MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

Letzte Nacht geriet ich in einen Streit mit jemandem, der darauf bestand, mich in die Political Correctness einzuweihen.

Alles begann mit dem Artikel eines bekannten Journalisten, dessen Namen ich natürlich nicht erwähnen soll. Ich hatte also ein Material gelesen (das ich hier nicht wiedergeben kann, um nicht des Plagiats beschuldigt zu werden) über eine berühmte Sportlerin (darf ich das aus oben genannter Sicht sagen?), die ihr Brot als Profi in ihrem Land verdient (dessen Namen hier zu nennen nicht korrekt wäre), doch während ihres Urlaubs spielte sie – zur Abrundung ihres Einkommens – in einem Verein jenes Landes, dessen Namen man auf keinen Fall nennen soll. Und so verdiente sie im Urlaub etwa „n“-mal mehr als bei der Tätigkeit im Herkunftsland. Sie tut dies seit mehreren Jahren und kennt daher die Gepflogenheiten und Gesetze des Ortes, an dem sie ihre Ferien verbringt. Trotzdem wurde sie vor nicht allzu langer Zeit an einem Grenzübergang, der weltweit für die Strenge der Kontrollen bekannt ist, mit Drogen im Gepäck überrascht, die in ihrem Urlaubsland gesetzlich verboten sind. Bestrafung? Bis zu annähernd zehn Jahre Haft.

Von einem sehr hohen Beamten des Heimatlandes der Sportlerin wie auch ihren Anwälten und vielen Unterstützern wird dem Urlaubsland „illegale Festnahme“ vorgeworfen: ein Propagandaversuch.

Nach etlichen Monaten gescheiterter Verhandlungen über ihre Freilassung gestand sie plötzlich ihre Schuld ein, erklärte aber, dass sie das Gesetz nicht „vorsätzlich“ gebrochen habe, und der Größte des Tages in ihrem Herkunftsland glaubt immer noch, dass die Sportlerin „zu Unrecht inhaftiert“ wurde!
Nach einer Ewigkeit legte ein Anwalt der Sportlerin ein Dokument vor, das bescheinigte, dass ihr das „Medikament“ zu Hause von einem Arzt verschrieben wurde. Es steht jedoch fest, dass das vom Arzt ausgestellte Rezept zwar in ihrem Herkunftsland legal ist, im Urlaubsland aber, wo andere Gesetze gelten, keine Gültigkeit hat. Obendrein geriet die Sportlerin, die sich für ihre Art zu lieben und zu leben stark macht – eine Art, die im Urlaubsland nicht akzeptiert wird –, von Anfang an ins Fadenkreuz der Behörden. Sie konnte ihre medizinische Situation mit der Ferienclubleitung besprechen und eine Einigung mit den örtlichen Behörden erzielen. Aber sie trat arrogant auf mit dem Gedanken, dass es auch im Land ihrer profitablen Urlaube genauso laufen würde wie zu Hause, wo ihre Berühmtheit viele und vieles zum Dahinschmelzen brachte.

Dass ihr Urlaubsland den Fehltritt nutzt, um im Nervenkrieg mit ihrer Heimat zu punkten, ist klar. Klar ist aber auch, dass die Inhaftierung der Sportlerin auf keinen Fall rechtswidrig ist.

Nach einiger Zeit sind Informationen über eine mögliche Lösung der Situation aufgetaucht: ein Austausch von Geiseln zwischen den beiden Ländern. Als Gegenleistung für ihre Freilassung soll ein anderer Häftling ausgeliefert werden, der ab der Jahrtausendwende als der meistgesuchte Mann der Welt galt, immer noch mehrere Staatsbürgerschaften sowie anhängige Verfahren hat und seit mehreren Jahren (es wäre falsch, nicht wahr, zu sagen seit wie vielen) wegen unterschiedlicher hochkrimineller Machenschaften (über die es nicht geraten ist zu sprechen) hinter Gittern sitzt. Die Berater des Größten des Tages im Herkunftsland der Sportlerin hoffen, dass der Erfolg dieses Deals ein großer PR-Schlag werden und ihnen bei den bevorstehenden Wahlen erheblich helfen könnte. Es wäre möglich.

Bei allem Mitgefühl, das der Sportlerin entgegengebracht werden muss, obwohl sie die einzige Schuldige an der Situation ist, in der sie sich befindet, bleibt eine Frage im Raum stehen: Wie moralisch wäre eine Vereinbarung, durch die ein Krimineller wie der oben genannte im Austausch freigelassen würde? Aber in der Politik liegt der Preis der Moral im permanenten … „negativen Wachstum“.

Diese ganze Geschichte entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Sportlerin, für deren Befreiung sich der Größte des Tages in ihrem Heimatland so intensiv einsetzt, steht zu ihrer Position, die offiziellen Insignien ihres Landes nicht zu respektieren und während des Spielens der Nationalhymne den Platz zu verlassen. Es wäre jedoch keineswegs verwunderlich, wenn der Größte des Tages der Sportlerin nach ihrer Rückkehr die höchste Auszeichnung überreichen würde, die ein Bürger ihres Herkunftslandes erhalten kann, wie er es mit anderen – sehr lautstarken – Aktivisten bereits getan hat. Bis dahin aber wird es noch dauern, denn jetzt weiß sie genau, dass ihr in ihrem Urlaubsland statt einer Suite eine Gemeinschaftsunterkunft in einer Strafkolonie reserviert ist.

Was soll dies zu tun haben mit der Aussage, dass „mir die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, zu diesem Freundeskreis, sehr viel bedeutete und auch heute noch bedeutet. Ich sehe mich mit allen damals Dazugehörenden weiterhin geistig eng verbunden“, so eines der Mitglieder der viel beneideten literarischen Gruppe, deren Gründung sich in diesem Sommer zum 50. Mal jährte? Ich frage das, weil ich von dieser Gruppe geträumt habe, als ihr Kampf begann. Und – haben Sie es erraten? – ich bin genau in dem Moment aufgewacht, als ich ihren Namen aussprach. Denn wer sich mit zu heißer Suppe die Zunge verbrannt hat, bläst auch in den Joghurt, zumindest wenn er gerade aus dem Schlaf gerissen wird. Ich frage mich jedoch, wie das wäre, wenn jeder auch in den Joghurt zu pusten anfinge …

Hochpolitisch und brisant waren die Worte dieser Jungs, die mir persönlich damals sehr nahegingen – trotz meiner Neigung, nicht alles, was engagiert klingt, positiv zu bewerten. Weil damals, wie leider immer noch, die Welt voller Engagement war: ein Engagement, hinter dem nicht selten nur leere Versprechungen standen.

Vor ein paar Jahren habe ich – mit Hilfe Host Samsons – einen Text entdeckt, der mir immer noch wie kein anderer mit seiner Schlichtheit, Natürlichkeit und Wärme der damaligen Aktionsgruppe Banat gerecht zu werden scheint: das lange Gedicht periamportreport, 1975 von Werner Kremm verfasst, aus dem ich hier zitiere:

„das ist ein singsang,
geschrieben von einem, der auszog
das fürchten zu lernen
und zeitweise bokschan mit periamport velwechsert,
zu seiner persönlichen verteidigung aber behauptet,
nicht zu wissen,
was er tut,
auf die frage, weshalb er schreibe,
gegenwärtig folgender-
massen antwortet: die einzig seriöse einstellung eines schreib-
enden ist, zu schreiben.“

„Für die Schreibtätigkeit der Angehörigen der »Aktionsgruppe« bedeutete die »eigene gesellschaftliche Realität« und das »neue Realitätsbewusstsein« einen dreifachen Bezugsrahmen der Reflexion und Kritik: Es ging dabei um die »realsozialistische« Gesellschaft Rumäniens und die noch stark traditional ausgerichtete Gemeinschaft der Banater Schwaben und ihre »Lebenswelt«. Beides – mitunter in einer »unheiligen Allianz« – erschien uns im Lichte der Moderne überaus fragwürdig, beides galt mithin als Gegenstand der Kritik und Grund zur Veränderung. Und die Grundlage dieser Kritik und ihr Hintergrund bestand gleichsam in der dritten Dimension unseres »Realitätsbewusstseins«, nämlich der Literatur, der modernen westlichen Literatur und dem Weltverständnis und Lebensgefühl, das diese vermittelte. Als Weg der Veränderung in diesem Sinne wurde allerdings nicht die direkte Aktion angesehen – insofern passt der Name »Aktionsgruppe« auch nur eingeschränkt –, sondern der Umweg über das Bewusstsein, über die Einstellungen und Haltungen zu diesen gegebenen Realitäten.“ So Anton Sterbling, dessen Artikel Sie ab Seite 29 lesen können.

Ich hätte Ihnen gerne auch erzählt, wann und wie ich diese Jungs kennenlernte und warum ich mich in deren Gesellschaft so wohl fühlte. Vielleicht tue ich das ein andermal. Zurzeit erscheint es mir etwas peinlich, mich an deren Erfolg dranzuhängen.

„Es war schon immer so, daß wir geschrieben haben, / um dereinst nicht mehr schreiben zu müssen.“ Holdger Plattas Gedichte scheinen uns und unseren Ansatz gegen das „Pusten in den Joghurt“ zu unterstützen – genauso wie die starke Abteilung von, mit und über Manfred Chobot: „»Gedichte muss man so schreiben, dass sie, wenn man sie gegen ein Fenster wirft, die Fensterscheibe zerschlagen.« Dies hat der russische Dichter Daniil Charms geschrieben. Seiner Forderung schließe ich mich vollinhaltlich an.“ Wundern Sie sich bitte nicht, wenn Sie feststellen müssen, dass unsere Ausgabe keine Scheibe mehr hat, gerade jetzt, wenn alle beim Heizen sparen müssen.

Nicht so schlimm, scheint Charlotte Ueckert zu sagen, wenn die Protagonistin ihrer Prosa sich erinnert: „Das wäre damals doch was gewesen: Duschbusse an zentralen Plätzen und man wäre als neuer, sauberer Mensch herausgekommen. Desinfiziert gegen jede Unzumutbarkeit.“

Dagmar Dusils Kurzprosa, die meisterhaft von einem Haiku angekündigt wird, bringt uns nicht nur einen unserer Bekannten nahe, sie fordert uns auf, an die Beziehung zu Unserer Zeit zu denken: „»Es ist deine Zeit«, (…) »Zeit ist Sand«, hatte sie ergänzt, »warm und zerrinnend, kalt und abweisend. Es ist nicht deine Zeit, sondern du gehörst der Zeit. Irgendwann braucht dich die Zeit nicht mehr, entledigt sich deiner. Dann folgt deine zeitenlose Zeit.«“
Der Essay von Kurt Roessler, Roma-Schausteller in Literatur und Kunst, der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke, einer von vielen Schreien, unter der Initiative Der Himmel über Philomena gesammelt und herausgegeben von unserem Mitstreiter Matthias Buth, setzt sich nicht nur mit der Neigung auseinander, in den Joghurt zu pusten, sondern auch mit den Vorurteilen vieler von uns.

Unser ebenfalls sehr geschätzter Mitstreiter Theo Breuer lädt uns mit dem vierten Essay des insgesamt siebenteiligen Projekts L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« nach Norwegen ein – in Begleitung von Ingebjørg Berg Holm, Toril Brekke und Sigrid Undset –, um den „rostigen Klang von Freiheit“ zu erfahren. Sein fünfter Essay bringt uns Harald Gröhler näher: Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern.

„Die Verlegenheit bleibt, nicht wenigen ist es peinlich, zu singen und dann auch noch »für das deutsche Vaterland«. Was heißt das eigentlich? Wer von den Ampelisten aus Berlin spricht davon? Und »im Glanze dieses Glückes« – ja, von Glück ist die Rede – soll dieses Land, das deutsche Vaterland, »blühen«. Die Blumen heißen »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Nicht alle Bundesminister vermochten am 3. Oktober 2022 in Erfurt beim »Nationalfeiertag« (schon diese Bezeichnung irritiert viele) mitzusingen, so Steffi Lemke. Sie schwieg.“ Manche Sätze in Matthias Buths Essay sind wahre Verzweiflungsschreie – wie dieser Ausschnitt aus Clara Schumann. Souvenir de Bonn et de Vienne
(ab S. 165).

„Wer mit dem gewaltigen Werk des Dichters Samson ein wenig vertraut ist, der wird nun auch den Mut haben, nach dessen Spiel mit dem Meer, der Zeit und dem Feuer sich an eine Monografie über sein Werk wagen. Nur zu, es lohnt sich!“ So beendet Wolfgang Schlott eine der besten Buchbesprechungen, die ich gelesen habe, zu Horst Samsons Der Tod ist noch am Leben,

Zu Matthias Buths Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zur Kulturgeschichte schreibt Barbara Zeizinger: „Für Matthias Buth ist Philomena mehr als eine Sintiza, die Auschwitz überlebt hat. Sie ist für ihn eine Mutter Courage. Daher hat er mit diesem Buch eine edition philomena eröffnet, in der er gemäß dem Satzungsauftrag des Philomena-Franz-Forums Texte der deutschen Kulturgeschichte in ihren europäischen wie regionalen wie ethnisch-spezifischen Bezügen publizieren wird. Gemeint sind Texte, die Courage, Entschiedenheit unter das Dach einer Kultur der Liebe und des Verzeihens stellen.“

Ewart Reders Rezension zu Sabine Doerings Friedrich Hölderlin. Biographie seiner Jugend sowie die Berichte aus der Kulturszene von Francisca Ricinski (Die Haut umschließt die Seele: Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen, 3. Juli 2022 – 8. Januar 2023, Arp Museum, Bahnhof Rolandseck) und Widmar Puhl (Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters) runden dieses Heft ab.

Die vierte Ausgabe dieses Jahres ist auch fast fertig und wird in Kürze erscheinen. Hoffentlich werden wir uns demnächst nicht mehr für Verspätungen entschuldigen müssen.

Herzlich,
Ihr Traian Pop Traian

• Werner Kremm • Ein Gedicht für jede Jahreszeit • 50 Jahre Aktionsgruppe Banat • Anton Sterbling • Holdger Platta • Manfred Chobot • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ • Charlotte Ueckert • Dagmar Dusil • Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an • Kurt Roessler • Theo Breuer • Literatour »22« • Matthias Buth • Wolfgang Schlott • Barbara Zeizinger • Ewart Reder • Helmuth Schönauer • Sylvia Unterrader • Widmar Puhl • Francisca Ricinski • Traian Pop Traian • Aleksander Nawrocki • Peter Gehrisch • Widmar Puhl •Traian Pop Traian • Mark Behrens • Philipp Ammon • Eva Filip • Wolfgang Schlott • Stefanie Golisch • Christoph Kleinhubbert • Harald Gröhler • Ortwin Beisbart • Uli Rothfuss •

Traian Pop Traian • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter
50 Jahre Aktionsgruppe Banat
Werner Kremm • periamportreport / S. 11
Anton Sterbling • Verschlungene Erinnerungsfragmente . Assoziationen zu einer Stadt / S. 31
Anton Sterbling • Stichworte zur Aktionsgruppe Banat / S. 41

Holdger Platta • Neun Gedichte / S. 49
Manfred Chobot • Zehn Gedichte / S. 63
Manfred Chobot • Jurytätigkeit / S. 78
Manfred Chobot antwortet Dato Barbakadse fragt • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ / S. 88
Charlotte Ueckert • Bei die Fische . Prosa / S. 103
Dagmar Dusil • Haiku & Prosa . Der Wortmagier / S. 112

Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an
Kurt Roessler • Roma-Schausteller in Literatur und Kunst der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke / S. 117

Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 4 : Ein rostiger Klang von Freiheit – und mehr . Nach Norwegen reisen – mit Berg Holm, Brekke, Undset / S. 133
Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 5 : Harald Gröhler … . Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern / S. 144
Matthias Buth • Clara Schumann . Souvenir de Bonn et de Vienne / S. 167
Bücherregal
Wolfgang Schlott • „Gegen die Kraft der Poesie [aber] ist der Tod machtlos.“ . Horst Samson, Der Tod ist noch am Leben / S. 175
Barbara Zeizinger • Bei Philomena wird immer eine Tür geöffnet . Matthias Buth (Hg.), Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zu Kulturgeschichte / S. 179
Ewart Reder • Verseflüsterin . Sabine Doering kommt „Friedrich Hölderlin“ unfassbar nah / S. 183
Helmuth Schönauer • Manfred Chobot, Das Hortschie-Tier und die Lurex-Frau. Hyper-Texte / S. 186
Sylvia Unterrader • Manfred Chobot, „Hawai’i“ Mythen und Götter / S. 189

Aus der Kulturszene
Francisca Ricinski • „Die Haut umschließt die Seele“ . Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen / S. 191
Widmar Puhl • Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters / S. 196

MATRIX 2/2021 (64)

MATRIX 2/2021 (64)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Ich mag keinen Exhibitionismus, aber ich habe trotzdem das Bedürfnis, die Kleider meines bescheidenen Ich wieder einmal fallen zu lassen. Des bescheidenen Ich, das so verrückt geworden ist, als Autor, Redakteur, Kolumnist – und was es sich sonst erträumt hat in seiner parallelen Welt – erneut vorstellig zu werden. Weil ich, wie schon so oft gesagt, zu danken habe, dass es mir erlaubt ist, dabei zu sein.

So wie mein Vater, der als Pilot für den Flug und die Passagiere verantwortlich war, es getan hat. Von ihm habe ich einen Traum geerbt: wie schön es sein kann, sich dem Willen des Himmels zu überlassen, auch wenn man Seiner Majestät dem Himmel manchmal aus der Hand rutscht. Genauso wie ich von ihm geerbt habe, dem Wunsch nachzugeben, selbst zu erfahren, was es heißt, den Flug für andere vorzubereiten, für ein Flugzeug und seine Passagieren einzustehen. Und das mehrmals wöchentlich, egal ob tags oder nachts, egal ob sommers oder winters, egal ob bei Hitze, Regen oder Schneesturm.

Eine Art, ein Flugzeug mit Passagieren anvertraut bekommen zu haben, scheint auch der Versuch zu sein, eine Literaturzeitschrift am Leben zu erhalten in einer Zeit, als Corona-Pandemie und Klimakatastrophe jedem Flugversuch entgegenstanden. Stimmt, unter Quarantäne gestellt zu werden, ist nicht gerade lustig. Um nicht missverstanden zu werden: Ich gehöre zu denen, die Impfen als einen Akt der Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft sehen. Ich sage dies nicht, um den Überraschungseffekt, der die Passagiere dieses Fluges erwartet, zu verderben, sondern um eine Wahrheit zu wiederholen, die jeder kennt und die niemand hören möchte: Jene, ohne die eine Pandemie und eine Klimakatastrophe nicht existieren würden, sind wir. Nur wir, unabhängig davon, ob wir uns an Bord der Literatur und Kultur begegnen, für die es immer enger wird, oder – im Gegenteil – von deren Existenz keine Ahnung haben bzw. davon nichts wissen wollen.

Genauso wie die Literatur selbst ein Virus ist, gegen das weder Interesse noch Ignoranz, weder Gut- noch Böswilligkeit, weder Armut noch Reichtum, weder persönliche Schwäche noch politische oder militärische Macht und auch nicht die Literatur selbst, die sich so oft für Pfennige prostituiert hat, bisher ein Gegenmittel gefunden haben. Trotz unzähliger Versuche. Von der Inhaftierung bis zum Verbot, ja bis zur raffinierten wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung.

Dass sich hinter der wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung von Pandemie und Klimakatastrophe auch eine unfaire Art, mit Literatur umzugehen, verbirgt, ist längst keine Neuentdeckung mehr. Genauso wie die politisch korrekte Behandlung der Literatur eine Katastrophe für Literatur selbst ist. Wenn immer mehr „Literaturfreunde“ sich berechtigt fühlen, mir unbedingt beizubringen, dass z. B. Schneewittchen von Rassismus und Diskriminierung oder Rotkäppchen von Sexismus geprägt seien.
Soll mein Ich, obwohl es zu seiner Männlichkeit steht, aber nicht an Sex denkt, wenn es sich an Rotkäppchen erinnert, soll mein Ich dieses wunderbare Märchen mit seinen Lehren über Gut und Böse, über Naivität und Realität, über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, das meine Kindheit begleitet hat, einfach vergessen? Und Schneewittchen zukünftig außer Acht lassen? Muss ich nun annehmen, dass das wirtschaftlich und politisch korrekte Benehmen uns selbst erfasst hat? Erfasst nicht, aber eingeholt schon, flüstert mir eine berühmte Romanfigur ins Ohr.

Pragmatisch wäre also, in das Flugzeug, das ich unbedingt in Betrieb halten möchte, die Geimpften, Genesenen oder Nicht-Infizierten einsteigen zu lassen. Da ich aber mit Pragmatismus nichts am Hut habe, wähle ich die Passagiere immer noch nach Kriterien aus, die ich mir selbst angesichts der allgemeinen Befindlichkeiten kaum einzugestehen wage. Ist das ein Zeichen dafür, dass meine Finger voller Viren sind? Trotz des Versuchs eines EU-Werbespots, mir beizubringen, wie ich meine Hände korrekt waschen muss? Gott sei Dank drängt sich nicht alles als Vorschrift auf, manches ist nur als Geschenk zu bekommen …
Denn was hätte die Dame aus dem Werbespot mit der Tatsache anfangen können, das z. B. unser georgischer Autor Dato Barbakadse eine „türkische Pizza“ isst „in einem ärmlichen Café in Kopenhagen, Hauptstadt Österreichs / mit ein paar nicht so schlechten Aussichten auf den Seine-Fluss“? Hätte sie eine Probe an die Behörde geschickt, um die Virenbelastung festzustellen?
Und wie hätte das RKI die Tatsache eingestuft, dass Christa Wißkirchen „Vatermutter“ sagt statt „Mamapapa“ und „Erzeuger“ statt „Eltern“ und „Projektion“ statt „Liebe“ und „System“ statt „Schule“ und so weiter und so weiter?

Europa hätte bestimmt Selbstanzeige erstattet, wäre aus dem Zentrum Zentraleuropas zu ihr gedrungen: „Die Anarchisten haben ihre Knallfrösche vergessen (und die Fahnenträger laufen ohne Fahnen / einzeln über den leeren Platz / wo der Volksredner von einer Säule herab / per Liveschaltung seine Zuhörer anfleht / nicht das Haus zu verlassen.)“, wie Thomas Böhme uns gerade mitteilt, während Michael Denhoff von countertimecounter sagt, dass die Komposition immer lebendiger werde trotz der Absicht, der mittlerweile so genannten ,Corona-Krise‘ (die in seiner Wahrnehmung vielmehr eine globale Gesellschafts- und Systemkrise – mit in mancherlei Hinsicht geradezu kafkaesken Zügen – geworden sei) keinen Zutritt in seine künstlerische Arbeit zu erlauben.

Der Gemeinplatz ist allseits bekannt: Was soll der Träumer, wenn heute Pragmatiker und Problemlöser gefragt sind? Wer glaubt im Ernst, dass Lawrenti Ardasiani kein Träumer war, als er in Tiflis die Verwandlung und Europäisierung mit all ihren karnevalesken Zügen akribisch beobachtet und literarisch gestaltet hat? Man könnte auch meinen, Matthias Buth wäre ein Verwalter der Ungerechtigkeit, die immer noch unsere Zeit prägt, Barbara Zeizinger und Rainer Wedler wären Puppenspieler, die sich selbst manövrieren, Silvia Schreiber eine unsichtbare Mitbewohnerin in unseren Wohnungen, Körpern, Gedanken. Und die Rezensenten: viel zu indiskrete Leser, die viel zu diskret über die eigenen Entdeckungen berichten. Den Editorial-Unterzeichner sollte man lieber vergessen: Er spottet jeder Vorstellung von gesundem Menschenverstand. Der einzige Zeitzeuge dieser Ausgabe, der das Schreiben zu seinem Hauptberuf gemacht hat, Hans Todt, mahnt: „In der heutigen Zeit des Internets finde ich es wichtig, dass junge Menschen überhaupt lesen.“

So könne aber keine Identität als Literaturgemeinde entstehen, die integrieren soll statt ausschließen, meldet sich die schon erwähnte Romanfigur zu Wort und fügt hinzu: Dieser Flug findet bestimmt nicht mehr statt. Doch, antworte ich, während die unentschlossene Jahreszeit die Unterwäsche von Rotkäppchen in meinem Handgepäck sucht, nachdem sie mir den Reisespiegel überreicht hat, in dem Schneewittchen sich schminkte, damit ich mich selbst davon überzeugen kann, dass ihr Negativ-Test gefälscht war. Ich finde aber keinen Grund zu feiern, obwohl mein Ich mich aus dem Spiegel ohne FFP2-Maske anstarrt.

Ich halte ihm das Blatt Papier unter die Nase, auf dem ich gerade begonnen habe, den Leitartikel dieser Ausgabe zu schreiben:

„… ich werde dich nie wiedersehen. So viele Tode / warten auf dich“, schreit Matthias Buth mit einem Vers von Adam Zagajewski, „und dann / der tod / zu jeglicher schönheit entschlossen“, zitiert er weiter, diesmal aus einem Gedicht von SAID. „Ruf leise: Strudirella. Wenn dann eine Nixe aus dem Wasser schaut, ist sie deine Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßtante“, antwortet ihm Herwig Haupt. „Auf einem Bild fährst Du unter Wasser mit dem Rad zur Kirche, liebe Irene Klafke“, denkt Christine Kappe, während sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg zur Trauerfeier macht. Wollten sie vielleicht Strudirella treffen?

Eine gute Reise hätte ich allen Entschwundenen wünschen wollen, aber meine Stimme macht nicht mit. Ich bin jedoch sicher, dass sie mich hören. Und selbst wenn es nicht so sein sollte, ist es wichtig für mich und Sie, die diese Zeilen lesen, das zu glauben.

Es ist bereits Oktober und die MATRIX-Sommerausgabe endlich druckreif …

Traian Pop

• Dato Barbakadze • Christa Wißkirchen • Thomas Böhme • Michael Denhoff • Lawrenti Ardasiani • Bela Tsipuria • Matthias Buth • Herwig Haupt • Ulrich Bergmann • Christine Kappe • Irene Klaffke • Rainer Wedler • Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen? • Hans Todt • Barbara Zeizinger • Silvia Schreiber • Christel Wollmann-Fiedler • Wolfgang Schlott • Tania Gensfett • Uli Rothfuss • Katharina Kilzer • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Traian Pop •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Dato Barbakadse • genius loci / S. 9

Christa Wißkirchen • Sechs Gedichte / S. 12
Thomas Böhme • Fünf Gedichte / S. 18
Michael Denhoff • countertimecounter / S. 26
Dato Barbakadse • 64 Haiku / S. 33
Luka Bakradse • Haiku-Kränze / S. 47
Beka Barkaia • Die kombinatorische Poesie Akira Mikitos / S. 49
Lawrenti Ardasiani • Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili . Auszug / S. 53
Bela Tsipuria • Verwandlung, Europäisierung und Karnevalität von Solomon Isakitsch und Tiflis / S. 65
Matthias Buth • Lemberg ist Poesie – wie alle Heimat . Zum Tod von Adam Zagajewski / S. 79
Matthias Buth •Auf dem Rückweg vom Tod . In Deutschlands Sprache . In Memoriam SAID / S. 83
Herwig Haupt • Zwölf Gedichte / S. 89
Herwig Haupt • Das Märchen vom Nixenstein . Prosa / S. 104
Ulrich Bergmann • In memoriam Herwig Haupt / S. 119
Christine Kappe • Irene Klaffke, bildende Künstlerin, 1945 – 2021 – ein Nachruf in Briefform / S. 123
Rainer Wedler • Die Versuche des Rudolph Anton R. . Auszug / S. 127
Barbara Zeizinger • Herzwurzeln / S. 145

Zeitgeschichte
Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen?
Hans Todt • Ich kam aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Cherbourg und stand ohne alles da / S. 157

Atelier
Silvia Schreiber • Du siehst mich nicht . Prosa / S. 160

Bücherregal
Christel Wollmann-Fiedler • Die Reise des Wasserzeichens / S. 177
Wolfgang Schlott • Dato Turaschwili, Das andere Amsterdam / S. 179
Tania Gensfett • Die dämmernde außerterrestrische Leiter ins All . Gedichte von Ágnes Nemes Nagy (1922-1991) / S. 181
Uli Rothfuss • Kultur und Freiheit . Ein Buch von Roland Bernecker
und Ronald Grätz (Hg.) / S. 185
Matthias Buth • Der Worterheller aus Rumänien . Gott weiß mich hier. Radu Carp im Gespräch mit Eginald Schlattner / S. 187
Matthias Buth • Ännchen singt weiter, nicht nur in Königsberg . Klaus Ferentschik, Kalininberg & Königsgrad: Große Miniaturen / S. 191
Katharina Kilzer • Am Ende des Tunnels Licht – Tamara Labas’ Gedichtband Durst der Krieger – Liebesgedichte / S. 194
Stefanie Golisch • Es geht immer weiter. Zu Dato Barbakadses Und so weiter. Sieben Haiku-Kränze / S. 197
Dieter Mettler • Rainer Wedler, Die Versuche des Rudolph Anton R. / S. 199