Position, die offiziellen Insignien ihres Landes nicht zu respektieren und während des Spielens der Nationalhymne den Platz zu verlassen. Es wäre jedoch keineswegs verwunderlich, wenn der Größte des Tages der Sportlerin nach ihrer Rückkehr die höchste Auszeichnung überreichen würde, die ein Bürger ihres Herkunftslandes erhalten kann, wie er es mit anderen – sehr lautstarken – Aktivisten bereits getan hat. Bis dahin aber wird es noch dauern, denn jetzt weiß sie genau, dass ihr in ihrem Urlaubsland statt einer Suite eine Gemeinschaftsunterkunft in einer Strafkolonie reserviert ist.

Was soll dies zu tun haben mit der Aussage, dass „mir die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, zu diesem Freundeskreis, sehr viel bedeutete und auch heute noch bedeutet. Ich sehe mich mit allen damals Dazugehörenden weiterhin geistig eng verbunden“, so eines der Mitglieder der viel beneideten literarischen Gruppe, deren Gründung sich in diesem Sommer zum 50. Mal jährte? Ich frage das, weil ich von dieser Gruppe geträumt habe, als ihr Kampf begann. Und – haben Sie es erraten? – ich bin genau in dem Moment aufgewacht, als ich ihren Namen aussprach. Denn wer sich mit zu heißer Suppe die Zunge verbrannt hat, bläst auch in den Joghurt, zumindest wenn er gerade aus dem Schlaf gerissen wird. Ich frage mich jedoch, wie das wäre, wenn jeder auch in den Joghurt zu pusten anfinge …

Hochpolitisch und brisant waren die Worte dieser Jungs, die mir persönlich damals sehr nahegingen – trotz meiner Neigung, nicht alles, was engagiert klingt, positiv zu bewerten. Weil damals, wie leider immer noch, die Welt voller Engagement war: ein Engagement, hinter dem nicht selten nur leere Versprechungen standen.

Vor ein paar Jahren habe ich – mit Hilfe Host Samsons – einen Text entdeckt, der mir immer noch wie kein anderer mit seiner Schlichtheit, Natürlichkeit und Wärme der damaligen Aktionsgruppe Banat gerecht zu werden scheint: das lange Gedicht periamportreport, 1975 von Werner Kremm verfasst, aus dem ich hier zitiere:

„das ist ein singsang,
geschrieben von einem, der auszog
das fürchten zu lernen
und zeitweise bokschan mit periamport velwechsert,
zu seiner persönlichen verteidigung aber behauptet,
nicht zu wissen,
was er tut,
auf die frage, weshalb er schreibe,
gegenwärtig folgender-
massen antwortet: die einzig seriöse einstellung eines schreib-
enden ist, zu schreiben.“

„Für die Schreibtätigkeit der Angehörigen der »Aktionsgruppe« bedeutete die »eigene gesellschaftliche Realität« und das »neue Realitätsbewusstsein« einen dreifachen Bezugsrahmen der Reflexion und Kritik: Es ging dabei um die »realsozialistische« Gesellschaft Rumäniens und die noch stark traditional ausgerichtete Gemeinschaft der Banater Schwaben und ihre »Lebenswelt«. Beides – mitunter in einer »unheiligen Allianz« – erschien uns im Lichte der Moderne überaus fragwürdig, beides galt mithin als Gegenstand der Kritik und Grund zur Veränderung. Und die Grundlage dieser Kritik und ihr Hintergrund bestand gleichsam in der dritten Dimension unseres »Realitätsbewusstseins«, nämlich der Literatur, der modernen westlichen Literatur und dem Weltverständnis und Lebensgefühl, das diese vermittelte. Als Weg der Veränderung in diesem Sinne wurde allerdings nicht die direkte Aktion angesehen – insofern passt der Name »Aktionsgruppe« auch nur eingeschränkt –, sondern der Umweg über das Bewusstsein, über die Einstellungen und Haltungen zu diesen gegebenen Realitäten.“ So Anton Sterbling, dessen Artikel Sie ab Seite 29 lesen können.

Ich hätte Ihnen gerne auch erzählt, wann und wie ich diese Jungs kennenlernte und warum ich mich in deren Gesellschaft so wohl fühlte. Vielleicht tue ich das ein andermal. Zurzeit erscheint es mir etwas peinlich, mich an deren Erfolg dranzuhängen.

„Es war schon immer so, daß wir geschrieben haben, / um dereinst nicht mehr schreiben zu müssen.“ Holdger Plattas Gedichte scheinen uns und unseren Ansatz gegen das „Pusten in den Joghurt“ zu unterstützen – genauso wie die starke Abteilung von, mit und über Manfred Chobot: „»Gedichte muss man so schreiben, dass sie, wenn man sie gegen ein Fenster wirft, die Fensterscheibe zerschlagen.« Dies hat der russische Dichter Daniil Charms geschrieben. Seiner Forderung schließe ich mich vollinhaltlich an.“ Wundern Sie sich bitte nicht, wenn Sie feststellen müssen, dass unsere Ausgabe keine Scheibe mehr hat, gerade jetzt, wenn alle beim Heizen sparen müssen.

Nicht so schlimm, scheint Charlotte Ueckert zu sagen, wenn die Protagonistin ihrer Prosa sich erinnert: „Das wäre damals doch was gewesen: Duschbusse an zentralen Plätzen und man wäre als neuer, sauberer Mensch herausgekommen. Desinfiziert gegen jede Unzumutbarkeit.“

Dagmar Dusils Kurzprosa, die meisterhaft von einem Haiku angekündigt wird, bringt uns nicht nur einen unserer Bekannten nahe, sie fordert uns auf, an die Beziehung zu Unserer Zeit zu denken: „»Es ist deine Zeit«, (…) »Zeit ist Sand«, hatte sie ergänzt, »warm und zerrinnend, kalt und abweisend. Es ist nicht deine Zeit, sondern du gehörst der Zeit. Irgendwann braucht dich die Zeit nicht mehr, entledigt sich deiner. Dann folgt deine zeitenlose Zeit.«“
Der Essay von Kurt Roessler, Roma-Schausteller in Literatur und Kunst, der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke, einer von vielen Schreien, unter der Initiative Der Himmel über Philomena gesammelt und herausgegeben von unserem Mitstreiter Matthias Buth, setzt sich nicht nur mit der Neigung auseinander, in den Joghurt zu pusten, sondern auch mit den Vorurteilen vieler von uns.

Unser ebenfalls sehr geschätzter Mitstreiter Theo Breuer lädt uns mit dem vierten Essay des insgesamt siebenteiligen Projekts L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« nach Norwegen ein – in Begleitung von Ingebjørg Berg Holm, Toril Brekke und Sigrid Undset –, um den „rostigen Klang von Freiheit“ zu erfahren. Sein fünfter Essay bringt uns Harald Gröhler näher: Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern.

„Die Verlegenheit bleibt, nicht wenigen ist es peinlich, zu singen und dann auch noch »für das deutsche Vaterland«. Was heißt das eigentlich? Wer von den Ampelisten aus Berlin spricht davon? Und »im Glanze dieses Glückes« – ja, von Glück ist die Rede – soll dieses Land, das deutsche Vaterland, »blühen«. Die Blumen heißen »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Nicht alle Bundesminister vermochten am 3. Oktober 2022 in Erfurt beim »Nationalfeiertag« (schon diese Bezeichnung irritiert viele) mitzusingen, so Steffi Lemke. Sie schwieg.“ Manche Sätze in Matthias Buths Essay sind wahre Verzweiflungsschreie – wie dieser Ausschnitt aus Clara Schumann. Souvenir de Bonn et de Vienne
(ab S. 165).

„Wer mit dem gewaltigen Werk des Dichters Samson ein wenig vertraut ist, der wird nun auch den Mut haben, nach dessen Spiel mit dem Meer, der Zeit und dem Feuer sich an eine Monografie über sein Werk wagen. Nur zu, es lohnt sich!“ So beendet Wolfgang Schlott eine der besten Buchbesprechungen, die ich gelesen habe, zu Horst Samsons Der Tod ist noch am Leben,

Zu Matthias Buths Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zur Kulturgeschichte schreibt Barbara Zeizinger: „Für Matthias Buth ist Philomena mehr als eine Sintiza, die Auschwitz überlebt hat. Sie ist für ihn eine Mutter Courage. Daher hat er mit diesem Buch eine edition philomena eröffnet, in der er gemäß dem Satzungsauftrag des Philomena-Franz-Forums Texte der deutschen Kulturgeschichte in ihren europäischen wie regionalen wie ethnisch-spezifischen Bezügen publizieren wird. Gemeint sind Texte, die Courage, Entschiedenheit unter das Dach einer Kultur der Liebe und des Verzeihens stellen.“

Ewart Reders Rezension zu Sabine Doerings Friedrich Hölderlin. Biographie seiner Jugend sowie die Berichte aus der Kulturszene von Francisca Ricinski (Die Haut umschließt die Seele: Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen, 3. Juli 2022 – 8. Januar 2023, Arp Museum, Bahnhof Rolandseck) und Widmar Puhl (Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters) runden dieses Heft ab.

Die vierte Ausgabe dieses Jahres ist auch fast fertig und wird in Kürze erscheinen. Hoffentlich werden wir uns demnächst nicht mehr für Verspätungen entschuldigen müssen.

Herzlich,
Ihr Traian Pop Traian

• Werner Kremm • Ein Gedicht für jede Jahreszeit • 50 Jahre Aktionsgruppe Banat • Anton Sterbling • Holdger Platta • Manfred Chobot • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ • Charlotte Ueckert • Dagmar Dusil • Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an • Kurt Roessler • Theo Breuer • Literatour »22« • Matthias Buth • Wolfgang Schlott • Barbara Zeizinger • Ewart Reder • Helmuth Schönauer • Sylvia Unterrader • Widmar Puhl • Francisca Ricinski • Traian Pop Traian • Aleksander Nawrocki • Peter Gehrisch • Widmar Puhl •Traian Pop Traian • Mark Behrens • Philipp Ammon • Eva Filip • Wolfgang Schlott • Stefanie Golisch • Christoph Kleinhubbert • Harald Gröhler • Ortwin Beisbart • Uli Rothfuss •

Traian Pop Traian • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter
50 Jahre Aktionsgruppe Banat
Werner Kremm • periamportreport / S. 11
Anton Sterbling • Verschlungene Erinnerungsfragmente . Assoziationen zu einer Stadt / S. 31
Anton Sterbling • Stichworte zur Aktionsgruppe Banat / S. 41

Holdger Platta • Neun Gedichte / S. 49
Manfred Chobot • Zehn Gedichte / S. 63
Manfred Chobot • Jurytätigkeit / S. 78
Manfred Chobot antwortet Dato Barbakadse fragt • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ / S. 88
Charlotte Ueckert • Bei die Fische . Prosa / S. 103
Dagmar Dusil • Haiku & Prosa . Der Wortmagier / S. 112

Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an
Kurt Roessler • Roma-Schausteller in Literatur und Kunst der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke / S. 117

Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 4 : Ein rostiger Klang von Freiheit – und mehr . Nach Norwegen reisen – mit Berg Holm, Brekke, Undset / S. 133
Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 5 : Harald Gröhler … . Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern / S. 144
Matthias Buth • Clara Schumann . Souvenir de Bonn et de Vienne / S. 167
Bücherregal
Wolfgang Schlott • „Gegen die Kraft der Poesie [aber] ist der Tod machtlos.“ . Horst Samson, Der Tod ist noch am Leben / S. 175
Barbara Zeizinger • Bei Philomena wird immer eine Tür geöffnet . Matthias Buth (Hg.), Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zu Kulturgeschichte / S. 179
Ewart Reder • Verseflüsterin . Sabine Doering kommt „Friedrich Hölderlin“ unfassbar nah / S. 183
Helmuth Schönauer • Manfred Chobot, Das Hortschie-Tier und die Lurex-Frau. Hyper-Texte / S. 186
Sylvia Unterrader • Manfred Chobot, „Hawai’i“ Mythen und Götter / S. 189

Aus der Kulturszene
Francisca Ricinski • „Die Haut umschließt die Seele“ . Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen / S. 191
Widmar Puhl • Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters / S. 196