MATRIX 3/2021 (65)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

  Was kann ich tun, Gott, um nicht mehr dem nachzuweinen, was war bzw. nicht war oder von dem ich meine, dass es nie sein wird, um mich endlich darauf zu konzentrieren, was mir das Leben bietet – das denke ich gerade und bin sicher: Dieser Gedanke wird nicht so einfach umzusetzen sein.
Irgendwie will ich mit Ihnen meine Freude teilen, die ich am
19. November 2021 im Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf er-
lebt habe. „Sehr geehrte Mitglieder der Jury des Andreas-Gryphius-
Preises, liebe Poesiekollegen, liebe Leser“, so ging es los. „Mamă, tare începe – wow, wie stark“, schreckte ich in der darauf folgenden rheto­rischen Pause während meiner Dankesrede hoch und fuhr fort: „Ich weiß nicht, wie ich die Aufregung ausdrücken soll, die ich empfand, als mich die wundervolle Nachricht erreichte, dass ich in Düsseldorf den Andreas-Gryphius-Preis erhalten werde. Um zu verstehen, was ich empfunden habe, müssen Sie wissen, dass dieser legendäre Preis, benannt nach dem schlesischen Barockdichter – einem vielsprachigen Poeta doctus –, mit dem so bedeutende Autoren wie Reiner Kunze, Rose Ausländer, Siegfried Lenz, Andrzej Szczypiorski oder Jiří Gruša ausgezeichnet wurden, dass dies der erste Literaturpreis ist, der mir in meinem Adoptionsland verliehen wurde.“
„Cu asta s-a aranjat, păi cine mai stă, măi frate, în rând cu Lenz & Co. – damit bin ich etabliert, denn wer, Bruder, reiht sich neben Lenz & Co. ein“, sog ich zusammen mit einer guten Portion frischem Sauerstoff ein, die diesmal echt nötig war, und sprach weiter: „Es stimmt: Ein Literaturpreis allein wird Waffen nie zum Schweigen bringen. Was er aber tut: Er verpflichtet. Mir ist dies bewusst und ich hoffe, die in mich gesetzten Erwartungen nicht zu enttäuschen.“
„Aici chiar că s-a întrecut pe sine – jetzt hat er sich sogar selbst übertroffen“, triumphierte ich kurz, um das Folgende nicht hinauszuzögern: „Diese Auszeichnung widme ich meiner Familie für ihre Geduld und ihr Verständnis sowie den Autoren, Übersetzern, Lek­toren, Redakteuren und Korrektoren, die mit mir konstruktiv
zusammenarbeiten und mit denen ich oft freundschaftlich verbun-
den bin.“
„Klar, denen verdankst du eigentlich alles, was du hast“, machte ich mich klein, um wieder auf den Boden zu kommen. Endlich auf Deutsch und sogar grammatikalisch korrekt, stellte ich fest, während ich von Tränen überwältigt wurde.
So also der Unterzeichner dieses Editorials, damals, als Veranstaltungen noch möglich waren. Denn Corona hat, wie üblich, schon wieder alles auf der Kopf gestellt: Diese Ausgabe sollte schon lange erscheinen, aber seine App zeigte ihm überraschend: „Begegnungen an 1 Tag mit erhöhtem Risiko“. Die Ermüdung scheint seither sein ständiger Begleiter sein zu wollen, man glaubt, der Körper versucht durch Schlaf, Energie aus den alltäglichen Aktivitäten zurückzu­ziehen, um die Abwehrkräfte-Armee zu verstärken.
„Unter diesen Bedingungen schreiben? Alles ist ja vorbei und vergangen, was ich erzählen kann, sogar dieser Traum. Das, was ist, und das, was noch kommen wird, ist kaum zu fassen und zu erzählen! Erzählen ist eigentlich etwas Trauriges, weil der Brunnen der Vergangenheit viel zu tief ist für einen, der den Zugang verpasst hat.“ Das schrieb Dieter Schlesak, nicht ich, auch wenn ich es gerne so formuliert hätte.
Genauso verhält es sich mit den Worten von Christel Wollmann-Fiedler in der Einleitung ihres Interviews mit Eginald Schlattner, weil ich ohne Zögern die Beschreibung des Literaturtourismus unterschreiben könnte, den ich kenne und beispiellos finde nicht nur in Rumänien, sondern in der Welt: „Menschen aus dem Westen Europas und von Übersee, nicht nur deutschsprachige, machen sich auf den Weg, nein, pilgern geradezu ins siebenbürgische Rothberg/Roşia bei Hermannstadt/Sibiu zum Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner, zum alten Pfarrhof von 1762 und zu einer der ältesten Kirchen inmitten der Karpaten, der romanischen Basilika aus dem Jahr 1225. Kein siebenbürgischer Schriftsteller, ob hier in Rumänien oder im Ausland, bekommt so viel literarischen Besuch, Ehre und Bewunderung. Nun, seine Bücher werden in vielen Auflagen produziert, in mehrere Sprachen übersetzt und sogar verfilmt.“
Nach Siebenbürgen also laden wir Sie ein, liebe Leserinnen und liebe Leser, zuerst mit einem Auszug aus dem im Sommer 2021 erschienenen Roman Drachenköpfe. Im Folgenden werden dann dessen vielfältige Facetten von nicht weniger als drei Studien auf insgesamt mehr als 43 Seiten beleuchtet:
– „Zu Eginald Schlattners Roman Drachenköpfe (2021) – Eine literarische Replik auf Iris Wolffs Erzählung Drachenhaus“ von Gabriella-Nóra Tar, die in ihrer literarischen Analyse festhält: „Keinesfalls soll übersehen werden, dass der autodiegetische Erzähler in Drachenköpfe nicht nur Pfarrer, sondern vor allem Schriftsteller, d. h.
ein Künstler ist. Im Roman gelten zuerst seine literarische Lektüre, danach sein eigenes literarisches Werk als Medien, die eigene Vergangenheit analytisch bzw. kreativ zu bewältigen und somit implizite auch die rumäniendeutsche Geschichte bzw. Gegenwart zu erschließen.“
– „Ebenso politisch aktuell wie literarisch bedeutsam: Die Überhöhung des Profanen durch das Mythische“ von Christoph Klein, der bilanziert: „Das Buch schließt seltsamerweise mit einem Wort, das Anita Mirjam ihm Jahre zuvor, 1978, auf der Galerie des Pfarrhauses in Semlak zugerufen hatte, zum Abschied, ohne ihm ihr Antlitz zu zeigen. Es heißt wörtlich: ,Ich signierte weiterhin Bücher im wechselnden Licht von Handys, Taschenlampen und Feuerzeugen […].
Und erahnte, was es heißen könnte: ,Du bist für das Antlitz des anderen verantwortlich.‘ […] Ein Wort Mircea Eliades sei am Ende zitiert wie ein Schlüssel: ,… die Wahrheit der Geschichte beginnt … bei der symbolischen Bedeutung der Ereignisse‘ […].“
– „Drachenköpfe. Roman im Kontext der Rehabilitierung des Autors und Siebenbürger Sachsen Eginald Schlattner“ von Rolf L. Willaredt. Zum Schluss seiner Buchbesprechung schreibt Rolf L. Willaredt: „Und wir dürfen ohne Rücksicht auf Textsorten davon ausgehen, dass er [Eginald Schlattner] seit 88 Jahren wie in einem ereignisvollen Roman lebt und diesen in einer Version für uns festhält. Aber Vorsicht, um mit seinen Worten zu sprechen: ,Die Dinge müssen nicht stimmen, aber stimmig sein sollten sie‘ […]. ,Selbst Worte sollten nicht genötigt werden, wahr zu sein, aber wahrhaftig, das ja!‘ […].“
Nach Rothberg ging im Sommer 2021 auch das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. „Mit Eginald Schlattner möchten wir eine große Persönlichkeit Rumäniens aus dem Kulturkreis der deutschen Minderheit für sein Werk und Wirken ehren. Beide, Werk und Wirken Eginald Schlattners, Siebenbürger Sachse, 1933 in Arad geboren, stehen in ihrer umfassenden Botschaft sinnbildlich für Toleranz und gegenseitigen Respekt zwischen den Kulturen und Ethnien des Landes, für Zivilcourage, Prinzipientreue und unermüdliches Eintreten für europäische Werte und historische Wahrheit“ – so die offizielle Begründung des Ordensvorschlags. Wir freuen uns sehr über die Ehrung unseres Autors und bitten Sie, an unserer Freude teilzunehmen. Feiern Sie also zusammen mit dem Laudator Cord Meier-Klodt, damaliger Botschafter Deutschlands in Rumänien, den Autor Eginald Schlattner, der selbst drei Dankesreden gehalten hat in den drei in Siebenbürgen gesprochenen Sprachen: Rumänisch, Deutsch und Ungarisch. Welch eine Bereicherung, so einem Menschen zuzuhören, der Worte für jeden gefunden hat und sich auch in der jeweilige Sprache ausdrücken kann!
Auf Deutsch zum Beispiel: „Oder schlichter, wie etwa Konrad Adenauer befindet: ,Ehrungen, das ist, wenn die Gerechtigkeit ihren liebenswürdigen Tag hat.‘“
Den rumänischen Gästen verriet er u. a. auch, dass er keinen deutschen Pass habe, weil er darauf vertraue, dass Gott genau hier seine schützende Hand über ihn halte: „Întrebat de ce nu am pașaport german – aș putea – răspund: ,Am încredere că bunul Dumnezeu îmi va purta de grijă aici, ca să fiu ocrotit în cele ale vieţii și la moarte.‘“
Den ungarischen Kollegen und Mitbrüdern sagte er u. a.: „Nos, akkor: integráció – igen, asszimiláció – nem. Vagy rövid bibliai megfogalmazásban – a legfőbb parancsolatként: ,Szeresd felebarátodat, mint önmagadat‘“, übersetzt: „Nun denn: Integration – ja, Assimilation –
nein. Oder in einer kurzen biblischen Formulierung – als oberstes Gebot: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“
Isabel Rauscher, die Botschafterin der Republik Österreich in Rumänien, kennt den Weg nach Rothberg schon lange: „Wenn es nicht schon spät geworden wäre und der Anstand es geboten hätte, Ihre Herzlichkeit nicht überzustrapazieren, würde ich heute noch bei Ihnen im Biedermeierfauteuil sitzen!“, gestand Sie bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Eginald Schlattner im November 2018 und hob hervor: „Im Namen der ,Spätgeborenen‘, der Generationen, die Ihnen folgten und die uns folgen werden, danke ich Ihnen für Ihre wunderbare Sprache und für die Welt, die Sie durch Ihre Sprache und Ihre Erzählungen erhalten haben. Mittels dieser Sprache vermitteln Sie nicht nur eine gelebte Welt, sondern auch ein ganzes Weltbild; dies in einer Zeit, in der ein solches Weltbild oft nicht mehr als ,cool‘ angesehen wird.“
Isabel Rauscher war natürlich auch diesmal dabei und erlaubte uns, ihre damalige Rede zu veröffentlichen. Vielen Dank dafür! Und nicht nur Ihnen, liebe Frau Rauscher, sondern auch allen anderen, die uns ihre Beiträge zur Verfügung gestellt haben! Wir werden uns bei der nächsten Feier unseres Autors wiedersehen. Gründe gibt es genug. Einer davon ist das Erscheinen seines neuesten Romans Schattenspiele
toter Mädchen. Eine Kostprobe daraus rundet unseren Weg nach Rothberg ab – mit dem Versprechen, bald dorthin zurückzukehren.
„Das Leben ist ein Gespräch / In der Dunkelkammer über Glück, / Die Ränder des Da- und Wegseins“: Von der Weltbühne der Literatur grüßt uns Horst Samson mit einigen Gedichten aus seinem neuesten Lyrikband In der Sprache brennt noch Licht. Lesen Sie dazu auch eine ausführliche Buchbesprechung von Wolfgang Schlott.
Im Essay Der Tod ist groß stellt uns Theo Breuer das Buch Den Toten bewachen / Garder le Mort von Jean-Louis Giovannoni vor.
Mit Elmar Schenkels Erinnerung zu Gustave Flauberts 200. Geburtstag, mit einem Text des klassischen georgischen Autors Egnate Ninoschwili und mit einem Essay über dieses Werk sowie mit Peter Frömmigs Gedanken Zum Leben und Schreiben von Pablo Neruda, der sich „zugehörig den Leuten ohne Schule und Schuhe“ sah, hoffen wir,
Ihr Interesse an einigen Leuchttürmen der Literatur wachzuhalten. Aus den Beständen der Weltliteratur haben wir für Sie außerdem Gedichte von Benedikt Dyrlich ausgewählt.
Unser Bücherregal ergänzt die Liste der Buchbesprechungen mit neuen Rezensionen von Harald Gröhler, Wolfgang Schlott, Mark Behrens, Wolfgang Fehse und Widmar Puhl.
„Die Verkennbare. Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie?“, fragt sich Ewart Reder nach seinem Besuch und erzählt uns, was er erlebt hat.
„WAS BLEIBT NOCH VON MIR
nichts als ein Satz / gut beziffert
hier / aus-geschrieben von einer Hand
wie deiner“
So setzt diese Ausgabe ein. Mit einem der besten Dichter Siebenbürgens und des deutschen Sprachraumes: Dieter Schlesak. Beginnen Sie einfach zu lesen. Es lohnt sich. Und glauben Sie mir bitte, das Heft ist aktuell, auch wenn es verspätet erscheint.
Ihr
Traian Pop

• Eginald Schlattner • Auf dem Weg zum Rothberger Pfarrer und Dichter •  Christel Wollmann-Fiedler • Gabriella-Nóra Tar • Cord Meier-Klodt • Christoph Klein • Isabel Rauscher • Rolf L. Willaredt • Horst Samson • Theo Breuer • Elmar Schenkel • Egnate Ninoschwili • Bela Tsipuria • Peter Frömmig • Benedikt Dyrlich • Harald Gröhler • Wolfgang Schlott • Mark Behrens • Wolfgang Fehse • Widmar Puhl • Ewart Reder • Traian Pop •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S. 4

Die Welt und ihre Dichter
Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Dieter Schlesak • Was bleibt noch von mir / S. 9
Dieter Schlesak • Nichtzeit . Auszug aus dem posthum erschienenen Roman Das Narbenwahre und die Kunst der Rückkehr / S. 11
Auf dem Weg zum Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner
Eginald Schlattner • Die Zwirngasse . Auszug aus dem Roman Drachenköpfe / S. 21
Christel Wollmann-Fiedler • Mein Sommertag in Rothberg . Ein Gespräch mit dem Pfarrer und Schriftsteller Dr. h.c. Eginald Schlattner / S. 29
Gabriella-Nóra Tar • Zu Eginald Schlattners Roman Drachenköpfe (2021) – Eine literarische Replik auf Iris Wolffs Erzählung Drachenhaus / S. 41
Christoph Klein • Ebenso politisch aktuell wie literarisch bedeutsam: Die Überhöhung des Profanen durch das Mythische / S. 57
Cord Meier-Klodt • Laudatio / S. 69
Eginald Schlattner • Insignien in Siebenbürgen / S. 73
Eginald Schlattner • Gedanken zur Rede der Ordensverleihung – 24.6.2021, Deutsches Konsulat, Hermannstadt / S. 78
Eginald Schlattner • Cuvântarea cu ocazia decernării distincţiei Crucea de merit în rang de cavaler al Ordinului de merit al Republicii Federale Germania, 24.6.2021, Consulat, Sibiu / S. 83
Eginald Schlattner • Eginald Schlattner lelkész, Veresmarti lelkészlak, 2021. június 21 . Eginald Schlattner erdélyi szász lelkészíró magyar nyelvű beszéde a Német Szövetségi Köztársaság Érdemkeresztjének nagyszebeni átadása alkalmából / S. 86
Isabel Rauscher • Wenn es nicht schon spät geworden wäre und der Anstand es geboten hätte, Ihre Herzlichkeit nicht überzustrapazieren, würde ich heute noch bei Ihnen im Biedermeierfauteuil sitzen! / S. 88
Eginald Schlattner • Till Eulenspiegel und die Hampelleute . Auszug aus dem neuen Roman Schattenspiele toter Mädchen / S. 91
Rolf L. Willaredt • Drachenköpfe. Roman im Kontext der Reha­-
bilitierung des Autors und Siebenbürger Sachsen Eginald
Schlattner / S. 103

Horst Samson • Dreizehn Gedichte / S. 119
Theo Breuer • Der Tod ist groß … . Essay / S. 132
Elmar Schenkel • „Ich bin Mystiker und glaube an nichts“. Eine Erinnerung zu Gustave Flauberts 200. Geburtstag / S. 135
Egnate Ninoschwili • Der See von Paliastomi . Prosa / S. 139
Bela Tsipuria • Ein neues Leben für die Erzählungen von Egnate Ninoschwili / S. 158
Peter Frömmig • Verwurzelt und weltoffen . Zum Leben und Schreiben von Pablo Neruda (1904–1973) / S. 173
Benedikt Dyrlich • Sieben Gedichte / S. 177

Bücherregal
Harald Gröhler • Über Milan Hrabals Gedichtbuch Wenn die Fische davonfliegen / S. 184
Wolfgang Schlott • Über Horst Samsons Gedichtbuch In der
Sprache brennt noch Licht / S. 187
Wolfgang Schlott • Über Petru Ilieșus Gedichtbuch Rumänien. Postskriptum. Romania. Post Scriptum / S. 190
Mark Behrens • Über Henry David Thoreaus Buch Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat / S. 193
Wolfgang Fehse • Über Harald Gröhlers Buch Astreines Alibi / S. 195
Widmar Puhl • Über Wolfgang Schlotts Buch Kriminelles und Abwegiges. Skurrile Erzählungen / S. 197

Aus der Kulturszene
Ewart Reder • Die Verkennbare . Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie? / S. 199

MATRIX 2/2021 (64)

MATRIX 2/2021 (64)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Ich mag keinen Exhibitionismus, aber ich habe trotzdem das Bedürfnis, die Kleider meines bescheidenen Ich wieder einmal fallen zu lassen. Des bescheidenen Ich, das so verrückt geworden ist, als Autor, Redakteur, Kolumnist – und was es sich sonst erträumt hat in seiner parallelen Welt – erneut vorstellig zu werden. Weil ich, wie schon so oft gesagt, zu danken habe, dass es mir erlaubt ist, dabei zu sein.

So wie mein Vater, der als Pilot für den Flug und die Passagiere verantwortlich war, es getan hat. Von ihm habe ich einen Traum geerbt: wie schön es sein kann, sich dem Willen des Himmels zu überlassen, auch wenn man Seiner Majestät dem Himmel manchmal aus der Hand rutscht. Genauso wie ich von ihm geerbt habe, dem Wunsch nachzugeben, selbst zu erfahren, was es heißt, den Flug für andere vorzubereiten, für ein Flugzeug und seine Passagieren einzustehen. Und das mehrmals wöchentlich, egal ob tags oder nachts, egal ob sommers oder winters, egal ob bei Hitze, Regen oder Schneesturm.

Eine Art, ein Flugzeug mit Passagieren anvertraut bekommen zu haben, scheint auch der Versuch zu sein, eine Literaturzeitschrift am Leben zu erhalten in einer Zeit, als Corona-Pandemie und Klimakatastrophe jedem Flugversuch entgegenstanden. Stimmt, unter Quarantäne gestellt zu werden, ist nicht gerade lustig. Um nicht missverstanden zu werden: Ich gehöre zu denen, die Impfen als einen Akt der Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft sehen. Ich sage dies nicht, um den Überraschungseffekt, der die Passagiere dieses Fluges erwartet, zu verderben, sondern um eine Wahrheit zu wiederholen, die jeder kennt und die niemand hören möchte: Jene, ohne die eine Pandemie und eine Klimakatastrophe nicht existieren würden, sind wir. Nur wir, unabhängig davon, ob wir uns an Bord der Literatur und Kultur begegnen, für die es immer enger wird, oder – im Gegenteil – von deren Existenz keine Ahnung haben bzw. davon nichts wissen wollen.

Genauso wie die Literatur selbst ein Virus ist, gegen das weder Interesse noch Ignoranz, weder Gut- noch Böswilligkeit, weder Armut noch Reichtum, weder persönliche Schwäche noch politische oder militärische Macht und auch nicht die Literatur selbst, die sich so oft für Pfennige prostituiert hat, bisher ein Gegenmittel gefunden haben. Trotz unzähliger Versuche. Von der Inhaftierung bis zum Verbot, ja bis zur raffinierten wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung.

Dass sich hinter der wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung von Pandemie und Klimakatastrophe auch eine unfaire Art, mit Literatur umzugehen, verbirgt, ist längst keine Neuentdeckung mehr. Genauso wie die politisch korrekte Behandlung der Literatur eine Katastrophe für Literatur selbst ist. Wenn immer mehr „Literaturfreunde“ sich berechtigt fühlen, mir unbedingt beizubringen, dass z. B. Schneewittchen von Rassismus und Diskriminierung oder Rotkäppchen von Sexismus geprägt seien.
Soll mein Ich, obwohl es zu seiner Männlichkeit steht, aber nicht an Sex denkt, wenn es sich an Rotkäppchen erinnert, soll mein Ich dieses wunderbare Märchen mit seinen Lehren über Gut und Böse, über Naivität und Realität, über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, das meine Kindheit begleitet hat, einfach vergessen? Und Schneewittchen zukünftig außer Acht lassen? Muss ich nun annehmen, dass das wirtschaftlich und politisch korrekte Benehmen uns selbst erfasst hat? Erfasst nicht, aber eingeholt schon, flüstert mir eine berühmte Romanfigur ins Ohr.

Pragmatisch wäre also, in das Flugzeug, das ich unbedingt in Betrieb halten möchte, die Geimpften, Genesenen oder Nicht-Infizierten einsteigen zu lassen. Da ich aber mit Pragmatismus nichts am Hut habe, wähle ich die Passagiere immer noch nach Kriterien aus, die ich mir selbst angesichts der allgemeinen Befindlichkeiten kaum einzugestehen wage. Ist das ein Zeichen dafür, dass meine Finger voller Viren sind? Trotz des Versuchs eines EU-Werbespots, mir beizubringen, wie ich meine Hände korrekt waschen muss? Gott sei Dank drängt sich nicht alles als Vorschrift auf, manches ist nur als Geschenk zu bekommen …
Denn was hätte die Dame aus dem Werbespot mit der Tatsache anfangen können, das z. B. unser georgischer Autor Dato Barbakadse eine „türkische Pizza“ isst „in einem ärmlichen Café in Kopenhagen, Hauptstadt Österreichs / mit ein paar nicht so schlechten Aussichten auf den Seine-Fluss“? Hätte sie eine Probe an die Behörde geschickt, um die Virenbelastung festzustellen?
Und wie hätte das RKI die Tatsache eingestuft, dass Christa Wißkirchen „Vatermutter“ sagt statt „Mamapapa“ und „Erzeuger“ statt „Eltern“ und „Projektion“ statt „Liebe“ und „System“ statt „Schule“ und so weiter und so weiter?

Europa hätte bestimmt Selbstanzeige erstattet, wäre aus dem Zentrum Zentraleuropas zu ihr gedrungen: „Die Anarchisten haben ihre Knallfrösche vergessen (und die Fahnenträger laufen ohne Fahnen / einzeln über den leeren Platz / wo der Volksredner von einer Säule herab / per Liveschaltung seine Zuhörer anfleht / nicht das Haus zu verlassen.)“, wie Thomas Böhme uns gerade mitteilt, während Michael Denhoff von countertimecounter sagt, dass die Komposition immer lebendiger werde trotz der Absicht, der mittlerweile so genannten ,Corona-Krise‘ (die in seiner Wahrnehmung vielmehr eine globale Gesellschafts- und Systemkrise – mit in mancherlei Hinsicht geradezu kafkaesken Zügen – geworden sei) keinen Zutritt in seine künstlerische Arbeit zu erlauben.

Der Gemeinplatz ist allseits bekannt: Was soll der Träumer, wenn heute Pragmatiker und Problemlöser gefragt sind? Wer glaubt im Ernst, dass Lawrenti Ardasiani kein Träumer war, als er in Tiflis die Verwandlung und Europäisierung mit all ihren karnevalesken Zügen akribisch beobachtet und literarisch gestaltet hat? Man könnte auch meinen, Matthias Buth wäre ein Verwalter der Ungerechtigkeit, die immer noch unsere Zeit prägt, Barbara Zeizinger und Rainer Wedler wären Puppenspieler, die sich selbst manövrieren, Silvia Schreiber eine unsichtbare Mitbewohnerin in unseren Wohnungen, Körpern, Gedanken. Und die Rezensenten: viel zu indiskrete Leser, die viel zu diskret über die eigenen Entdeckungen berichten. Den Editorial-Unterzeichner sollte man lieber vergessen: Er spottet jeder Vorstellung von gesundem Menschenverstand. Der einzige Zeitzeuge dieser Ausgabe, der das Schreiben zu seinem Hauptberuf gemacht hat, Hans Todt, mahnt: „In der heutigen Zeit des Internets finde ich es wichtig, dass junge Menschen überhaupt lesen.“

So könne aber keine Identität als Literaturgemeinde entstehen, die integrieren soll statt ausschließen, meldet sich die schon erwähnte Romanfigur zu Wort und fügt hinzu: Dieser Flug findet bestimmt nicht mehr statt. Doch, antworte ich, während die unentschlossene Jahreszeit die Unterwäsche von Rotkäppchen in meinem Handgepäck sucht, nachdem sie mir den Reisespiegel überreicht hat, in dem Schneewittchen sich schminkte, damit ich mich selbst davon überzeugen kann, dass ihr Negativ-Test gefälscht war. Ich finde aber keinen Grund zu feiern, obwohl mein Ich mich aus dem Spiegel ohne FFP2-Maske anstarrt.

Ich halte ihm das Blatt Papier unter die Nase, auf dem ich gerade begonnen habe, den Leitartikel dieser Ausgabe zu schreiben:

„… ich werde dich nie wiedersehen. So viele Tode / warten auf dich“, schreit Matthias Buth mit einem Vers von Adam Zagajewski, „und dann / der tod / zu jeglicher schönheit entschlossen“, zitiert er weiter, diesmal aus einem Gedicht von SAID. „Ruf leise: Strudirella. Wenn dann eine Nixe aus dem Wasser schaut, ist sie deine Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßtante“, antwortet ihm Herwig Haupt. „Auf einem Bild fährst Du unter Wasser mit dem Rad zur Kirche, liebe Irene Klafke“, denkt Christine Kappe, während sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg zur Trauerfeier macht. Wollten sie vielleicht Strudirella treffen?

Eine gute Reise hätte ich allen Entschwundenen wünschen wollen, aber meine Stimme macht nicht mit. Ich bin jedoch sicher, dass sie mich hören. Und selbst wenn es nicht so sein sollte, ist es wichtig für mich und Sie, die diese Zeilen lesen, das zu glauben.

Es ist bereits Oktober und die MATRIX-Sommerausgabe endlich druckreif …

Traian Pop

• Dato Barbakadze • Christa Wißkirchen • Thomas Böhme • Michael Denhoff • Lawrenti Ardasiani • Bela Tsipuria • Matthias Buth • Herwig Haupt • Ulrich Bergmann • Christine Kappe • Irene Klaffke • Rainer Wedler • Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen? • Hans Todt • Barbara Zeizinger • Silvia Schreiber • Christel Wollmann-Fiedler • Wolfgang Schlott • Tania Gensfett • Uli Rothfuss • Katharina Kilzer • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Traian Pop •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Dato Barbakadse • genius loci / S. 9

Christa Wißkirchen • Sechs Gedichte / S. 12
Thomas Böhme • Fünf Gedichte / S. 18
Michael Denhoff • countertimecounter / S. 26
Dato Barbakadse • 64 Haiku / S. 33
Luka Bakradse • Haiku-Kränze / S. 47
Beka Barkaia • Die kombinatorische Poesie Akira Mikitos / S. 49
Lawrenti Ardasiani • Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili . Auszug / S. 53
Bela Tsipuria • Verwandlung, Europäisierung und Karnevalität von Solomon Isakitsch und Tiflis / S. 65
Matthias Buth • Lemberg ist Poesie – wie alle Heimat . Zum Tod von Adam Zagajewski / S. 79
Matthias Buth •Auf dem Rückweg vom Tod . In Deutschlands Sprache . In Memoriam SAID / S. 83
Herwig Haupt • Zwölf Gedichte / S. 89
Herwig Haupt • Das Märchen vom Nixenstein . Prosa / S. 104
Ulrich Bergmann • In memoriam Herwig Haupt / S. 119
Christine Kappe • Irene Klaffke, bildende Künstlerin, 1945 – 2021 – ein Nachruf in Briefform / S. 123
Rainer Wedler • Die Versuche des Rudolph Anton R. . Auszug / S. 127
Barbara Zeizinger • Herzwurzeln / S. 145

Zeitgeschichte
Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen?
Hans Todt • Ich kam aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Cherbourg und stand ohne alles da / S. 157

Atelier
Silvia Schreiber • Du siehst mich nicht . Prosa / S. 160

Bücherregal
Christel Wollmann-Fiedler • Die Reise des Wasserzeichens / S. 177
Wolfgang Schlott • Dato Turaschwili, Das andere Amsterdam / S. 179
Tania Gensfett • Die dämmernde außerterrestrische Leiter ins All . Gedichte von Ágnes Nemes Nagy (1922-1991) / S. 181
Uli Rothfuss • Kultur und Freiheit . Ein Buch von Roland Bernecker
und Ronald Grätz (Hg.) / S. 185
Matthias Buth • Der Worterheller aus Rumänien . Gott weiß mich hier. Radu Carp im Gespräch mit Eginald Schlattner / S. 187
Matthias Buth • Ännchen singt weiter, nicht nur in Königsberg . Klaus Ferentschik, Kalininberg & Königsgrad: Große Miniaturen / S. 191
Katharina Kilzer • Am Ende des Tunnels Licht – Tamara Labas’ Gedichtband Durst der Krieger – Liebesgedichte / S. 194
Stefanie Golisch • Es geht immer weiter. Zu Dato Barbakadses Und so weiter. Sieben Haiku-Kränze / S. 197
Dieter Mettler • Rainer Wedler, Die Versuche des Rudolph Anton R. / S. 199

MATRIX 4/2014 (38) • Esma Oniani

M38Was Sie gerade lesen, sind nur geklonte/geklaute Zeilen aus einem langen Brief an einen Kulturminister, der vor etwa drei Wochen an den Börsenverein sowie einige Zeitungen ging.
Eine Reaktion darauf habe ich nicht mitbekommen, deshalb denke ich, dass selbst eine Skandalentscheidung hinsichtlich einer Preisverleihung nicht so viel graues Licht werfen wie eine noch viel grauere literarische Landschaft schlucken kann. Es ist unerklärlich, schier unglaublich, aber trotzdem wahr, was da – wieder einmal, muss man sagen – passiert ist.

Ich gehe weder von gehörigem Unwissen noch von hochgradigem Desinteresse der Juroren aus und genauso wenig wie gezielter Korruption, obwohl es ganz danach aussieht, so abwegig ist deren ,Richtspruch‘. Da wird die Literatur förmlich vom hohen Gerüst gestürzt und ein Popanz von Verlag als Polier auf die Bretter weit über den Köpfen projiziert. Was für eine Kulturschande!

Diese Entscheidung Jahr für Jahr Ignoranten überlassen? Wie lange soll das unwidersprochen fortdauern? Künftig sollten Sachverständige in diese Entscheidung aktiv eingebunden sein, anstatt die Köpfe in den Sand zu stecken und so haarsträubende Verdikte zu akzeptieren, wenn Dichterland und öffentliche Gelder beteiligt sind.

Nun, da die Katze aus dem Sack ist und tot im Dreck liegt, sind Kreativität und offensiver Umgang mit solch grober Fehlentscheidung gefragt, will heißen, der Geschädigte hat eine Wiedergutmachung für den zugefügten Schmerz und die ungerecht erlittene Schmach verdient, und sei es auch nur in Form einer Entschuldigung. Am segensreichsten wäre es freilich für die Literatur des schönen, sich mit einer wahrlich großen dichterischen Vergangenheit schmückenden Ländle, ein rühmliches Projekt zu fördern anstatt eines belanglosen – man höre und staune – „mit Buchideen zum amerikanischen Transzendentalismus“, was immer das sein mag.

Dass das Kulturministerium da nicht rebelliert, sondern mitspielt, ist dabei mehr als nur erstaunlich.
Dass das verschlafene Leitungsgremium des dichterländlichen Verbandes deutscher Schriftsteller da nicht kritisch seine Stimme erhebt, ist die nächste Katastrophe.

„Nun, da die Katze aus dem Sack ist und tot im Dreck liegt“, wollte ich von Editorial, Zeitschrift und Literatur nichts mehr wissen. Wolle aber und mache das, wer kann …

Ich bin mächtig, ich bin nichts…

Eines allerdings sollte dem Literaturbetrieb niemand ankreiden: dass man sich nicht ausreichend mit Georgiens literarischer Landschaft auseinandergesetzt habe. Als einen ersten Tropfen auf den heißen Stein sehen wir daher den Versuch, eine Grande Dame der georgischen Literatur und Kunst vorzustellen: Esma Oniani. Jörg Alexander Henle erinnert sich an seine erste Begegnung mit deren bildkünstlerischem Werk: Ein Feuerwerk in Rot empfing den Besucher, der von der Straße in die Gemäldegalerie eintrat. (…) Die Bilder von Esma Oniani waren Flammen, die Wasser nicht löschen konnte. Was sie ausstrahlten, war Kraft. Kraft und Zärtlichkeit. 60 Jahre alt war die Künstlerin, die 1999 starb. Wir denken an „Blau“, wenn wir den Namen Yves Klein hören. Von nun an werde ich an Esma Oniani denken, wenn ich „Rot“ höre. Wir laden Sie ein, die georgische Schriftstellerin und Malerin kennenzulernen: mit Gedichten, Gedanken über die Poesie, Zeichnungen und Bildern ab Seite 7.

 »Fetzchen« ∙ It’s Mayröcker Time

Mit Ștefan Aug. Doinaș wollen wir der deutschsprachigen Leserschaft den Blick ins Werk eines der prominenten Akteure der gegenwärtigen Literatur aus Rumänien vermitteln. Mit einem Essay von Theo Breuer feiern wir Friederike Mayröcker, eine der markantesten literarischen Stimmen der heutigen Zeit, die am 20. Dezember 90 Jahre jung wird.

Die Monde der gelben Mitte

Unser China-Korrespondent Ulrich Bergmann berichtet in seiner Reihe „Die Monde der gelben Mitte“ über „Qingdao – eine neue Welt und drei chinesische Parabeln“. Das Atelier präsentiert Gedichte von Rainer Maria Gassen, Wolfgang Schlott und Elke Engelhardt sowie Prosatexte von Mark Behrens, Sabine Bentler und Alex Judea, dazu einen Theaterstück-Auschnitt von Christian Knieps.
Das Bücherregal dieser Ausgabe schmücken aufschlussreiche Rezensionen. Es signieren: Edith Ottschofski, Wolfgang Schlott, Rainer Wedler, Uli Rothfuss, Willi van Hengel, Klaus Martens, Elke Engelhardt, Dieter Mettler und Stefanie Golisch. Wolfgang Schlott besuchte Yuri Alberts Ausstellung im Bremer Museum für moderne Kunst, Weserburg. Und Barbara Zeizinger berichtet im Forum über unsere Präsenz auf der Frankfurter Buchmesse 2014 sowie über die Verleihung des Gerhard-Beier-Preises an unseren Mitstreiter Horst Samson.

Liebe Leserinnen und Leser, falls ich Sie mit meinen einleitenden Gedanken belastet oder sogar belästigt haben sollte, tut mir das leid, aber ich denke, dass eine freie Meinungsäußerung unserem Literaturleben nicht schaden kann. Mag sein, dass nicht alles so grau ist, wie es manchmal aussieht. Doch nichts zu sagen, das bringt nichts. Sich aber über irgendwelche Entscheidungen einiger Preisrichter zu ärgern, statt sich mit Literatur und Kunst zu befassen, das ist auch nicht richtig – das gebe ich an dieser Stelle offen zu. Es gibt Besseres zu tun.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine gute, versöhnliche Weihnachtszeit und einen gelungenen Start ins neue Jahr!

Herzlich,
Traian Pop

Es signiert:

• Esma Oniani • Dominik Irtenkauf • Jörg A. Henle • Ștefan Aug. Doinaș • Theo Breuer • Rainer Maria Gassen • Sabine Bentler • Uli Rothfuss • Mark Behrens • Elke Engelhardt • Rewas Twaradse • Edith Ottschofski • Ulrich Bergmann • Willi van Hengel • Rainer Wedler • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Wolfgang Schlott • Alex Judea • Christian Knieps • Traian Pop • Klaus Martens • Barbara Zeizinger •

Matrix 3/2015 (41) • Nikolaus Berwanger


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…Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei), schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

Nikolaus Berwanger war damals für mich kein Unbekannter, aber er zählte nicht zu jenen, an die ich dachte, als ich am Schluss der Preisverleihung des Schriftstellerverbandes meinen Freund, den berühmten Literaturhistoriker und Kritiker Cornel Ungureanu, nach den nicht anwesenden deutschsprachigen Autoren fragte, ohne eine Antwort zu erwarten, denn allen war bereits klar, „dass die Deutschen uns für eine bessere Welt verlassen“: Den Anfang hatte doch schon der große Protektor Berwanger selbst gemacht. Ich war damals von den Texten der deutschen Kollegen begeistert – ohne Deutsch zu können –, da sie zum Großteil als Interlinearversionen für mich zugänglich waren. Dennoch wusste ich, dass sich hinter Berwangers prächtiger Gestalt, die mir ab und zu – dank meines Nebenjobs bei einer Literaturzeitschrift – über den Weg lief, viel mehr verbarg, als von außen zu sehen war: Mundartschriftsteller und höherer Parteifunktionär – echte Schimpfworte für uns, die wir gegen die Tradition und die Parteilinie schwammen –, dessen Position (mit den dazugehörigen Beziehungen) ihm ermöglichte, alles zu erledigen; ein Opportunist, der sowohl von den Deutschen (Westen inklusive) als auch von den Rumänen alles verlangte und bekam. Was für ein Kurzschluss, was für ein Irrtum!
Seine Texte sowie die Aussagen vieler Zeitzeugen, die Horst Samson – de facto Herausgeber dieser MATRIX-Ausgabe – hier gesammelt hat, bestätigen nun nicht nur, wie wichtig für mich und meine rumänischen, ungarischen, serbokroatischen Kollegen der Kontakt zu den deutschsprachigen war (lesen Sie dazu die Beiträge von Mária Pongrácz, Ildico Achimescu, Pia Brînzeu), sondern auch, dass ich ein besonders großes Glück gehabt habe, in der Nähe solcher Persönlichkeiten zu leben. Nun, da Nikolaus Berwanger in diesen Tagen 80 Jahre alt geworden wäre, versuchen wir – wie Richard Wagner, einer der besten Schriftsteller, die ich kenne, schreibt –, „etwas in Gang zu setzen“: „Es geht auch um die Lehren, die aus dem Blick auf das Leben eines Nikolaus Berwanger zu ziehen sind. Wenn ein Berwanger im Zeichen der Kontrolle und des Verbots etwas in Gang setzen konnte, so sollten auch wir, die wir jetzt im Zeichen der Verführung leben, der Manipulation, etwas bewegen können.“
Sie werden es uns bestimmt nachsehen, dass dieses Heft so umfangreich geworden ist – doch wenn wir alles, was wir zunächst sammelten, veröffentlicht hätten, wäre es mehr als doppelt so dick geworden. Wir hoffen, dass wir mithilfe der Texte von Nikolaus Berwanger, von den schon genannten beiden Autoren sowie von Karin Berwanger, Paul Schuster, Sigrid Eckert-Berwanger, Walter Engel, Eduard Schneider, Annemarie Podlipny-Hehn, Annemarie Schuller, Luzian Geier, Heinrich Lay, Hans Stemper oder Halrun Reinholz – neben Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern haben sich auch Verwandte, Bekannte, Freunde und Leser zu Wort gemeldet – „etwas bewegen können“.

»Auswertung der Flugdaten« · Notizen zu Thomas Kling

Theo Breuer erinnert mit seinen „Notizen zu Thomas Kling“ an den vor zehn Jahren verstorbenen Dichter. Anlässlich von Axel Kutschs 70. Geburtstag am 16. Mai 2015 veröffentlichen wir – von Theo Breuer ausgewählt – sieben Gedichte aus „Versflug“, dem jüngst erschienenen neuen Gedichtband. Herzlichen Glückwunsch, Axel Kutsch! Und unser kürzlich gefeiertes Geburtstagskind Dieter P. Meier-Lenz stellt uns Lola vor: in einem Gespräch und acht Gedichten.

Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte

Mit „Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte“ sucht Ulrich Bergmann uns das von ihm erlebte China nahezubringen. Und Christine Kappe, Rainer Wedler, Eric Giebel, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss und Stefanie Golisch runden diese Ausgabe mit Essays und Bücherbesprechungen ab.

Am 13. April starb Günter Grass, kurz nachdem er es geschafft hatte, sein letztes Manuskript – keinen Roman, sondern ein Experiment, eine Mischung aus Prosa und Dichtung – „druckfertig“ zu haben. Der Abschied von einem deutschen Gegenwartsautor, der nicht nur mit seiner Literatur auch außerhalb Deutschlands für Wirbel gesorgt hat, erfolgte unterschiedlich – obwohl ausnahmslos unter dem Motto: „De mortuis nil nisi bene.“ Nun, da der politische Provokateur und künstlerische Workaholic nicht mehr da ist, bleibt uns – die wir ihn oft nur noch unter polemischen Stichworten von „Waffen-SS“ bis hin zu „Was gesagt werden muss“ und „Europas Schande“ wahrgenommen haben – zum Glück nichts anderes übrig, als seine Bücher erneut aufzuschlagen. Von der „Blechtrommel“, dem „Big Bang“ der deutschen Nach-kriegsliteratur, bis zu „Hundejahre“, seinem „ungelesensten“ Roman, wie Denis Scheck in einem Interview anmerkt: „Ich habe jedenfalls noch keinen Mitarbeiter des WDR getroffen, der weiß, dass das letzte Drittel von ,Hundejahre‘ im Wesentlichen von einem Redakteur des WDR handelt, der in Köln-Marienburg lebt und dort Talkshows moderiert. Und Grass war immer jemand, der sich der Medienwirklichkeit sehr früh bewusst war, und das auch literarisch reflektierte. Und lesen Sie mal das letzte Drittel der ,Hundejahre‘; das ist ein Roman über das Deutschland des Jahres 2015. Da kann man Gänsehaut bekommen.“
Schwer fällt uns auch, den Verlust von Hans Bender als unwiderrufliche Tatsache zu akzeptieren. Der Autor und Mitbegründer der renommierten Literaturzeitschrift „Akzente“ war zudem Herausgeber der „Konturen – Blätter für junge Dichtung“ sowie zahlreicher Anthologien, u. a. „In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart“ von 1978. „Das war das Logbuch, das war der richtungsweisende Band, wo man sich über die neueste Lyrikproduktion informieren konnte“, so DLF-Literaturredakteur Hajo Steinert.
Diese Ausgabe schließt mit zwei Texten von Theo Breuer im Gedenken an Hans Bender und Günter Grass.

Ihr
Traian Pop

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