Matrix 3/2015 (41) • Nikolaus Berwanger


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…Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei), schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

Nikolaus Berwanger war damals für mich kein Unbekannter, aber er zählte nicht zu jenen, an die ich dachte, als ich am Schluss der Preisverleihung des Schriftstellerverbandes meinen Freund, den berühmten Literaturhistoriker und Kritiker Cornel Ungureanu, nach den nicht anwesenden deutschsprachigen Autoren fragte, ohne eine Antwort zu erwarten, denn allen war bereits klar, „dass die Deutschen uns für eine bessere Welt verlassen“: Den Anfang hatte doch schon der große Protektor Berwanger selbst gemacht. Ich war damals von den Texten der deutschen Kollegen begeistert – ohne Deutsch zu können –, da sie zum Großteil als Interlinearversionen für mich zugänglich waren. Dennoch wusste ich, dass sich hinter Berwangers prächtiger Gestalt, die mir ab und zu – dank meines Nebenjobs bei einer Literaturzeitschrift – über den Weg lief, viel mehr verbarg, als von außen zu sehen war: Mundartschriftsteller und höherer Parteifunktionär – echte Schimpfworte für uns, die wir gegen die Tradition und die Parteilinie schwammen –, dessen Position (mit den dazugehörigen Beziehungen) ihm ermöglichte, alles zu erledigen; ein Opportunist, der sowohl von den Deutschen (Westen inklusive) als auch von den Rumänen alles verlangte und bekam. Was für ein Kurzschluss, was für ein Irrtum!
Seine Texte sowie die Aussagen vieler Zeitzeugen, die Horst Samson – de facto Herausgeber dieser MATRIX-Ausgabe – hier gesammelt hat, bestätigen nun nicht nur, wie wichtig für mich und meine rumänischen, ungarischen, serbokroatischen Kollegen der Kontakt zu den deutschsprachigen war (lesen Sie dazu die Beiträge von Mária Pongrácz, Ildico Achimescu, Pia Brînzeu), sondern auch, dass ich ein besonders großes Glück gehabt habe, in der Nähe solcher Persönlichkeiten zu leben. Nun, da Nikolaus Berwanger in diesen Tagen 80 Jahre alt geworden wäre, versuchen wir – wie Richard Wagner, einer der besten Schriftsteller, die ich kenne, schreibt –, „etwas in Gang zu setzen“: „Es geht auch um die Lehren, die aus dem Blick auf das Leben eines Nikolaus Berwanger zu ziehen sind. Wenn ein Berwanger im Zeichen der Kontrolle und des Verbots etwas in Gang setzen konnte, so sollten auch wir, die wir jetzt im Zeichen der Verführung leben, der Manipulation, etwas bewegen können.“
Sie werden es uns bestimmt nachsehen, dass dieses Heft so umfangreich geworden ist – doch wenn wir alles, was wir zunächst sammelten, veröffentlicht hätten, wäre es mehr als doppelt so dick geworden. Wir hoffen, dass wir mithilfe der Texte von Nikolaus Berwanger, von den schon genannten beiden Autoren sowie von Karin Berwanger, Paul Schuster, Sigrid Eckert-Berwanger, Walter Engel, Eduard Schneider, Annemarie Podlipny-Hehn, Annemarie Schuller, Luzian Geier, Heinrich Lay, Hans Stemper oder Halrun Reinholz – neben Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern haben sich auch Verwandte, Bekannte, Freunde und Leser zu Wort gemeldet – „etwas bewegen können“.

»Auswertung der Flugdaten« · Notizen zu Thomas Kling

Theo Breuer erinnert mit seinen „Notizen zu Thomas Kling“ an den vor zehn Jahren verstorbenen Dichter. Anlässlich von Axel Kutschs 70. Geburtstag am 16. Mai 2015 veröffentlichen wir – von Theo Breuer ausgewählt – sieben Gedichte aus „Versflug“, dem jüngst erschienenen neuen Gedichtband. Herzlichen Glückwunsch, Axel Kutsch! Und unser kürzlich gefeiertes Geburtstagskind Dieter P. Meier-Lenz stellt uns Lola vor: in einem Gespräch und acht Gedichten.

Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte

Mit „Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte“ sucht Ulrich Bergmann uns das von ihm erlebte China nahezubringen. Und Christine Kappe, Rainer Wedler, Eric Giebel, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss und Stefanie Golisch runden diese Ausgabe mit Essays und Bücherbesprechungen ab.

Am 13. April starb Günter Grass, kurz nachdem er es geschafft hatte, sein letztes Manuskript – keinen Roman, sondern ein Experiment, eine Mischung aus Prosa und Dichtung – „druckfertig“ zu haben. Der Abschied von einem deutschen Gegenwartsautor, der nicht nur mit seiner Literatur auch außerhalb Deutschlands für Wirbel gesorgt hat, erfolgte unterschiedlich – obwohl ausnahmslos unter dem Motto: „De mortuis nil nisi bene.“ Nun, da der politische Provokateur und künstlerische Workaholic nicht mehr da ist, bleibt uns – die wir ihn oft nur noch unter polemischen Stichworten von „Waffen-SS“ bis hin zu „Was gesagt werden muss“ und „Europas Schande“ wahrgenommen haben – zum Glück nichts anderes übrig, als seine Bücher erneut aufzuschlagen. Von der „Blechtrommel“, dem „Big Bang“ der deutschen Nach-kriegsliteratur, bis zu „Hundejahre“, seinem „ungelesensten“ Roman, wie Denis Scheck in einem Interview anmerkt: „Ich habe jedenfalls noch keinen Mitarbeiter des WDR getroffen, der weiß, dass das letzte Drittel von ,Hundejahre‘ im Wesentlichen von einem Redakteur des WDR handelt, der in Köln-Marienburg lebt und dort Talkshows moderiert. Und Grass war immer jemand, der sich der Medienwirklichkeit sehr früh bewusst war, und das auch literarisch reflektierte. Und lesen Sie mal das letzte Drittel der ,Hundejahre‘; das ist ein Roman über das Deutschland des Jahres 2015. Da kann man Gänsehaut bekommen.“
Schwer fällt uns auch, den Verlust von Hans Bender als unwiderrufliche Tatsache zu akzeptieren. Der Autor und Mitbegründer der renommierten Literaturzeitschrift „Akzente“ war zudem Herausgeber der „Konturen – Blätter für junge Dichtung“ sowie zahlreicher Anthologien, u. a. „In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart“ von 1978. „Das war das Logbuch, das war der richtungsweisende Band, wo man sich über die neueste Lyrikproduktion informieren konnte“, so DLF-Literaturredakteur Hajo Steinert.
Diese Ausgabe schließt mit zwei Texten von Theo Breuer im Gedenken an Hans Bender und Günter Grass.

Ihr
Traian Pop

• Horst Samson • Nikolaus Berwanger • Richard Wagner • Theo Breuer • Axel Kutsch • Dieter P. Meier-Lenz • Ulrich Bergmann • Karin Berwanger • Sigrid Eckert-Berwanger • Walter Engel • Eduard Schneider • Mária Pongrácz • Paul Schuster • Ildico Achimescu • Pia Brînzeu • Annemarie Schuller • Luzian Geier • Heinrich Lay • Annemarie Podlipny-Hehn • Hans Stemper • Halrun Reinholz • Christine Kappe  • Uli Rothfuss • Eric Giebel • Stefanie Golisch • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Harald Gröhler • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Gert Weisskirchen • Uli Rothfuss •

Matrix 4/2015 (42) • Hans Bergel

 

M_42 „… Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei)“, schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

„In seinem Werk daheim“ Hans Bergel

Als ich diese Verse zu Papier brachte, dachte ich nicht an Hans Bergel, auch wenn ich ihn inzwischen kennengelernt hatte – indirekt, durch den ersten Übersetzer meiner Gedichte, Georg Scherg. Dies ist im vorliegenden Kontext natürlich unerheblich, und ich muss gestehen, dass ich ihn heute genauso wenig kenne wie sein Werk – denn die paar Bücher und Texte, die ich von ihm gelesen habe, ändern kaum etwas an dieser Tatsache. Allerdings war mir klar, dass sich eine MATRIX-Ausgabe unbedingt auch mit ihm auseinandersetzen sollte. Warum? Auf jeder Seite des über 250 Seiten umfassenden Teils zu Hans Bergel findet sich eine Antwort darauf – die bestimmt auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, entdecken werden: in den zahlreichen Gedichten und Prosastücken, in den Essays, Briefen, Tagebuchfragmenten und Privatfotos sowie Plakaten, Laudationes und Porträts, die um Hans Bergel kreisen.

„Mein Leitspruch, den ich mir seit Jahrzehnten täglich vorsage, gilt als sein berühmtester Satz. Er lautet – Sie wissen es –: ,Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘ Das bedeutet für mich: Ich weiß, dass ich täglich von vorne beginnen und alles auf eine Karte setzen muss, ohne mir des Ausgangs sicher zu sein. Alles, was ich in meinem Leben wollte und über diese Stunde hinaus will, verstehe ich als Handwerker, dessen einziges Streben es ist, saubere Arbeit abzuliefern. Als ein Handwerker an der unbeschreiblich schönen deutschen Sprache.“

So Bergel über Bergel.

Dass – wie Horst Samson, der unermüdliche Redakteur des Schwerpunktes Hans Bergel, sein Geleitwort beendet – „,der Mann ohne Vaterland‘ […] nicht wirklich unbehaust, sondern […] buchstäblich in seinem Werk daheim [ist]“, ahnte ich bereits. Nun sehe ich mich also aufgefordert, ihn zu Hause in seinem Werk zu besuchen. Eingeladen hat er uns schon immer.

Besucht haben ihn auf jeden Fall einige unserer Zeugen seines Weges: Horst Samson, Peter Motzan, Ana Blandiana, Katharina Kilzer, Siegbert Bruss, Peter Paspa, Susanne Schunn, Leonid Balaclav, um nur einige zu nennen. Sonst hätten wir diese Ausgabe gar nicht zusammenstellen können.

In diesem Heft möchten wir Balthasar Waitz zum sechzigsten Geburtstag gratulieren mit einer kleinen Auswahl aus seinen sehr eindrucksvollen Gedichten sowie einem Essay von Cosmin Dragoste keiner hört sie keiner sieht sie über ihn und sein Werk.

Nikolaus Berwanger wäre in diesem Jahr achtzig geworden. Ergänzend zu unserer ihm gewidmeten Ausgabe (Nr. 41) veröffentlichen wir hier noch einen Essay über ihn von Cornel Ungureanu, einem der renommiertesten rumänischen Literaturkritiker.

…wohl nicht sein „letztes Gedicht“ Dieter P. Meier-Lenz

Am 01.07. starb Dieter P. Meier-Lenz, kurz nachdem er uns seine letzten Texte zur Veröffentlichung angeboten hat, die in der vorherigen Ausgabe erschienen sind. In dieser Ausgabe gedenken wir seiner mit einem Gedicht aus seinem letzten Band („hirnvogel. Ausgewählte Gedichte 1990–2014“. Mit 7 Zeichnungen von Brigitte Kühlewind Brennenstuhl, Pop Verlag, 2014), das mit folgenden Versen schließt:

„kein inhalt und ohne gewicht
und schon im entstehen zersprungen
so endet mein letztes gedicht“

Es war wohl nicht sein „letztes Gedicht“, sondern eines der letzten. Wir trauern um ihn – voller Dankbarkeit, ihn unter uns gehabt zu haben –, und nehmen uns vor, sein Werk weiterhin bekannt zu machen. Dazu trägt ein Text von Andreas Noga bei, der ihm – wie viele von uns – nahegestanden hat.

Politische Cartoons in Maos China

Mit seinem Beitrag „Politische Cartoons in Maos China“ führt Ulrich Bergmann eine weitere Facette des fernöstlichen Staates vor Augen. Unser „Atelier“ bietet diesmal Essays, Aphorismen, Gedichte und Prosa von Maximilian Zander, Stefanie Golisch, Franz Hofner, Katja Kutsch, Raluca Naclad und Herwig Haupt. Buchbesprechungen von Katharina Kilzer, Elke Engelhardt, Wolfgang Schlott, Andreas Rumler und Stefanie Golisch runden diese schon wieder überbordende Ausgabe ab – und eine Nachricht, die uns gerade aus Rumänien erreicht hat: Unsere Chefredakteurin Francisca Ricinski wurde zum „Botschafter der Poesie“ ernannt. Wir gratulieren und freuen uns schon auf ihre nächsten Beiträge!

Ihr
Traian Pop

Es signiert:

• Horst Samson • Hans Bergel • Peter Motzan • Dieter P. Meier-Lenz • Ana Blandiana • Renate Windisch-Middendorf •Peter Paspa • Cornel Ungureanu • Balthasar Waitz • Ulrich Bergmann • Cosmin Dragoste • Andreas Noga • Maximilian Zander • Stefanie Golisch • Franz Hofner • Katja Kutsch • Raluca Naclad • Herwig Haupt • Katharina Kilzer • Elke Engelhardt • Andreas Rumler • Wolfgang Schlott •