MATRIX 3/2021 (65)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

  Was kann ich tun, Gott, um nicht mehr dem nachzuweinen, was war bzw. nicht war oder von dem ich meine, dass es nie sein wird, um mich endlich darauf zu konzentrieren, was mir das Leben bietet – das denke ich gerade und bin sicher: Dieser Gedanke wird nicht so einfach umzusetzen sein.
Irgendwie will ich mit Ihnen meine Freude teilen, die ich am
19. November 2021 im Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf er-
lebt habe. „Sehr geehrte Mitglieder der Jury des Andreas-Gryphius-
Preises, liebe Poesiekollegen, liebe Leser“, so ging es los. „Mamă, tare începe – wow, wie stark“, schreckte ich in der darauf folgenden rheto­rischen Pause während meiner Dankesrede hoch und fuhr fort: „Ich weiß nicht, wie ich die Aufregung ausdrücken soll, die ich empfand, als mich die wundervolle Nachricht erreichte, dass ich in Düsseldorf den Andreas-Gryphius-Preis erhalten werde. Um zu verstehen, was ich empfunden habe, müssen Sie wissen, dass dieser legendäre Preis, benannt nach dem schlesischen Barockdichter – einem vielsprachigen Poeta doctus –, mit dem so bedeutende Autoren wie Reiner Kunze, Rose Ausländer, Siegfried Lenz, Andrzej Szczypiorski oder Jiří Gruša ausgezeichnet wurden, dass dies der erste Literaturpreis ist, der mir in meinem Adoptionsland verliehen wurde.“
„Cu asta s-a aranjat, păi cine mai stă, măi frate, în rând cu Lenz & Co. – damit bin ich etabliert, denn wer, Bruder, reiht sich neben Lenz & Co. ein“, sog ich zusammen mit einer guten Portion frischem Sauerstoff ein, die diesmal echt nötig war, und sprach weiter: „Es stimmt: Ein Literaturpreis allein wird Waffen nie zum Schweigen bringen. Was er aber tut: Er verpflichtet. Mir ist dies bewusst und ich hoffe, die in mich gesetzten Erwartungen nicht zu enttäuschen.“
„Aici chiar că s-a întrecut pe sine – jetzt hat er sich sogar selbst übertroffen“, triumphierte ich kurz, um das Folgende nicht hinauszuzögern: „Diese Auszeichnung widme ich meiner Familie für ihre Geduld und ihr Verständnis sowie den Autoren, Übersetzern, Lek­toren, Redakteuren und Korrektoren, die mit mir konstruktiv
zusammenarbeiten und mit denen ich oft freundschaftlich verbun-
den bin.“
„Klar, denen verdankst du eigentlich alles, was du hast“, machte ich mich klein, um wieder auf den Boden zu kommen. Endlich auf Deutsch und sogar grammatikalisch korrekt, stellte ich fest, während ich von Tränen überwältigt wurde.
So also der Unterzeichner dieses Editorials, damals, als Veranstaltungen noch möglich waren. Denn Corona hat, wie üblich, schon wieder alles auf der Kopf gestellt: Diese Ausgabe sollte schon lange erscheinen, aber seine App zeigte ihm überraschend: „Begegnungen an 1 Tag mit erhöhtem Risiko“. Die Ermüdung scheint seither sein ständiger Begleiter sein zu wollen, man glaubt, der Körper versucht durch Schlaf, Energie aus den alltäglichen Aktivitäten zurückzu­ziehen, um die Abwehrkräfte-Armee zu verstärken.
„Unter diesen Bedingungen schreiben? Alles ist ja vorbei und vergangen, was ich erzählen kann, sogar dieser Traum. Das, was ist, und das, was noch kommen wird, ist kaum zu fassen und zu erzählen! Erzählen ist eigentlich etwas Trauriges, weil der Brunnen der Vergangenheit viel zu tief ist für einen, der den Zugang verpasst hat.“ Das schrieb Dieter Schlesak, nicht ich, auch wenn ich es gerne so formuliert hätte.
Genauso verhält es sich mit den Worten von Christel Wollmann-Fiedler in der Einleitung ihres Interviews mit Eginald Schlattner, weil ich ohne Zögern die Beschreibung des Literaturtourismus unterschreiben könnte, den ich kenne und beispiellos finde nicht nur in Rumänien, sondern in der Welt: „Menschen aus dem Westen Europas und von Übersee, nicht nur deutschsprachige, machen sich auf den Weg, nein, pilgern geradezu ins siebenbürgische Rothberg/Roşia bei Hermannstadt/Sibiu zum Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner, zum alten Pfarrhof von 1762 und zu einer der ältesten Kirchen inmitten der Karpaten, der romanischen Basilika aus dem Jahr 1225. Kein siebenbürgischer Schriftsteller, ob hier in Rumänien oder im Ausland, bekommt so viel literarischen Besuch, Ehre und Bewunderung. Nun, seine Bücher werden in vielen Auflagen produziert, in mehrere Sprachen übersetzt und sogar verfilmt.“
Nach Siebenbürgen also laden wir Sie ein, liebe Leserinnen und liebe Leser, zuerst mit einem Auszug aus dem im Sommer 2021 erschienenen Roman Drachenköpfe. Im Folgenden werden dann dessen vielfältige Facetten von nicht weniger als drei Studien auf insgesamt mehr als 43 Seiten beleuchtet:
– „Zu Eginald Schlattners Roman Drachenköpfe (2021) – Eine literarische Replik auf Iris Wolffs Erzählung Drachenhaus“ von Gabriella-Nóra Tar, die in ihrer literarischen Analyse festhält: „Keinesfalls soll übersehen werden, dass der autodiegetische Erzähler in Drachenköpfe nicht nur Pfarrer, sondern vor allem Schriftsteller, d. h.
ein Künstler ist. Im Roman gelten zuerst seine literarische Lektüre, danach sein eigenes literarisches Werk als Medien, die eigene Vergangenheit analytisch bzw. kreativ zu bewältigen und somit implizite auch die rumäniendeutsche Geschichte bzw. Gegenwart zu erschließen.“
– „Ebenso politisch aktuell wie literarisch bedeutsam: Die Überhöhung des Profanen durch das Mythische“ von Christoph Klein, der bilanziert: „Das Buch schließt seltsamerweise mit einem Wort, das Anita Mirjam ihm Jahre zuvor, 1978, auf der Galerie des Pfarrhauses in Semlak zugerufen hatte, zum Abschied, ohne ihm ihr Antlitz zu zeigen. Es heißt wörtlich: ,Ich signierte weiterhin Bücher im wechselnden Licht von Handys, Taschenlampen und Feuerzeugen […].
Und erahnte, was es heißen könnte: ,Du bist für das Antlitz des anderen verantwortlich.‘ […] Ein Wort Mircea Eliades sei am Ende zitiert wie ein Schlüssel: ,… die Wahrheit der Geschichte beginnt … bei der symbolischen Bedeutung der Ereignisse‘ […].“
– „Drachenköpfe. Roman im Kontext der Rehabilitierung des Autors und Siebenbürger Sachsen Eginald Schlattner“ von Rolf L. Willaredt. Zum Schluss seiner Buchbesprechung schreibt Rolf L. Willaredt: „Und wir dürfen ohne Rücksicht auf Textsorten davon ausgehen, dass er [Eginald Schlattner] seit 88 Jahren wie in einem ereignisvollen Roman lebt und diesen in einer Version für uns festhält. Aber Vorsicht, um mit seinen Worten zu sprechen: ,Die Dinge müssen nicht stimmen, aber stimmig sein sollten sie‘ […]. ,Selbst Worte sollten nicht genötigt werden, wahr zu sein, aber wahrhaftig, das ja!‘ […].“
Nach Rothberg ging im Sommer 2021 auch das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. „Mit Eginald Schlattner möchten wir eine große Persönlichkeit Rumäniens aus dem Kulturkreis der deutschen Minderheit für sein Werk und Wirken ehren. Beide, Werk und Wirken Eginald Schlattners, Siebenbürger Sachse, 1933 in Arad geboren, stehen in ihrer umfassenden Botschaft sinnbildlich für Toleranz und gegenseitigen Respekt zwischen den Kulturen und Ethnien des Landes, für Zivilcourage, Prinzipientreue und unermüdliches Eintreten für europäische Werte und historische Wahrheit“ – so die offizielle Begründung des Ordensvorschlags. Wir freuen uns sehr über die Ehrung unseres Autors und bitten Sie, an unserer Freude teilzunehmen. Feiern Sie also zusammen mit dem Laudator Cord Meier-Klodt, damaliger Botschafter Deutschlands in Rumänien, den Autor Eginald Schlattner, der selbst drei Dankesreden gehalten hat in den drei in Siebenbürgen gesprochenen Sprachen: Rumänisch, Deutsch und Ungarisch. Welch eine Bereicherung, so einem Menschen zuzuhören, der Worte für jeden gefunden hat und sich auch in der jeweilige Sprache ausdrücken kann!
Auf Deutsch zum Beispiel: „Oder schlichter, wie etwa Konrad Adenauer befindet: ,Ehrungen, das ist, wenn die Gerechtigkeit ihren liebenswürdigen Tag hat.‘“
Den rumänischen Gästen verriet er u. a. auch, dass er keinen deutschen Pass habe, weil er darauf vertraue, dass Gott genau hier seine schützende Hand über ihn halte: „Întrebat de ce nu am pașaport german – aș putea – răspund: ,Am încredere că bunul Dumnezeu îmi va purta de grijă aici, ca să fiu ocrotit în cele ale vieţii și la moarte.‘“
Den ungarischen Kollegen und Mitbrüdern sagte er u. a.: „Nos, akkor: integráció – igen, asszimiláció – nem. Vagy rövid bibliai megfogalmazásban – a legfőbb parancsolatként: ,Szeresd felebarátodat, mint önmagadat‘“, übersetzt: „Nun denn: Integration – ja, Assimilation –
nein. Oder in einer kurzen biblischen Formulierung – als oberstes Gebot: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“
Isabel Rauscher, die Botschafterin der Republik Österreich in Rumänien, kennt den Weg nach Rothberg schon lange: „Wenn es nicht schon spät geworden wäre und der Anstand es geboten hätte, Ihre Herzlichkeit nicht überzustrapazieren, würde ich heute noch bei Ihnen im Biedermeierfauteuil sitzen!“, gestand Sie bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Eginald Schlattner im November 2018 und hob hervor: „Im Namen der ,Spätgeborenen‘, der Generationen, die Ihnen folgten und die uns folgen werden, danke ich Ihnen für Ihre wunderbare Sprache und für die Welt, die Sie durch Ihre Sprache und Ihre Erzählungen erhalten haben. Mittels dieser Sprache vermitteln Sie nicht nur eine gelebte Welt, sondern auch ein ganzes Weltbild; dies in einer Zeit, in der ein solches Weltbild oft nicht mehr als ,cool‘ angesehen wird.“
Isabel Rauscher war natürlich auch diesmal dabei und erlaubte uns, ihre damalige Rede zu veröffentlichen. Vielen Dank dafür! Und nicht nur Ihnen, liebe Frau Rauscher, sondern auch allen anderen, die uns ihre Beiträge zur Verfügung gestellt haben! Wir werden uns bei der nächsten Feier unseres Autors wiedersehen. Gründe gibt es genug. Einer davon ist das Erscheinen seines neuesten Romans Schattenspiele
toter Mädchen. Eine Kostprobe daraus rundet unseren Weg nach Rothberg ab – mit dem Versprechen, bald dorthin zurückzukehren.
„Das Leben ist ein Gespräch / In der Dunkelkammer über Glück, / Die Ränder des Da- und Wegseins“: Von der Weltbühne der Literatur grüßt uns Horst Samson mit einigen Gedichten aus seinem neuesten Lyrikband In der Sprache brennt noch Licht. Lesen Sie dazu auch eine ausführliche Buchbesprechung von Wolfgang Schlott.
Im Essay Der Tod ist groß stellt uns Theo Breuer das Buch Den Toten bewachen / Garder le Mort von Jean-Louis Giovannoni vor.
Mit Elmar Schenkels Erinnerung zu Gustave Flauberts 200. Geburtstag, mit einem Text des klassischen georgischen Autors Egnate Ninoschwili und mit einem Essay über dieses Werk sowie mit Peter Frömmigs Gedanken Zum Leben und Schreiben von Pablo Neruda, der sich „zugehörig den Leuten ohne Schule und Schuhe“ sah, hoffen wir,
Ihr Interesse an einigen Leuchttürmen der Literatur wachzuhalten. Aus den Beständen der Weltliteratur haben wir für Sie außerdem Gedichte von Benedikt Dyrlich ausgewählt.
Unser Bücherregal ergänzt die Liste der Buchbesprechungen mit neuen Rezensionen von Harald Gröhler, Wolfgang Schlott, Mark Behrens, Wolfgang Fehse und Widmar Puhl.
„Die Verkennbare. Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie?“, fragt sich Ewart Reder nach seinem Besuch und erzählt uns, was er erlebt hat.
„WAS BLEIBT NOCH VON MIR
nichts als ein Satz / gut beziffert
hier / aus-geschrieben von einer Hand
wie deiner“
So setzt diese Ausgabe ein. Mit einem der besten Dichter Siebenbürgens und des deutschen Sprachraumes: Dieter Schlesak. Beginnen Sie einfach zu lesen. Es lohnt sich. Und glauben Sie mir bitte, das Heft ist aktuell, auch wenn es verspätet erscheint.
Ihr
Traian Pop

• Eginald Schlattner • Auf dem Weg zum Rothberger Pfarrer und Dichter •  Christel Wollmann-Fiedler • Gabriella-Nóra Tar • Cord Meier-Klodt • Christoph Klein • Isabel Rauscher • Rolf L. Willaredt • Horst Samson • Theo Breuer • Elmar Schenkel • Egnate Ninoschwili • Bela Tsipuria • Peter Frömmig • Benedikt Dyrlich • Harald Gröhler • Wolfgang Schlott • Mark Behrens • Wolfgang Fehse • Widmar Puhl • Ewart Reder • Traian Pop •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S. 4

Die Welt und ihre Dichter
Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Dieter Schlesak • Was bleibt noch von mir / S. 9
Dieter Schlesak • Nichtzeit . Auszug aus dem posthum erschienenen Roman Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr / S. 11
Auf dem Weg zum Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner
Eginald Schlattner • Die Zwirngasse . Auszug aus dem Roman Drachenköpfe / S. 21
Christel Wollmann-Fiedler • Mein Sommertag in Rothberg . Ein Gespräch mit dem Pfarrer und Schriftsteller Dr. h.c. Eginald Schlattner / S. 29
Gabriella-Nóra Tar • Zu Eginald Schlattners Roman Drachenköpfe (2021) – Eine literarische Replik auf Iris Wolffs Erzählung Drachenhaus / S. 41
Christoph Klein • Ebenso politisch aktuell wie literarisch bedeutsam: Die Überhöhung des Profanen durch das Mythische / S. 57
Cord Meier-Klodt • Laudatio / S. 69
Eginald Schlattner • Insignien in Siebenbürgen / S. 73
Eginald Schlattner • Gedanken zur Rede der Ordensverleihung – 24.6.2021, Deutsches Konsulat, Hermannstadt / S. 78
Eginald Schlattner • Cuvântarea cu ocazia decernării distincţiei Crucea de merit în rang de cavaler al Ordinului de merit al Republicii Federale Germania, 24.6.2021, Consulat, Sibiu / S. 83
Eginald Schlattner • Eginald Schlattner lelkész, Veresmarti lelkészlak, 2021. június 21 . Eginald Schlattner erdélyi szász lelkészíró magyar nyelvű beszéde a Német Szövetségi Köztársaság Érdemkeresztjének nagyszebeni átadása alkalmából / S. 86
Isabel Rauscher • Wenn es nicht schon spät geworden wäre und der Anstand es geboten hätte, Ihre Herzlichkeit nicht überzustrapazieren, würde ich heute noch bei Ihnen im Biedermeierfauteuil sitzen! / S. 88
Eginald Schlattner • Till Eulenspiegel und die Hampelleute . Auszug aus dem neuen Roman Schattenspiele toter Mädchen / S. 91
Rolf L. Willaredt • Drachenköpfe. Roman im Kontext der Reha­-
bilitierung des Autors und Siebenbürger Sachsen Eginald
Schlattner / S. 103

Horst Samson • Dreizehn Gedichte / S. 119
Theo Breuer • Der Tod ist groß … . Essay / S. 132
Elmar Schenkel • „Ich bin Mystiker und glaube an nichts“. Eine Erinnerung zu Gustave Flauberts 200. Geburtstag / S. 135
Egnate Ninoschwili • Der See von Paliastomi . Prosa / S. 139
Bela Tsipuria • Ein neues Leben für die Erzählungen von Egnate Ninoschwili / S. 158
Peter Frömmig • Verwurzelt und weltoffen . Zum Leben und Schreiben von Pablo Neruda (1904–1973) / S. 173
Benedikt Dyrlich • Sieben Gedichte / S. 177

Bücherregal
Harald Gröhler • Über Milan Hrabals Gedichtbuch Wenn die Fische davonfliegen / S. 184
Wolfgang Schlott • Über Horst Samsons Gedichtbuch In der
Sprache brennt noch Licht / S. 187
Wolfgang Schlott • Über Petru Ilieșus Gedichtbuch Rumänien. Postskriptum. Romania. Post Scriptum / S. 190
Mark Behrens • Über Henry David Thoreaus Buch Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat / S. 193
Wolfgang Fehse • Über Harald Gröhlers Buch Astreines Alibi / S. 195
Widmar Puhl • Über Wolfgang Schlotts Buch Kriminelles und Abwegiges. Skurrile Erzählungen / S. 197

Aus der Kulturszene
Ewart Reder • Die Verkennbare . Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie? / S. 199

MATRIX 3/2014 (37) • 100 Jahre Erster Weltkrieg

M_37_1Seismogramme des Kriegsalltags

Eine Fata Morgana schien die endgültige Fassung dieser MATRIX-Ausgabe zu sein: Sie wuchs und wuchs und wuchs und wir mussten irgendwann STOPP! sagen, sonst hätte sie alle vorstellbaren Rahmen gesprengt. Das 100-jährige Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist eigentlich vorbei, doch angesichts der heutigen Realität sollten wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Es lässt sich nicht ohne Weiteres verdrängen, dass wir Bürger eines Landes sind, das in der Vergangenheit heftig vom Kriegsfiebervirus erwischt wurde und dadurch sich selbst und der Welt unvorstellbares Leid und Schaden zugefügt hat. Dennoch sieht es so aus, als wollten sich unsere Volksvertreter auch bei diesem Anlass trotz des weltweit ausgebrochenen Erinnerungsfiebers eher zurückhalten. Doch das Gedenken an die Tragödie – so unbequem es sein mag – beinhaltet auch eine Chance. Es liegt an uns, diese Gelegenheit zu nützen. Was natürlich nicht leicht ist in Zeiten der Kriegsrhetorik, des Nationalismus, Dschihadismus etc., aber immer noch möglich. So lange, wie uns die Zeit reicht.
Dass durch eine Reihe von peinlichen Pannen und grotesken Lügen, durch eine unglaubliche Mischung von guten und schlechten Absichten, von verborgenem und sichtbarem Willen, über Nacht ein Weltkrieg entstand, ist Gott sei Dank geklärt: nichts Nennenswertes, nichts Ideelles, nichts Zukunftsweisendes dahinter – und trotzdem ein Weltkrieg. Die kleinlichen Querelen, die Nichtigkeiten und die dazugehörige unfähige, aus der Zeit gefallene Diplomatie wirken auf mich sonderbar aktuell. Warum interessiert sich heutzutage niemand für die Haufen von internationalen und nationalen Lügen, von willkürlichen Interpretationen, von ethnozentristischen Gedanken, frage ich immer öfter, ohne eine Antwort zu finden. Deswegen höre ich aber nicht auf, weiterhin zu fragen – weil ich immer noch an Recht, Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit glaube. Ich weiß, ich weiß, auch die Barbarei führt die Argumente „Recht, Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit“ im Munde. Dies entschuldigt aber nicht unser Zögern, Wegsehen und Schweigen. Denn selbst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs haben sich die kriegerischen Handlungen – ob sie Panama, Vietnam, Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Ukraine heißen, um nur einige Desaster aufzulisten – fortgesetzt. Auch die gegenwärtige Isolierung Russlands weckt Befürchtungen. Mehr vielleicht als alle anderen Konflikte, die fast alle Regionen der Welt entzündet haben. Dem Zusammenhang zwischen dem heutigen weltpolitischen Aufrüsten und dem Ersten Weltkrieg wird aber immer noch kaum Beachtung geschenkt. Wegen des größten wirtschaftlichen Erfolgs aller Zeiten – namens Waffenindustrie?
Zeitzeugen der damaligen blutigen Kämpfe gibt es nicht mehr. Die schrecklichen Geschehnisse geraten zunehmend in Vergessenheit. Was bleibt, sind die Schauplätze. Die Wege der Erinnerung 14–18, wie die Franzosen sie genannt haben. Kriegs-Tourismus: Was für eine makabre Beschäftigung, dachte ich, als ich quasi ohne Vorwarnung mitten auf einen solchen Schauplatz der blutigen Stellungskämpfe geriet. Nun weiß ich, dass sich die Gegner in einem Abstand von wenigen Metern gegenüberlagen. Sie haben sich gegenseitig beobachtet, gesehen, gehört. Eigentlich haben sie in diesen engen Stellungen zusammen gelebt, sind hier zusammen gestorben. Wussten sie auch warum?

Klaus Martens schreibt in seinem Essay: „.. uns geht die allzu wenig beachtete literarische Seite der laufenden Diskussionen an, vor allem die Opfer der Kämpfe auf allen Seiten der Fronten: Georg Trakl, Ernst Stadler, Alfred Lichtenstein, August Stramm, Wilfred Owen, Rupert Brooke, Guillaume Apollinaire, Charles Péguy – wir kennen die Namen, diese und viele andere. Aber auch Überlebende wie Gottfried Benn und Ernst Jünger, deren Werke direkt oder indirekt nie davon loskamen.“
Die kleine Werkauswahl ergänzen literarische und historisch-analytische Beiträge von Axel Kutsch, Richard Wagner, Horst Samson, Otto Alscher, Dieter Schlesak, Gabriele Frings, Peter Ettl, Norbert Sternmut, Thomas Kade, Gisela Hemau, Franz Heinz, Katharina Kilzer, Manfred Pricha, Hans Schneiderhans, Peter Frömmig, Sander Wilkens, Rainer Wedler, Barbara Zeizinger, Francisca Ricinski und Charlotte Ueckert – als ein Versuch, uns die damaligen Ereignisse künstlerisch nahezubringen. Dass ein solches Unterfangen nicht einfach ist, trotz (oder wegen?) der 100 Jahre, die dazwischen stehen, beweist die simple Feststellung unseres Autors Frank Milautzcki über Rudolf Börsch: „Ob er in Galizien oder in Frankreich den Tod suchte und fand, bleibt vorerst offen.“
Als Rahmen habe ich einige Fotos ausgewählt – und füge hier als Kommentar hinzu: Was bleibt, ist der Rasen, mit schmucklosen Kreuzen übersät. Einige davon sind aus Metall und schwarz, so sah es der Versailler Vertrag für alle deutschen Gefallenenfriedhöfe vor. Dazwischen Steinstelen für die gefallenen jüdischen Soldaten, die für Deutschland gekämpft haben.

Entgegen allen kriegerischen Handlungen erlauben wir uns weiterhin, an Literatur und Kunst zu glauben. Wir feiern also mit Theo Breuers Essay „Wie eine Lumpensammlerin“ das runde Geburtsdatum Friederike Mayröckers, unser China-Korrespondent Ulrich Bergmann eröffnet seine Reihe „Die Monde der gelben Mitte“ und Horst Waldemar Nägele feiert mit uns den 250. Geburtstag des dänisch-deutschen Dichters und Philosophen Jens Immanuel Baggesen.
Unser Atelier bietet diesmal „An imaginary conversation“ (zwischen Tycho Brahe und Johannes Kepler), das erste Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Jean-Patrick Connerade (pen-name Chaunes) und unserem Redakteur Uli Rothfuss, sowie neue Texte von Jürgen Kross, Martina Hegel, Andreas Noga, Edith Ottschofski und Gerhard Bauer. Der Debütant diese Ausgabe, Thomas Reeh, stellt sich mit einem Prosastück vor: „Es ist alles unwahr oder 10 Liebesbegegnungen“. Jede Menge neue Bücher rezensieren Theo Breuer, Johann Holzner, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss, T. T. Pop, Dieter Mettler, Benedikt M. Trappen und Jo Weiß. Peter Frömmig hat für uns die Ausstellung „Reisen. Fotos von unterwegs“ im Literaturmuseum der Moderne in Marbach angeschaut. Und Aufmerksamkeit verdienen auch die Materialien in unserem Forum, für die Klaus Staeck, Horst Samson und Wolfgang Schlott zeichnen.

Wir wünschen Ihnen – trotz des schwierigen Themas – eine angenehme Lektüre!

T. Pop

Es signiert:

• Barbara Zeizinger • Gabriele Frings • Rudolf Börsch • Wilfred Owen • Georg Trakl • August Stramm • Robert Frost • Richard Wagner • Klaus Staeck  • Horst Samson • Horst Waldemar Nägele • Gisela Hemau • Axel Kutsch • Klaus Martens • Otto Alscher • Dieter Schlesak • Franz Heinz • Rainer Wedler• Manfred Pricha • Norbert Sternmut • Gerhard Bauer • Charlotte Ueckert • Jean-Patrick Connerade/Chaunes • Uli Rothfuss • Peter Frömmig • Peter Ettl • Thomas Kade • Sander Wilkens • Martina Hegel • Edith Ottschofski • Jürgen Kross • Andreas Noga • Ulrich Bergmann • Johann Holzner • Theo Breuer • Jo Weiß • Traian Pop Traian • Benedikt M. Trappen • Hans Schneiderhans • Katharina Kilzer • Francisca Ricinski • Dieter Mettler • Wolfgang Schlott •